Die Residentur

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Er ließ den Motor wieder an. Ihm fiel ein, dass er immer noch die Brille aufhatte. Die benutzte er als Accessoire zu Johnnys Gesicht. Damit sie glaubwürdig wirkte, hatte sie optische Gläser, zwar schwach, aber über längere Zeit da durchzuschauen, machte müde. Er nahm die Brille ab und rieb sich die Augen. Noch ehe er auf die Landstraße zurückfuhr, überlegte er kurz, ob er auf dem Heimweg Musik hören oder lieber ein paar Telefonate erledigen sollte. Schließlich entschied er, dass es am nützlichsten wäre, mit seinem Konversationskurs weiterzumachen, den er sich aufs Handy geladen hatte. In letzter Zeit büffelte er bei jeder passenden Gelegenheit Deutsch und seiner Lehrerin zufolge machte er Fortschritte. Wenn er nicht nachließe, konnte er hoffen, dass sich ihm bald neue Möglichkeiten eröffnen würden. So viele Sprachen du sprichst, so oft bist du Mensch, hieß es doch.

Er griff nach seinem Telefon und ging in die Audiothek. „Gefällt es Ihnen in Berlin? Leben Sie hier?“, fragte eine Frauenstimme. „Berlin ist wunderbar“, antwortete er und achtete dabei peinlichst auf eine korrekte Aussprache. Akzentfreies Hochdeutsch. „Ich bin beruflich hier. Meine Arbeit führt mich immer wieder an neue, interessante Orte.“

1

2

3

4

5

Auch nach einem halben Jahr treten die Ermittlungen zum gewaltsamen Tod von Geworg Arojan auf der Stelle. Den vermuteten Auftragsmord hat die Polizei nach wie vor nicht ausgeschlossen. Morde an Journalisten sind überall auf der Welt zu einem Bestandteil einer Einschüchterungstaktik im Kampf um Einfluss, Macht und Geld geworden. Europa kann sich allein in den letzten zwei Jahrzehnten mit bereits 45 Fällen von ermordeten Journalistinnen und Journalisten „brüsten“, wobei es trotz Überführung der Täter bei den meisten nicht gelungen ist, die Personen zu enthüllen, die sich tatsächlich hinter den Verbrechen verbergen.

www.echoderzeit.cz

Kommt gut mit Krisensituationen klar. Geht Problemen nicht aus dem Weg. Zielstrebig. Beharrlich. Von derartigen Charakterisierungen wimmelte es nur so in Štěpán Chytils Arbeitszeugnissen. Im Prinzip pflichtete er ihnen bei. Er besaß die Eigenschaften eines ausdauernden zweikeimblättrigen Unkrauts. Er war unverwüstlich wie Klee. Auch ein kalter Tag, der nach Auspuffgasen und dicht am Boden verharrendem Rauch stank, ein außerordentlich scheußlicher Märzmontag ohne die geringste Aussicht auf Sonne, konnte den stellvertretenden Direktor des Amts für Ein- und Ausfuhrkontrolle und EU-Parlamentskandidaten (verheiratet, Vater eines gerade volljährigen Sohnes, schütter werdendes Haupthaar, leicht erhöhter Cholesterinspiegel) nicht aus dem Gleichgewicht bringen. Seit dem Morgen hatte er Halsschmerzen und alles, was er berührte, wirkte provozierend schleimig, als wäre die Welt mit dem Sperma eines starken feindlichen Männchens bedeckt. Trotz alledem wurde er die Überzeugung nicht los, dass die irdische Existenz das Beste war, was der Kosmos zu bieten hatte. Die Existenz als privilegiertes menschliches Wesen. So ein Wesen war Štěpán, und mit seinen vierundfünfzig Jahren hatte er nicht den geringsten Grund anzunehmen, dass sich irgendetwas verändern würde.

Als Ökonom kannte er natürlich das Pareto-Prinzip und wandte es erfolgreich in seinem Beruf an. Er war in der Lage zu berechnen, welche Menge an Energie er in was investieren musste und welche Zinsen ihm das einbrächte. Nie hatte er sich die Frage gestellt, ob die 80-zu-20-Regel auch außerhalb der Arbeit galt. Die Behauptung, dass 80 % der Folgen auf 20 % der Ursachen beruhen, und zwar auf allen Ebenen menschlichen Handelns, hätte er als nicht verifizierbare Theorie abgelehnt. Sich mit solchen Gedankenkonstrukten zu befassen, hielt er für überflüssig. An der Vergangenheit ließ sich nichts mehr ändern. Man konnte sie nicht ungeschehen machen und auch nicht wieder in sie zurückkehren. Die Ursachen waren bereits entstanden. Sie waren fest in Štěpáns Schicksal verkeilt und er, versunken im Rücksitz eines Wahlkampf-Vans der ČMD, der Tschechisch-Mährischen Demokraten, rückte auf der Zeitachse in Richtung der logischen Folgen vor. Langsam, aber unaufhaltsam.

„Wohin?“, fragte der Chauffeur.

„In die Zentrale“, schlug Milada Pecková vor.

„Da wird keiner sein“, vermutete Libor Fára. „Fahr direkt zum Vereinshaus.“

Štěpán sah auf die Uhr: halb eins. Znojmo – Qualitätsstadt mit Prädikat, verkündete das schlammbespritzte Ortseingangsschild, das sie gerade passierten. Es fiel Schneeregen, auf der Fahrbahn hatte sich Glatteis gebildet. Nach dem warmen Februar war der Rückfall in den Winter ärgerlich, aber Štěpán hatte keine Zeit, darauf zu achten. Er konzentrierte sich voll auf seinen Wahlkampf. Die Tour durch Mähren war ein wichtiger Teil davon. Die morgendliche Veranstaltung am Gymnasium in Humpolec hatte in inspirierender Atmosphäre stattgefunden, das Schulorchester hatte die Ode an die Freude gespielt und die zahlreichen Fragen ließen vermuten, dass die Schüler um gute Noten in Gesellschaftskunde kämpften. Viele von ihnen – höchstwahrscheinlich aus dem Abschlussjahrgang – hatten die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte im Fokus, insbesondere die Meinungsfreiheit. Sie wollten wissen, woher Štěpán seine Informationen bezog, was er von Online-Medien und von Bloggern hielt. Sie testeten, ob er bestimmte Namen und Portale kannte. Natürlich kam die Sprache auch auf Geworg Arojan und sein tragisches Ende. Die Studenten verglichen ihn mit dem ein Jahr zuvor ermordeten slowakischen Journalisten Ján Kuciak und fragten Štěpán, ob die beiden seiner Meinung nach dafür zahlen mussten, dass sie keine Angst gehabt hatten, die Wahrheit zu schreiben. Auch Štěpáns Ansichten zur Selbstzensur interessierte sie.

Er antwortete wohlüberlegt. Wies sie auf die Fallstricke der Freiheit im Internet hin und auf die Wichtigkeit einer journalistischen Ethik. Erläuterte ihnen, dass die sogenannte Selbstzensur manchmal auch ein Bemühen um Objektivität sein konnte. Als sie ihn fragten, wie er sich mit seinem Sohn verstünde, versicherte er, dass sie ein gutes Verhältnis hätten. Er verriet ihnen, dass er mit Richard oft diskutiere und in regem Meinungsaustausch stehe. Dass sie vor ein paar Tagen ein paar Ohrfeigen ausgetauscht hatten, darüber schwieg er vernünftigerweise.

Die anschließende Versammlung in der Stadtbibliothek war vom Klub aktiver Senioren organisiert worden, der Altersdurchschnitt im Publikum bewegte sich um die achtzig Jahre und die Konzentrationsfähigkeit war dementsprechend. Viele Augenpaare, in die Štěpán von seinem Rednerpult aus schaute, schlossen sich im Verlauf seines Auftritts. Hier und da war auch ein Schnarchen zu hören. Das war auch an den vorausgegangenen Tagen in Jihlava, Třebíč und Kounice nicht anders gewesen. Der älteren Generation wurde bei Wahlen eminente Wichtigkeit beigemessen, sie machte ein Viertel aller Wahlberechtigten im Land aus. Pecková und Fára hatten vom ČMD-Wahlkampfmanager die Anweisung bekommen, sich bei den Veranstaltungen für die Silver Ager besonders große Mühe zu geben, aber Štěpán wurde den Eindruck nicht los, dass das EU-Parlament eine Institution war, die den Denkmustern mährischer Greisinnen und Greise zuwiderlief. Der Hauptgrund, aus dem sie die Wahlkampfveranstaltungen in großer Zahl besuchten, war der Imbiss, der zum Schluss gereicht wurde und ihren Schlummer wie von Zauberhand vertrieb.

Hier in Znojmo würde sich die Reihe schläfriger Kaffeekränzchen nicht fortsetzen, das war Štěpán klar. Der Vorsitzende des ČMD-Ortsvereins hatte am Telefon geprahlt, dass der große Saal im Vereinshaus nicht nur voll sein werde, sondern dass auch eine hitzige Debatte auf dem Programm stehe. „Das wird für Sie kein Kinderspiel, Herr Ingenieur. Es kommen ein paar Lokalgrößen, die kein Geheimnis aus ihren dezidierten Ansichten über die Politik aus Brüssel machen. Die treiben Sie in die Enge, damit müssen Sie rechnen“, hatte er ihn gewarnt.

Vor dezidierten Ansichten hatte Štěpán keine Angst, was ihm Sorgen bereitete, war der Zustand seiner Stimmbänder. Nach einer nicht auskurierten Entzündung und einem Dutzend Versammlungen spürte er ein schmerzhaftes Spannen im Rachen und erste Anzeichen von Heiserkeit. Sein Gegenmittel war, dass er bei seinen Auftritten die Mikrofone vom Tontechniker auf volle Lautstärke aussteuern ließ, aber das Kratzen im Hals wurde immer schlimmer, und sie hatten noch nicht einmal die Hälfte der Wahlkampftour absolviert. Ostrava, Zlín, Olomouc und weitere mährische Städte erwarteten sie erst noch. Štěpán hatte für jede Station eine maßgeschneiderte Rede ausgearbeitet. Er konnte noch nicht wissen, dass er die meisten seiner Ansprachen, die ihn viele Stunden Arbeit gekostet hatten, nie halten würde und dass die Gründe dafür viel gravierender wären als überanstrengte Stimmbänder.

„Vor einer Woche hat sie eine Versammlung im Großen Saal in der Lucerna gehabt.“ Fára zeigte auf eins der Konkurrenzplakate, die die Ortsumfahrung von Znojmo säumten. Zora Opasková – DIE STIMME, auf die Europa hört, verkündete ein Schriftzug unter dem Kinn einer jungen Frau. Die war nicht nur gutaussehend, sondern ihrem Gesicht war auch erkennbar Intelligenz eingeschrieben. Laut Wahlforschung fand sie vor allem in Städten Rückhalt, unter eher jungen Menschen mit höherer Bildung.

„Ich war sie mir anhören“, redete Fára weiter. „Eine Stimme hat sie, das muss man ihr lassen. Sie hat über den ganzen Saal hinweggeschrien. Ohne Mikro.“

„Sie kann ziemlich sarkastisch sein. Habt ihr gehört, was sie verkündet hat?“ Pecková drehte sich auf dem Vordersitz um, ein amüsiertes Funkeln in den Augen. „Wenn schon Genderquoten, dann für Männer. Von denen würden dadurch viele endlich eine Chance kriegen, dass sie auf dem Arbeitsmarkt auch mal zum Zug kommen. Hat die Opasková gesagt.“

 

„Wenn ich ’ne Frau wäre, würde ich mich von solchen Quoten beleidigt fühlen“, verkündete der Chauffeur.

„Biste aber nicht, also“, stauchte Pecková ihn zusammen. Sie pflegte zu ihm ein kameradschaftlich-unmittelbares Verhältnis, genauso wie Fára. Štěpán blieb lieber etwas auf Abstand. Er kandidierte fürs EU-Parlament mit Unterstützung der Tschechisch-Mährischen Demokraten, war aber kein Parteimitglied. Pecková und Fára hatten ihn zwar so weit gebracht, dass sie sich inzwischen duzten, aber damit war’s für ihn dann auch vorbei mit den Vertraulichkeiten. Während er die Karriereleiter hinaufgeklettert war, hatte er sich ein zuverlässiges Gespür für den Umgang mit Kollegen erarbeitet. Beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle duzte er lediglich diejenigen, die ihm das von sich aus angeboten hatten, und nur, wenn sie in der Firmenhierarchie auf dem gleichen Level waren wie er. Niemals trank er mit Leuten aus dem Büro Alkohol oder verbrachte mit ihnen seine Freizeit, und er vermied Gequatsche auf den Fluren. Dadurch wurde er als Mensch mit Noblesse verbucht, aber der wirkliche Grund seiner verbalen Diszipliniertheit war seine heimliche Furcht, dass ihm der Sinn für Humor fehlte und irgendjemand darauf kommen könnte. In einer Nation, die sich selbst voller Stolz als ein Volk von lauter Schwejks bezeichnete, war das ein schlimmeres Handicap als chronischer Mundgeruch.

„Opasková hat sich in die erste Liga hochgekämpft, und dazu hat sie keine Krücke gebraucht“, sagte er. „Die ist gut.“

Ihre Bewegung DIE STIMME befand sich im politischen Spektrum rechts von der ČMD, aber Štěpán spürte, dass Zora Opasková seine direkte Widersacherin war. Eine gefährliche obendrein. Sie hatte einen guten Draht zu Bevölkerungsgruppen, die anzusprechen ihm nicht gelang. Aufmerksam verfolgte er ihre Reden, kannte ihre Standpunkte, in ihrem Wortschatz fand er seine eigenen Ausdrücke wieder (die geistvolleren). Unablässig suchte er nach einer Möglichkeit, sich selber treu zu bleiben und sich dabei trotzdem von ihr abzugrenzen.

„Die hat Eier in der Hose“, verkündete Pecková.

„Gutes Wahlkampfmotto“, befand der Chauffeur. Štěpán sah im Rückspiegel sein Gesicht. Es war ernst, er schien über die Verwendbarkeit des Slogans tatsächlich nachzudenken. Zora Opasková – hat Eier, auf die Europa schaut. Štěpán wandelte den Schriftzug auf dem Plakat ab, das in diesem Moment an seinem Fenster vorbeiglitt und hinter der Heckscheibe verschwand.

„Wir legen unser Material aus und dann gehen wir was essen, oder?“, schlug Fára vor. Er war jünger als Štěpán, aber alles an ihm schien abgenutzter zu sein. In den immer leicht triefenden Glubschaugen sah man deutlich die Spuren von all den Rückziehern, die er in seinem Leben machen musste, und auch von all denen, die ihn erst noch erwarteten. Während der letzten beiden Monate, als sie im Zuge des Wahlkampfs miteinander gearbeitet hatten, hatte Štěpán oft Fáras Urteilsvermögen und seinen Überblick über die tschechische Politikszene zu schätzen gewusst, gleichzeitig waren ihm aber auch seine Bildungslücken nicht entgangen. Er war ein „lowbrow“, wie Bert van Boxen gesagt hätte, Štěpáns langjähriger holländischer Freund. Vielleicht hätte der sogar „domkop“ gesagt oder „partijfanaat“. Štěpán beneidete Bert um seinen Mut zur politischen Inkorrektheit, die er selbst sich nach allen Regeln der Kunst in seiner Funktion nicht erlauben durfte. Bert allerdings pfiff auf die Regeln, und gerade das hatte ihn möglicherweise bis auf den Ministerposten in Den Haag befördert. Falls Štěpán bei den Wahlen Erfolg hätte und einen Sitz im Europäischen Parlament einnehmen würde, könnte er mit Bert viel häufiger in Kontakt sein als bisher. Darauf freute er sich.

„Wo wird denn hier anständig gekocht?“ Pecková drehte sich zum Chauffeur um, der, wie sich in den letzten Tagen gezeigt hatte, reichhaltige Gastrokenntnisse quer durchs Land hatte und ihnen ein nützlicher Ratgeber war.

„Im Navarra“, sagte er, ohne zu zögern. „Da hab ich super gegrilltes Schweinemedaillon gegessen.“

„Ich hab keinen Hunger“, redete Štěpán sich raus. Er musste mal eine Weile allein sein. „Ich vertret mir ein bisschen die Beine.“

Er beschloss, auf die Post zu gehen und unterwegs in irgendeinem Bistro Station zu machen. Der Besuch auf der Post war nicht dringend, er hätte ihn auch verschieben können, aber sein schlechtes Gewissen nagte an ihm. Schon ein Vierteljahr hatte er kein Geld geschickt, und wie üblich, wenn er mit den Zahlungen nachlässig war, tauchte beim Einschlafen Eržikas Bild vor ihm auf. Seltsam war, dass es auch nach Jahren nichts von seiner Strahlkraft verloren hatte. Štěpán nahm es in diversen Aspekten präziser wahr als das Bild seiner Frau. Alle Muttermale waren an ihrem Platz, das mahagonifarbene Haar war nicht verblichen, und wenn sie mit ihren fein geschnittenen Lippen den linken Mundwinkel hob, verursachte das bei ihm nach wie vor das gleiche Stechen in der Brust. Es war ein minimalistisches Lächeln voller Vertrauen. Auf dem Foto in dem vergilbten Papprahmen lächelte sie allerdings nicht. Sie hatte es zu ihrem neunzehnten Geburtstag in einem Atelier in Košice anfertigen lassen und unten rechts in die Ecke geschrieben: Für meinen geliebten Štěpán – Eržika. Er hatte es in einer Schreibtischschublade zu Hause in seinem Arbeitszimmer aufbewahrt (ein abseits gelegener Raum neben der Garage, den er als sein Revier betrachtete, er machte selbst sauber und ging davon aus, dass er dort nichts hatte, was den anderen Haushaltsangehörigen einen Vorwand geboten hätte, hineinzugehen), bis er festgestellt hatte, dass nicht einmal dieses Territorium sicher war. Jetzt lag das Foto im Safe.

„Keine Angst, ich bin rechtzeitig wieder da“, versicherte er Fára und machte sich auf den Weg zur Post am Horní náměstí. Er schlug ein forsches Tempo an, das Alleinsein war befreiend. Gleichzeitig machte er sich Vorwürfe. Nicht einmal beim Flyer-Auslegen half er ihnen. Die werden sagen, dass ich kein Teamplayer bin, dachte er. Sein ganzes Leben lang hatte er im Team gearbeitet, zuerst für die Niederländisch-Tschechische Handelskammer, später in verschiedenen Bereichen des Industrie- und Handelsministeriums bis hin zu seiner jetzigen Position beim Amt für Ein- und Ausfuhrkontrolle, aber Teamgeist besaß er nicht. Im Prinzip war er elitär. Er glaubte, dass es zwischen Menschen angeborene Unterschiede gab, die man nicht vom Tisch wischen konnte und die dem Schlaueren, Fähigeren oder sonstwie Berufenen das natürliche Recht gaben, die Zügel in der Hand zu haben. Das war keine populäre Ansicht und er bemühte sich, sie zu verbergen, aber nicht immer gelang ihm das auch. Nicht einmal vor seinem Sohn konnte er sie geheim halten.

Als er an Richard dachte, griff er nach seinem Handy. Er war neugierig, ob er diesmal rangehen würde. In letzter Zeit knirschte es ordentlich zwischen ihnen; Auseinandersetzungen waren an der Tagesordnung und hatten ein zunehmend gröberes Kaliber. Vor Štěpáns Abreise aus Prag waren sie heftiger aneinandergeraten als üblich. Die Anschuldigung, die ihm Richard um die Ohren gehauen hatte, war so unverschämt gewesen, dass Štěpán in die Luft gegangen war. Er hatte seinem Sohn eine Ohrfeige verpasst, und der (energiegeladene neunzehn Jahre, ideales Verhältnis von Muskelmasse und Körperfett, gesundes Selbstbewusstsein, schlagfertige Reflexe) hatte sich, ohne zu zögern, revanchiert. Štěpán war froh, dass sie allein zu Hause gewesen waren, andererseits war ihm klar, dass er sich vor Ehefrau und Vater mehr zusammengerissen hätte und die Situation nicht so eskaliert wäre. Auch Richard hätte sich besser im Griff gehabt. Er liebte seine Mutter und seinen Großvater und benahm sich in ihrer Gegenwart Štěpán gegenüber weniger bockig. „Noch ’n Diskussionsbeitrag, Pa?“, hatte er mit einem verächtlichen Grinsen gesagt, die Antwort allerdings nicht mehr abgewartet. Er schloss sich in seinem Zimmer ein, fing an zu pfeifen und kam bis zu Štěpáns Abreise nicht mehr heraus. Alle folgenden Anrufe ließ er unbeachtet. Einschließlich des jetzigen. Es machte sogar den Eindruck, als hätte er sein Handy ausgeschaltet. Eine Stimme verkündete, der angerufene Teilnehmer sei momentan nicht erreichbar.

„Kasper dich ruhig aus, mein Lieber“, nuschelte Štěpán in seinen Schal. „Das wird dir schon noch vergehen.“

Er steckte das Telefon wieder ein und ging weiter. Wie die meisten Väter war er überzeugt davon, seinen Sohn gut zu kennen. Er hatte großen Wert auf seine Erziehung gelegt. Von klein auf hatte er ihm beigebracht, was er selbst als lebenswichtig erachtete: nicht dem Selbstmitleid zu verfallen und Ängste zu überwinden. Seinen Zielen kompromisslos, aber clever zu folgen. Nicht gegen den Wind zu pinkeln. Er liebte ihn, und auch wenn er es ihm nicht sagte, ging er davon aus, dass Richard von seinen Gefühlen wusste und sie erwiderte. Die momentane Rebellion bedeutete ganz sicher nichts anderes als den Versuch, sich selbst zu beweisen, dass er inzwischen erwachsen war. Physisch und intellektuell war das nicht zu leugnen, aber der emotionale Teil seines Wesens steckte noch mitten im Reifungsprozess. Bisher hatte er sich keinen Schutzpanzer zugelegt. Es bestand die Gefahr, dass ihn der erste Lebenskonflikt unheilbar verwunden würde.

Ich war neunzehn, als ich erfahren habe, was Liebe auf Leben und Tod bedeutet, wurde Štěpán bewusst, und wie üblich packte ihn die Verblüffung, wie viel Zeit seit damals verflossen war und wie wenig ihn diese Zeit verändert hatte. In gewisser Hinsicht kam er sich immer noch vor wie damals, als er auf dem Bahnhof in Moskau aus dem Waggon gesprungen war und zum ersten Mal die stickige Luft jener Stadt eingeatmet hatte, die sein Leben unwiderruflich beeinflussen sollte. Ein Leben, das ohne jenes ohrenbetäubende Bremsen des internationalen Schnellzugs vor fünfunddreißig Jahren völlig anders abgelaufen wäre. Es hätte darin Eržika nicht gegeben, aber auch nicht die Zerrissenheit, die sie ausgelöst hatte. Gerade die Erinnerungen daran, was er in Richards Alter selbst durchgemacht hatte, hielten Štěpán zu väterlicher Nachsicht an. Er versuchte, die konfrontative Haltung seines Sohnes gelassen zu nehmen. Sein neuester Auftritt allerdings hatte ihn kalt erwischt. Richards punktgenau platzierte Kränkungen zeigten, dass er etwas entdeckt hatte, was er nicht hätte entdecken sollen.

Das Informationsbüro des Europäischen Parlaments in Zusammenarbeit mit dem sozialen Netzwerk OurSpace.cz lädt ein zu einer Diskussion, veranstaltet von der Gesellschaft Europäische Werte. Presse-Briefing: Gehen wir verantwortungsvoll an die Wahlen zum Europaparlament heran? Welche Parteien nehmen an der Kampagne teil? Sind die unabhängigen Kandidaten tatsächlich unabhängig?

Mehr Infos auf www.europaparlament.eu

Richard machte einen Schritt. Und noch einen. Konzentriert, mit maximaler Vorsicht. Das Wasser reichte ihm stellenweise bis zu den Knien, anderswo bis zur Hüfte. Der Grund bestand aus glatten Steinen, die unter den Füßen wegrutschten und das Gehen genauso erschwerten wie die reißende Strömung selbst. Es war März und er watete nackt und barfuß durch einen Gebirgsfluss, aber schon längst nahm er die Kälte von Wasser und Luft nicht mehr wahr. Nur den Krampf in den erhobenen Armen, die den Tornister mit der Kleidung und der Waffe umklammerten. Lewan war inzwischen am anderen Ufer, Richard hatte noch ein paar Meter.

Er schaute auf Martins trainierten Rücken vor sich und überlegte, ob dem genauso die Arme abstarben. Falls ja, ließ er sich nichts anmerken. Alles, was er sich hier zumutete, nahm er mit absoluter Selbstverständlichkeit hin. Es war Martin gewesen, der den Kontakt hierher in die Slowakei und zur Patrola aufgetan hatte, kurz nach Geworgs Tod. Dem Mord an Geworg, präzisierte Richard in Gedanken. Hauptsache nichts verschleiern, keine Euphemismen. Geworg Arojan war hinterhältig aus dem Weg geräumt worden, bei Lewan Manusch hatte dazu nicht viel gefehlt. Deswegen wateten sie gerade durchs eiskalte Wasser. Das war unerlässlicher Bestandteil der Entscheidung, die sie getroffen hatten. Einer Entscheidung, die ihre Leben von Grund auf verändern würde. Schon heute Nacht.

Ein Stück entfernt schrie ein Vogel und Martin blieb stehen. Mit einer Kopfbewegung deutete er an, dass irgendwas los war. Richard richtete seinen Blick aufs Ufer. Lewan kauerte hinter einer Gruppe von Kiefern und schaute mit dem Fernglas zum Fuß des Berges, der das Tal abschloss.

„Das Team von Karol“, verkündete er, als Richard bei ihm angekommen war, und reichte ihm das Fernglas. Richard hielt es sich vor die Augen. Es dauerte einen Moment, bis er die vier Gestalten in den Tarnanzügen ausmachen konnte. „Sie haben uns noch nicht entdeckt.“

 

Er sprach an der Grenze zum Flüstern, obwohl das angesichts der Umstände überflüssig war. Das Wasserrauschen übertönte alle Geräusche. Richard gab Martin das Fernglas zurück und zog sich hastig an. Mit Blicken schätzte er die Entfernung zur Ruine der Mühle.

„Das packen wir“, befand er. Aus dem eingestürzten Dach ragten zwei Schornsteine, an einem von ihnen würden sie ihre Standarte hissen. Von der gesamten Patrola waren sie in der kürzesten Zeit am dichtesten ans Ziel herangekommen. Den Hauptverdienst daran trug Lewan. Er hatte sie nicht geschont, aber auch sich selbst nicht. Seit dem brutalen Überfall letztes Jahr (eine gebrochene Rippe, Muskelfaserriss, Bluterguss im Knie) war er in seiner Beweglichkeit immer noch eingeschränkt und hatte sicher auch noch Schmerzen, aber er ließ sich nichts anmerken. Er war fünf Jahre älter als Richard, in Sachen Selbstbeherrschung allerdings trennten sie Jahrhunderte. Die tausendjährige kasmenische Geschichte von Überlebenskämpfen war für Lewan auf jedem Schritt eine Stütze, das kasmenische Blut in seinen Adern trieb ihn an wie Benzin mit hoher Oktanzahl. Richard erinnerte er an einen kantigen, unverwüstlichen Offroader.

„Hier lang.“ Er machte eine Kopfbewegung in Richtung Mühlgraben. „Martin sichert uns.“

Ideal wäre es, wenn sie Adam dabei hätten; sie würden ihn an den Kiefern postieren und er könnte das andere Ufer überwachen. Aber sie hatten ihn nicht dabei. Das Anwaltssöhnchen hatte sich ins Hemd gemacht. Nicht wegen der heutigen Aktion, sondern aus Angst davor, was danach käme. Sie hatten einen detailliert ausgearbeiteten Plan. Adam hatte ihn ein halbes Jahr lang mit ihnen vorbereitet, aber im letzten Moment war er auf die Bremse gestiegen. Ohne Vorwarnung. „Sorry, Jungs“, hatte er eine halbe Stunde vor ihrer Abreise aus Prag gesagt, sichtlich zerknirscht vom eigenen Verrat. „Seid nicht sauer, ich pack das nicht. Ich weiß, Geworg hätte sich’s verdient, aber ich bin ein Versager. Ich schätz mal, ich hab bis jetzt einfach nur mein Maul aufgerissen.“ Sie waren nicht sauer gewesen. Kein vorwurfsvolles Wort war gefallen. Vielleicht hatten sie alle nur ihr Maul aufgerissen, das würde sich noch rausstellen. Mut war keine messbare Größe und Versagertum schon gar nicht. Ein Schissometer gab es nicht. Jeder musste selber in den Spiegel schauen. Manch einem hob sich bei diesem Anblick der Magen, aber das gehörte dazu.

Richard kam unwillkürlich der Gedanke, was wohl sein Vater sagen würde, wenn er ihn jetzt sehen könnte. „Das hast du von mir“, verkündete er ab und zu über eine von Richards Eigenschaften (ausnahmslos ging es um Charakterzüge, die sein Vater schätzte) und klopfte seinem Sohn stolz auf die Schulter. „Du bist genau wie ich“, versicherte er ihm. Richard hoffte, dass das nicht so war. Sein Vater hatte keinen Schimmer von der Patrola. Von nichts, was in Richards Leben eine wichtige Rolle spielte. Als er letztes Jahr seinen achtzehnten Geburtstag gefeiert und verkündet hatte, dass er für die gesamten Sommerferien mit einer humanitären Mission nach Kambodscha gehen würde, hatte ihn sein Vater gefragt, wozu er dort nütze wäre. Das hatte er nicht bissig gemeint, sondern todernst. Er hielt Richard für einen ratlosen Grünschnabel, auf den er nach wie vor ein Auge haben sollte, dem er schlaue Ratschläge geben und die Welt erklären musste. Seine Welt. Ihm war nicht klar, dass sich ihre Welten immer weiter voneinander entfernten. Als Richard aus Kambodscha zurück war, konnte er dieses Auseinanderdriften nicht mehr aufhalten. Und wollte es auch nicht.

Geduckt ging er hinter Lewan her und checkte die Umgebung ab. Er bemühte sich, absolut geistesgegenwärtig zu sein. „Mindful“ hatte Geworg das immer genannt, und obwohl er diese Achtsamkeit intensiv trainiert hatte, konnte ihn das nicht vor der Hinrichtung bewahren. Wie immer, wenn er sich Geworgs Ende vorstellte, biss Richard unwillkürlich die Zähne zusammen und seine Halsmuskulatur spannte sich an.

Er schluckte, um die Spannung zu lösen, und konzentrierte sich darauf, durch das Bett des Grabens zu gehen. Allerdings konnte er seine Gedanken nicht im Zaum halten, schon bald landeten sie wieder bei seinem Vater. „Was willst du damit beweisen?“, hatte der Richard angewidert gefragt, als er vor einiger Zeit die Hanteln in seinem Zimmer entdeckt hatte. „Denkst du, dass Muskeln dich zu einem richtigen Kerl machen?“ Damals waren sie noch in der Lage gewesen, miteinander zu kommunizieren, und Richard hatte versucht, seinen Standpunkt zu erläutern. Vergeblich. Sein Vater hatte vor Stärke Respekt, aber nur vor so einer, die Macht, Einfluss und Karriere bedeutete. „Mach dein Abitur und den Eignungstest fürs Studium, das ist der Ausgangspunkt zum Erfolg“, predigte er. Sich körperlich in Schuss zu halten, hielt er für ein Anzeichen von Primitivität. Niemals hätte er freiwillig Sport gemacht. Die Rekruten aus der Patrola hätte er als Hohlköpfe abgestempelt. Er hätte gesagt, dass sie mit diesen Kriegsspielen nur irgendeinen Minderwertigkeitskomplex therapierten.

Richard schüttelte den Kopf. Sein Vater rümpfte über die Kriegsspiele zwar die Nase, hatte aber selber eine Pistole. Die hatte er in seiner Schreibtischschublade versteckt und Richard hatte sie sich heimlich ausgeborgt. Eine Makarov 9 mm. Wunderschön brüniert, hartverchromter Lauf, Magazinauswurf mit dem Daumen, für Richards Hand wie geschaffen. Präzise. Total verliebt war er in sie. Er hatte Munition aufgetrieben, und wann immer es möglich war, gingen er und Martin damit schießen. Jedes Mal reinigte er sie anschließend und legte sie zurück an Ort und Stelle. Er verhielt sich umsichtig, aber sein Vater war höchstwahrscheinlich hinter seine Ausleihaktionen gekommen, denn er hatte sich einen Safe zugelegt, und Richard hatte lange gebraucht, bis er wieder an die Pistole rangekommen war. Bei jeder passenden Gelegenheit spielte er mit der Ziffernfolge rum (ein paarmal musste er schleunigst durchs Fenster in den Garten verschwinden, damit ihn Opa oder Ma nicht erwischten), er dachte schon, dass er aufgeben müsste, doch schließlich hatte er den Code geknackt. Nach kurzer Freude stellte sich Zorn ein. Und Bedauern. Das, was er im Safe außer der Pistole noch fand, bestätigte seine frühere Vermutung: Sein Vater war ein Scheißkerl. Falls Scheißkerl sein zu den nötigen Qualifikationen für einen Kandidaten zum Europaparlament gehörte, dann hatte Ing. Štěpán Chytil eine reale Chance, gewählt zu werden.

Aus dem Augenwinkel sah er Martin. Der war auf seiner Position angekommen und machte ein Zeichen, dass er ihnen Deckung geben würde. Er war von ihnen allen der beste Schütze. Außerdem der schnellste Läufer. Und damit nicht genug, er konnte am besten Mädchen rumkriegen. Eigentlich brauchte er sich überhaupt nicht anzustrengen, sie rannten ihm auch ohne Rumkriegen nach, obwohl sie wussten, dass seine Mutter Lehrerin war, was ihn eindeutig hätte disqualifizieren müssen. Tat es aber nicht. Noch vor einem Jahr hatte Richard ihn um seinen Erfolg bei den Mädchen beneidet, jetzt nicht mehr. Jetzt hatte er selber die allerhübscheste Freundin: Veronika. An einer anderen hatte er kein Interesse. „Weißt du, dass es noch nie mit einem Jungen so war wie mit dir?“, hatte sie ihm letzten Sommer anvertraut (ein leicht heiserer Kontra-Alt, hinterm Ohr eine Margerite, ihre Augen so goldgrün wie das Gras, in dem sie lagen), und ehe er sich den Kopf zerbrechen konnte, wie viele von diesen Jungen es in ihrem Leben wohl gegeben hatte, fügte sie bedeutungsschwer hinzu: „In meinem Kämmerlein wirst du der Erste sein.“ Das Lachen blubberte zwischen ihren Schneidezähnen durch jene Lücke heraus, von der sie behauptete, dass sie total bescheuert aussehe und dass sie für sie als angehende Schauspielerin ein Nachteil sei. Richard fand das sexy. Beim Küssen ließ er seine Zunge dorthin gleiten, und immer, wenn er sich in Gedanken Veronikas Gesicht vorstellte, tauchte als Allererstes diese erregende Zahnlücke auf. Auch jetzt.