Existenzielle Psychotherapie

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Warum schloss Freud den Tod aus der psychodynamischen Theorie aus? Warum betrachtete er die Todesfurcht nicht als ursprüngliche Quelle der Angst? Offensichtlich ist dieser Ausschluss nicht ein bloßes Übersehen: Die Todesfurcht ist weder ein tiefgründiges noch ein schwer fassbares Konzept; und Freud konnte diese Fragen kaum übersehen (und absichtlich verworfen) haben. Er ist sich ja 1923 klar darüber: »Der volltönende Satz: jede Angst sei eigentlich Todesangst, schließt kaum einen Sinn ein, ist jedenfalls nicht zu rechtfertigen.«103 Seine Argumentation geht in die gleiche Richtung wie zuvor: Dass es wirklich nicht möglich ist, den Tod zu begreifen – ein Teil des Ich bleibt immer ein lebender Zuschauer. Noch einmal gelangt Freud zu der unbefriedigenden Schlussfolgerung, dass »die Todesangst wie die Gewissensangst als Verarbeitung der Kastrationsangst aufgefasst werden [kann].«104

Bemerkenswert ist auch, dass Freuds Unaufmerksamkeit für den Tod auf die Diskussionen der formalen Angsttheorie, der Theorie der Verdrängung und des Unbewussten begrenzt ist: kurz, auf die inneren Mechanismen – die Zahnräder, Lager und Energiezellen – des geistigen Mechanismus.

Im Alter von vierundsechzig Jahren gibt Freud dem Tod in Jenseits des Lustprinzips in seinem Modell des Geistes Raum; aber sogar in dieser Formulierung spricht er nicht von einer ursprünglichen Todesfurcht, sondern stattdessen von einem Willen zum Sterben – Thanatos wurde als einer der zwei ursprünglichen Triebe konzipiert.105

Wann immer er es sich gestattete, die Zügel locker zu lassen, spekulierte er kühn und kraftvoll über den Tod. Zum Beispiel diskutierte er in einem kurzen eindringlichen Essay, den er am Ende des Ersten Weltkriegs unter dem Titel »Zeitgemäßes über Krieg und Tod« schrieb, die Verleugnung des Todes und den Versuch des Menschen, den Tod durch die Schöpfung von Unsterblichkeitsmythen zu vernichten. Zuvor habe ich einige seiner Kommentare darüber angeführt, wie die Vergänglichkeit des Lebens dessen Würze und Reichtum erhöht. Er berücksichtigte dabei die Rolle, die der Tod in der Gestaltung des Lebens spielt:

Wäre es nicht besser, dem Tode den Platz in der Wirklichkeit und in unseren Gedanken einzuräumen, der ihm gebührt, und unsere unbewusste Einstellung zum Tode, die wir bisher so sorgfältig unterdrückt haben, ein wenig mehr hervorzukehren? Es scheint das keine Höherleistung zu sein, eher ein Rückschritt in manchen Stücken, eine Regression, aber es hat den Vorteil, der Wahrhaftigkeit mehr Rechnung zu tragen und uns das Leben wieder erträglicher zu machen. Das Leben zu ertragen, bleibt ja doch die erste Pflicht aller Lebenden. Die Illusion wird wertlos, wenn sie uns darin stört. Wir erinnern uns des alten Spruches: Si vis pacem, para bellum. Wenn du den Frieden erhalten willst, so rüste zum Kriege. Es wäre zeitgemäß, ihn abzuändern: Si vis vitam, para mortem. Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.106

»Wenn du das Leben aushalten willst, richte dich auf den Tod ein.« Freud glaubte, dass die Aufgabe eines Therapeuten darin besteht, einem Patienten das Leben ertragen zu helfen. Freuds gesamte therapeutische Karriere war diesem Ziel gewidmet. Aber abgesehen von dieser Maxime blieb er für immer stumm gegenüber der Vorbereitung auf den Tod, gegenüber der Rolle und dem Begriff des Todes in der Psychotherapie. Warum?

Wenn man aufzeigt, was Freud übersehen hat, indem man seine blinden Flecken kommentiert, kann man nur so weit gehen, bis man unbehaglich über die eigene Schulter schaut. Vielleicht war seine Vision größer als unsere, sie war es in vielerlei anderer Hinsicht. Vielleicht ist die Frage so schlicht, dass er niemals die Notwendigkeit spürte, die volle Argumentationsbreite für seine Ansicht zu liefern. Wir sind, glaube ich, gut beraten, die Gründe hinter Freuds Ansicht genau zu überdenken. Ich glaube, er ließ den Tod aus seiner dynamischen Theorie aus ungesunden Gründen weg, die aus zwei Quellen stammen: Die eine ist ein überholtes theoretisches Modell des Verhaltens; und die andere ein unnachsichtiges Streben nach persönlichem Ruhm.

Freuds Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod: Theoretische Gründe

Als Freud fünfundsiebzig Jahre alt war, wurde er gefragt, wer ihn am stärksten beeinflusst hatte. Ohne Zögern antwortete er, wie er immer geantwortet hatte: »Brücke.« Ernst Brücke war Freuds Physiologie-Professor in der Medizinischen Hochschule und sein Mentor während seiner kurzen Forschungskarriere in Neurophysiologie gewesen. Brücke war ein strenger Mann mit einem preußischen eisernen Willen und stahlblauen Augen, der von den Medizinstudenten in Wien gefürchtet wurde. (Zur Examenszeit wurden jedem Studenten mehrere Minuten für mündliche Befragung gegeben. Wenn ein Student die erste Frage in einer Prüfung nicht beantworten konnte, pflegte Brücke den Rest der vorgesehenen Zeit in ernster Stille dazusitzen, unnachgiebig gegenüber dem verzweifelten Flehen des Studenten und des Dekans, der zugegen war.) In Freud fand Brücke schließlich einen Studenten, der seines Interesses würdig war, und die beiden arbeiteten mehrere Jahre lang eng im neurophysiologischen Laboratorium zusammen.

Brücke war eine grundlegende Kraft hinter der ideologischen Schule der Biologie, die durch Hermann von Helmholtz begründet wurde und die die medizinische Forschung und die Grundlagenforschung in Westeuropa im letzten Teil des neunzehnten Jahrhunderts beherrschte. Die grundlegende Helmholtzsche Position, Brückes Vermächtnis an Freud, wurde in einer Aussage durch einen weiteren Gründer, Emil du-Bois Reymond, klar skizziert:

Brücke und ich haben uns verschworen, die Wahrheit geltend zu machen, dass im Organismus keine anderen Kräfte wirksam sind als die gemeinen physikalisch-chemischen; dass, wo diese bislang nicht zur Erklärung ausreichen, mittels der physikalisch-mathematischen Methode entweder nach ihrer Art und Weise die Wirksamkeit im konkreten Fall gesucht werden muss, oder dass neue Kräfte angenommen werden müssen, welche, von der gleichen Dignität mit den physikalisch-chemischen, der Materie inhärent, stets auf nur abstoßende oder anziehende Componenten zurückzuführen sind.107

Die Helmholtzsche Position ist also deterministisch und anti-vitalistisch. Der Mensch ist eine Maschine, die durch chemisch-physikalische Mechanismen aktiviert wird. Brücke stellte 1874 in seinen Vorlesungen über Physiologie fest, dass, obwohl die Organismen sich von den Maschinen in ihrer Assimilationskraft unterscheiden, sie nichtsdestoweniger Phänomene der physischen Welt sind, die durch Kräfte gemäß den Prinzipien der Erhaltung der Energie bewegt werden. Die Anzahl der Kräfte, die den Organismus in Gang halten, scheint nur angesichts der Unwissenheit groß. »Der Fortschritt der Wissenschaft hat sie auf zwei reduziert: Anziehung und Abstoßung. Das alles gilt auch für den Organismus Mensch« (kursiv vom Verfasser).108

Freud übernahm dieses mechanistische Helmholtzsche Modell des Organismus und wendete es auf die Konstruktion eines Modells des Geistes an. Mit siebzig sagte er: »Meine Lebensarbeit war auf ein einziges Ziel eingestellt … wie der Apparat gebaut ist, der diesen (seelischen) Leistungen dient, und welche Kräfte in ihm zusammen- und gegeneinanderwirken.«109 Von daher ist es offensichtlich, was Freud Brücke verdankte: Die Freudsche Theorie, die ironischerweise oft als irrational angegriffen wird, ist tief verwurzelt in der traditionellen biophysikalisch-chemischen Doktrin. Freuds dualistische Instinkttheorie, die Theorie der libidinösen Energieerhaltung und Transformation und sein unnachgiebiger Determinismus gehen seiner Entscheidung, Psychiater zu werden, voraus: sie alle haben ihre Anlage in Brückes mechanistischem Menschenbild.

Dies im Hinterkopf, können wir mit größerem Verständnis zur Frage nach Freuds Ausschluss des Todes aus seiner Beschreibung menschlichen Verhaltens zurückkehren. Dualität – die Existenz zweier, sich unerbittlich bekämpfender Grundtriebe – war der Fels, auf dem Freud sein metapsychologisches System baute. Die Helmholtzsche Doktrin forderte Dualität. Erinnern wir uns an Brückes Aussage: die grundlegenden Kräfte, die im Organismus aktiv sind, sind zwei – Anziehung und Abstoßung. Die Theorie der Verdrängung, der Beginn psychoanalytischen Denkens, fordert ein dualistisches System: Verdrängung erfordert einen Konflikt zwischen zwei grundlegenden Kräften. Während seiner gesamten Karriere versuchte Freud, das Paar der grundlegenden antagonistischen Triebe zu identifizieren, die den menschlichen Organismus antreiben. Sein erster Vorschlag war »Hunger und Liebe«, wie sie im Kampf zwischen der Erhaltung des einzelnen Organismus und dem Fortbestand der Spezies Gestalt angenommen hatten. Der größte Teil der analytischen Theorie basiert auf dieser Antithese: Der Kampf zwischen dem Ich und den Libidoinstinkten war in Freuds früherer Theorie der Grund der Verdrängung und die Quelle der Angst. Später wurde er sich aus Gründen, die für diese Diskussion nicht relevant sind, bewusst, dass diese Dualität unhaltbar war, und er trat für einen anderen Dualismus ein: einen grundlegenden Dualismus, der im Leben selbst begründet ist – zwischen Leben und Tod, Eros und Thanatos. Die Freudsche Metapsychologie und Psychotherapie ist jedoch auf der ersten dualistischen Instinkttheorie gegründet; weder Freud noch seine Studenten (mit der einzigen Ausnahme von Norman O. Brown110) formulierten sein Werk auf der Grundlage der Dualität von Leben und Tod neu; und die meisten seiner Nachfolger verwarfen die zweite Instinkttheorie, weil sie zu einer Position großen therapeutischen Pessimismus’ führte. Entweder sie blieben bei der ersten Erhaltungsdialektik von Libido und Ich, oder sie schweiften zum Jungianischen Instinkt-Monismus ab – einer Position, die die Theorie der Verdrängung unterminiert.

 

Der Tod ist noch nicht; es ist ein Ereignis, das sein wird, ein Ereignis, das in der Zukunft liegt. Sich den Tod vorzustellen und sich darüber Sorgen zu machen, erfordert eine komplexe geistige Aktivität – die Planung und Projektion des Selbst in die Zukunft. In Freuds deterministischem Schema sind die unbewussten Kräfte, die aufeinanderprallen und deren Vektor unser Verhalten bestimmt, tief und instinkthaft. Es gibt dort keinen Platz in der psychischen Kraftzelle für komplexe geistige Vorgänge, bei denen man sich die Zukunft vorstellt und sich vor ihr fürchtet. Freud steht der Ansicht Nietzsches nahe, der bewusste Überlegung für vollständig überflüssig hält, um Verhalten hervorzubringen. Verhalten ist, nach Nietzsche, determiniert durch unbewusste mechanische Kräfte: bewusste Überlegung folgt dem Verhalten, statt dass es ihm vorangeht; das Empfinden, dass wir unser Verhalten steuern, ist eine völlige Illusion. Man stellt sich nur vor, man würde sich Verhaltensweisen frei wählen, um den Willen zur Macht zu befriedigen, sein Bedürfnis, sich selbst als autonomes, entscheidungsfähiges Wesen zu begreifen.

Der Tod kann daher keine Rolle in Freuds formaler dynamischer Theorie spielen. Da er ein zukünftiges Ereignis ist, das man nie erfahren hat und das man sich nicht realistisch vorstellen kann, kann es nicht im Unbewussten existieren und daher das Verhalten auch nicht beeinflussen. Er hat keinen Platz in einer Sichtweise des Verhaltens, das auf den Gegensatz zweier opponierender Urinstinkte reduzierbar ist. Freud wurde ein Gefangener seines eigenen deterministischen Systems und konnte die Rolle, die der Tod im Erzeugen von Angst und in der Sicht des Menschen vom Leben spielt, nur auf zwei Arten diskutieren: Er konnte außerhalb seines formalen Systems arbeiten (in Fußnoten oder in Essays, die »außerhalb des Protokolls« waren, wie »Zeitgemäßes über Krieg und Tod«111 und »Das Motiv der Kästchenwahl«112), oder er konnte den Tod nur in sein System zwängen, indem er die Todesfurcht entweder unter irgendeine ursprüngliche (Kastrations-) Angst subsumierte, oder indem er den Willen zum Sterben als einen der zwei grundlegenden Triebe betrachtete, die allem Verhalten zugrunde liegen. Den Tod als grundlegenden Trieb auszurufen, löst das Problem nicht: Man versäumt dabei, den Tod als ein zukünftiges Ereignis zu betrachten, und übersieht die Bedeutung des Todes im Leben als Leuchtturm, als Bestimmung, als Endpunkt, der entweder die Macht hat, das Leben all seiner Bedeutung zu berauben oder uns in eine authentische Form des Seins zu locken.

Freuds Unaufmerksamkeit gegenüber dem Tod: Persönliche Gründe

Um zu erkunden, weshalb Freud an einem theoretischen System dauerhaft festhielt, das seinen hochfliegenden Intellekt behinderte und ihn zu verzerrten Positionen zwang, muss ich mich einem kurzen Studium von Freud, dem Menschen, zuwenden. Das Werk von Künstlern, Mathematikern, Genetikern oder Romanschriftstellern spricht für sich selbst; es ist ein Luxus – oft ein unterhaltsamer, interessanter Luxus, gelegentlich auch ein intellektuell erhellender –, das persönliche Leben und die Motivationen der Künstler und Wissenschaftler zu studieren. Aber wenn man eine Theorie betrachtet, die behauptet, die tiefsten Schichten menschlichen Verhaltens und menschlicher Motivationen offenzulegen, und wenn die Daten, die diese Theorie unterstützen, zu einem großen Teil aus der Selbstanalyse eines Menschen stammen, dann wird es nicht zu einem Luxus, sondern zu einer Notwendigkeit, den Menschen so tief wie möglich zu erforschen. Glücklicherweise mangelt es nicht an Daten: Über Freud als Person ist wahrscheinlich mehr bekannt als über irgendeine andere moderne historische Persönlichkeit (mit der möglichen Ausnahme von Woody Allen).

Tatsächlich gibt es so viel biografisches Material über Freud – das von Ernest Jones’ umfangreichem, dreibändigem Das Leben und Werk von Sigmund Freud113 über Laienbiografien114, veröffentlichten Erinnerungen von früheren Patienten115 bis zu Band über Band an veröffentlichter Korrespondenz116 reicht –, dass man jede beliebige Zahl an wilden Hypothesen über seine Charakterstruktur vertreten kann, wenn man sorgfältig auswählt. Deshalb caveat emptor.

Ich glaube, dass viel dafür spricht, dass im Kern von Freuds verzehrender Entschlossenheit seine unstillbare Leidenschaft steckte, Größe zu erlangen. Jones’ Biografie konzentriert sich auf dieses Thema. Freud wurde in einer unversehrten Fruchtwasserblase geboren – ein Ereignis, das nach dem Volksmund immer Ruhm ankündigt. Seine Familie glaubte, dass ihm Ruhm bestimmt war: Seine Mutter, die niemals daran zweifelte, nannte ihn »mein goldener Sigi, Sigi, mein Gold« und zog ihn allen ihren anderen Kindern vor. Später schrieb er: »Ein Mensch, der der unbestrittene Favorit seiner Mutter war, behält sein Leben lang das Gefühl eines Eroberers, jenes Vertrauen in den Erfolg, das oft wirklichen Erfolg initiiert.«117 Der Glaube wurde durch frühe Prophezeiungen angefacht: Eines Tages informierte ein älterer Fremder Freuds Mutter, dass sie einen großen Mann in die Welt gesetzt habe; ein Bänkelsänger in einem Vergnügungspark wählte Freud aus den anderen Kindern aus und sagte voraus, dass er eines Tages ein Regierungsminister werden würde. Auch Freuds offensichtliche intellektuelle Begabung verstärkte den Glauben; er stand immer an der Spitze seiner Klasse im Gymnasium – tatsächlich belegte er nach Jones solch einen privilegierten Platz, dass er kaum je in Frage gestellt wurde.118

Es dauerte nicht lange, bis Freud aufhörte, sein Schicksal infrage zu stellen. In seiner Adoleszenz schrieb er an einen Jugendfreund, dass er eine Auszeichnung für einen Aufsatz erhalten hatte, und fuhr fort: »Du wusstest nicht, dass du Briefe mit einem deutschen Stilisten ausgetauscht hast. Du bewahrst sie besser sorgfältig auf – man weiß nie.«119 Die interessanteste Aussage in dieser Hinsicht kann in einem Brief an seine Verlobte gefunden werden, den er schrieb, als er achtundzwanzig Jahre alt war (und er hatte das Gebiet der Psychiatrie noch nicht betreten!):

Ein Vorhaben habe ich allerdings fast ausgeführt, welches eine Reihe von noch nicht geborenen, aber zum Unglück geborenen Leuten schwer empfinden wird. Da du doch nicht erraten wirst, was für Leute ich meine, so verrate ich dir’s gleich: es sind meine Biographen. Ich habe alle meine Aufzeichnungen seit 14 Jahren u. Briefe, wissenschaftliche Excerpte u. Manuskripte meiner Arbeiten vernichtet. Von Briefen sind nur die Familienbriefe verschont geblieben. Deine ›Liebchen‹ waren nie in Gefahr. Alle alten Freundschaften und Beziehungen haben sich dabei mir nochmals präsentiert und stumm den Todesstreich empfangen … alle meine Gedanken und Gefühle über die Welt im Allgemeinen und soweit sie mich betraf, im Besonderen sind für unwert erklärt worden, fortzubestehen. Sie müssen jetzt nochmals gedacht werden, und ich hatte viel zusammengeschrieben. Aber das Zeug legt sich um einen herum, wie der Flugsand um die Sphynx, bald wären nur mehr meine Nasenlöcher aus dem vielen Papier herausgeragt; ich kann nicht reifen und nicht sterben ohne die Sorge, wer mir in die alten Papiere kommt. Überdies alles, was hinter dem großen Einschnitt in meinem Leben zu liegen fällt, hinter unserer Liebe und meiner Berufswahl, ist lang todt u. soll ihm ein ehrliches Begräbnis nicht vorenthalten sein. Die Biographen aber sollen sich plagen, wir wollen’s ihnen nicht zu leicht machen. Jeder soll mit seinen Ansichten über die ›Entwicklung des Helden‹ Recht behalten, ich freue mich schon, wie die sich irren werden.120

In seinem Streben nach Größe sucht Freud nach der großen Entdeckung. Seine frühen Briefe beschreiben eine Fülle verwirrender Ideen, die er aufgriff und wieder verwarf. Nach Jones verpasste er Größe knapp dadurch, dass er seine frühe neurohistologische Arbeit nicht bis zu ihrer logischen Schlussfolgerung weiter verfolgte: das Aufstellen einer Neuronentheorie. Er verpasste sie noch einmal in seiner Arbeit mit Kokain. Freud beschrieb dieses Ereignis in einem Brief, der so beginnt: »Ich möchte hier ein wenig zurückgehen und erklären, warum es der Fehler meiner Verlobten war, dass ich nicht bereits in frühem Alter berühmt war.«121 Freud fährt fort, indem er erwähnt, wie er eines Tages einem Physikerfreund, Karl Koller, gegenüber beiläufig seine Beobachtungen über die anästhetischen Eigenschaften von Kokain bemerkt und dann die Stadt für einen langen Besuch bei seiner Verlobten verlassen hatte. Als Freud zurückkehrte, hatte Koller bereits entscheidende chirurgische Experimente durchgeführt und als Entdecker der Lokalanästhesie Ruhm erlangt.

Wenige Menschen waren mit intellektuellen Gaben gesegnet, die denen Freuds vergleichbar wären; er hatte große Imaginationskraft, unbegrenzte Energie und unbezähmbaren Mut. Aber als er erwachsen wurde, fand er, dass sein Weg zum Erfolg in unfairer und unberechenbarer Weise versperrt war. Brücke musste Freud davon in Kenntnis setzen, dass es wegen des Antisemitismus in Wien praktisch keine Hoffnung auf eine erfolgreiche akademische Karriere gab: Die Unterstützung der Universität, die Anerkennung, die Promotion waren ihm verwehrt. Freud wurde im Alter von siebenundzwanzig gezwungen, seine Forschung aufzugeben und seinen Lebensunterhalt als praktizierender Arzt zu verdienen. Er studierte Psychiatrie und trat in eine private medizinische Praxis ein. Die »große Entdeckung« war nun seine einzige Chance, Ruhm zu erlangen.

Freuds Gefühl, dass ihm Zeit und Gelegenheit entglitten, erklärt zweifellos seine Unklugheit bei dem Vorfall um das Kokain. Er las, dass die Einheimischen Südamerikas dadurch Stärke gewannen, dass sie Kokainpflanzen kauten; er führte Kokain in seine klinische Praxis ein und pries in der Wiener medizinischen Gesellschaft die positiven Wirkungen der Droge auf Depression und Müdigkeit. Er verschrieb vielen seiner Patienten Kokain und drängte seine Freunde (sogar seine Verlobte), es einzunehmen. Als bald darauf die ersten Berichte über Kokainabhängigkeit erschienen, fiel Freuds Glaubwürdigkeit bei der Wiener medizinischen Gesellschaft in sich zusammen. (Dieser Vorfall erklärt, zumindest zu einem kleinen Teil, warum die Wiener akademische Gemeinschaft es an Reaktionen auf Freuds spätere Entdeckungen fehlen ließ.)

Die Psychologie fing an, ihn vollständig gefangen zu nehmen. Die Struktur des Geistes zu entwirren, wurde, wie Freud es formulierte, zu seiner Geliebten. Seine Hoffnungen auf Ruhm hingen vom Erfolg dieser Theorie ab; als gegenteilige klinische Beweise erschienen, war er am Boden zerstört. Freud beschrieb diesen Rückschlag in einem Brief an seinen Freund Wilhelm Fließ im Jahre 1897: »Die Erwartung des ewigen Nachruhmes war so schön, und des sicheren Reichtums, die volle Unabhängigkeit … all dies hing davon ab, ob Hysterie aufgeht oder nicht.«122

Systematische Beobachtungen waren von geringer Bedeutung. Freuds Ziel war nichts Geringeres als ein umfassendes Modell des Geistes. Im Jahr 1895, als er immer noch auf halbem Weg zwischen Neurophysiologie und Psychiatrie war, hatte Freud das Gefühl, dass die Entdeckung eines Modells des Geistes kurz bevorstand. Er schrieb in einem Brief:

In einer fleißigen Nacht der verflossenen Woche, bei jenem Grad von Schmerzbelastung, der für meine Hirntätigkeit das Optimum herstellt, haben sich plötzlich die Schranken gehoben, die Hüllen gesenkt, und man konnte durchschauen vom Neurosendetail bis zu den Bedingungen des Bewußtseins. Es schien alles ineinander zu greifen, das Räderwerk paßte zusammen, man bekam den Eindruck, das Ding sei jetzt wirklich eine Maschine und werde nächstens auch von selber gehen. Die drei Systeme von Neuronen, der freie und gebundene Zustand von Quantität, der Primär- und Sekundärvorgang, die Haupttendenz und die Kompromißtendenz des Nervensystems, die beiden biologischen Regeln der Aufmerksamkeit und der Abwehr, die Qualitäts-, Real- und Denkzeichen, der Zustand der psychosexualen Gruppe – die Sexualitätsbedingung der Verdrängung, endlich die Bedingungen des Bewußtseins als Wahrnehmungsfunktion – das alles stimmte und stimmt heute noch! Ich weiß mich vor Vergnügen natürlich nicht zu fassen.123

Damit die Entdeckung für Freuds Bedürfnisse voll zufriedenstellend sein konnte, waren zwei Kriterien zu erfüllen: (1) das Modell des Geistes sollte ein umfassendes sein, welches mit den Helmholtzschen wissenschaftlichen Kriterien übereinstimmte; und (2) es sollte eine originelle Entdeckung sein. Das Freudsche Grundschema des Geistes, die Existenz von Verdrängung, die Beziehung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, das grundlegend biologische Substrat von Gedanken und Affekt war eine kreative Synthese – nicht neuartig in ihren Komponenten (Schopenhauer und Nietzsche hatten einen kühnen Weg markiert), aber neuartig in ihrer Gründlichkeit und ihrer Anwendbarkeit auf viele menschliche Aktivitäten, von Träumen und Fantasie bis hin zu Verhalten, Symptombildung und Psychose. (Über seine Vorgänger sagte Freud an einer Stelle: »Viele Leute haben mit dem Unbewussten geflirtet, aber ich war derjenige, der es zuerst heiratete.«) Die Energiekomponente des Freudschen Modells (die sexuelle Kraft oder Libido) – ein beständiges Maß an Energie, das durch vorherbestimmte, wohldefinierte Stadien der Entwicklung während der frühen und späteren Kindheit geht, welches gebunden oder ungebunden sein kann, mit dem Objekte besetzt werden können, das überfließen oder aufgestaut oder verschoben werden kann, das die Quelle des Gedankens, des Verhaltens, der Angst und der Symptome ist – ist vollständig neu; es war die große Entdeckung, und Freud hielt grimmig daran fest. Um der Libidotheorie willen opferte er seine Beziehungen zu seinen vielversprechendsten Schülern, die von ihm abrückten, weil sie sich weigerten, sein absolutes Beharren auf der neuen Entdeckung zu akzeptieren – die zentrale Rolle der Libido bei der menschlichen Motivation.

 

Die Rolle des Todes im menschlichen Verhalten hatte für Freud offensichtlich weder als Quelle von Angst noch als Determinante der Motivation einen Reiz. Sie erfüllte keine dynamische Erfordernisse: Der Tod war kein Instinkt (obwohl Freud im Jahr 1920 dieses postulieren sollte) und passte nicht in ein mechanistisches Helmholtzsches Modell. Noch war die Rolle des Todes neuartig: Es war ein alter Hut, sozusagen Altes Testament; und es war nicht das Ziel Freuds, sich einer langen Prozession von Denkern anzuschließen, die bis an den Beginn aller Zeiten zurückreicht. »Ewiger Ruhm«, wie er es zu nennen pflegte, lag dort nicht. Ewiger Ruhm würde ihm sicher sein auf Grund der Entdeckung einer his dahin unbekannten Quelle menschlicher Motivation: der Libido. Es besteht wohl kein Zweifel daran, dass Freud einen wichtigen Faktor im menschlichen Verhalten korrekt darstellte. Freuds Irrtum war eine Überbesetzung: Seine grimmige Investition in das Primat der Libido war überdeterminiert; er erhob einen Aspekt menschlicher Motivation in eine Position absoluten Vorrangs und absoluter Exklusivität und subsumierte unter diesem Aspekt alles Menschliche, für alle Personen und für alle Zeiten.