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Klinische Forschung

Unachtsamkeit gegenüber dem Todesbegriff hat auch weitreichende Implikationen für die klinische Forschung. Betrachten wir zum Beispiel den Bereich des Trauerns und des Verlustes. Obwohl viele Forscher die Anpassungsfähigkeit der Überlebenden peinlich genau untersucht haben, haben sie ständig versäumt zu berücksichtigen, dass der Überlebende nicht nur einen »Objektverlust« erlitten hat, sondern dass er auch dem Verlust seiner selbst begegnet ist. Unter dem Kummer um den Verlust eines anderen liegt die Botschaft: »Wenn deine Mutter (dein Vater, Kind, Freund, Partner) stirbt, dann wirst du auch sterben.« (Kurz nachdem einer meiner Patienten seinen Vater verlor, hatte er die Halluzination einer Stimme, die von oben auf ihn die Worte herabdröhnte: »Du bist der nächste.«) In einer viel zitierten Studie über Witwen im ersten Jahr nach ihrem Verlust berichtet der Forscher über Aussagen der Personen wie »Ich habe das Gefühl, dass ich am Rande einer schwarzen Grube entlanggehe« oder über Kommentare von der Art, dass sie die Welt jetzt als unsicheren und möglicherweise schädlichen Ort ansehen oder dass das Leben bedeutungslos und ohne Sinn zu sein scheint; oder dass sie wütend, aber ohne ein Ziel für diese Wut sind.77 Ich glaube, dass jede dieser Reaktionen, wenn sie tiefgehender erkundet würde, einen Forscher zu wichtigen Schlüssen über die Rolle des Verlusts als einer Erfahrung führen würde, die das Potenzial in sich hat, die Begegnung des Überlebenden mit seinem oder ihrem persönlichen Tod zu erleichtern. Der Forscher dieser Studie jedoch arbeitete, wie auch andere in ausführlichen Studien über Trauerfälle, die ich gelesen habe, innerhalb eines anderen Bezugsrahmens und versäumte es demgemäß, den reichen Boden zu beackern. Dieses Versäumnis ist ein weiteres beklagenswertes Beispiel der Verarmung, die erfolgt, wenn die Verhaltenswissenschaft spontan offensichtliche Wahrheiten ignoriert. Vor viertausend Jahren wusste der Protagonist in einem der ersten Schriftstücke, dem babylonischen Epos Gilgamesch, sehr wohl, dass der Tod seines Freundes Enkidu seinen eigenen Tod bedeutete: »Nun, was für ein Schlaf ist das, der dich ergriffen hat? Du wurdest dunkel und kannst mich nicht hören. Wenn ich sterbe, wird es mir nicht wie Enkidu ergehen? Kummer dringt in mein Herz, ich fürchte mich vor dem Tod.«78

Der Klinische Praktiker

Einige Therapeuten stellen fest, dass Sorgen bezüglich des Todes von den Patienten einfach nicht erwähnt werden. Ich glaube jedoch, dass das wirkliche Problem darin besteht, dass die Therapeuten nicht bereit sind, sie zu hören. Ein Therapeut, der empfänglich ist, der die Sorgen des Patienten tiefgehend erforscht, wird dem Tod ständig in seiner alltäglichen Arbeit begegnen.

Patienten, denen auch nur die kleinste Ermutigung gegeben wird, werden außerordentlich viel Material, das mit der Sorge über den Tod zusammenhängt, einbringen. Sie sprechen über den Tod von Eltern oder Freunden, sie machen sich Sorgen über das Altwerden, ihre Träume werden vom Tod heimgesucht, sie gehen zu Klassentreffen und sind schockiert, wie sehr die anderen gealtert sind, sie bemerken, wie die Kinder die Macht übernehmen; zuweilen merken sie plötzlich, dass sie sich an den Freuden der herumsitzenden alten Menschen erfreuen. Sie sind sich vieler kleiner Tode bewusst: Altersschwäche, Leberflecke auf ihrer Haut, graue Haare, steife Glieder, gebeugte Haltung, sich vertiefende Falten. Die Pensionierung naht, die Kinder verlassen das Haus, sie selbst werden Großeltern, ihre Kinder sorgen für sie, der Lebenszyklus erfasst sie. Andere Patienten mögen von Vernichtungsängsten sprechen: die verbreitete schreckliche Fantasie, dass irgendein mordbegieriger Angreifer sich Zugang zum Haus verschafft, oder angstvolle Reaktionen auf Gewalt im Fernsehen oder Kino. Die Arbeit in der Endphase in der Therapie ist bei jedem Patienten von Unterströmungen der Sorge über den Tod begleitet, wenn der Therapeut nur zuhört.

Meine persönliche klinische Erfahrung bestätigt die Allgegenwart von der Besorgnis über den Tod in hohem Maße. Während der ganzen Zeit, die ich an diesem Buch schrieb, ist mir sehr viel bis dahin unsichtbares klinisches Material aufgefallen. Zweifellos habe ich den Patienten in einem gewissen Ausmaß Stichworte gegeben, damit sie mich mit bestimmtem Beweismaterial versorgen. Aber ich glaube daran, dass es im Großen und Ganzen immer da war; ich war einfach nicht richtig darauf eingestellt. Beispielsweise habe ich weiter oben in diesem Kapitel zwei Patienten, Joyce und Beth, angeführt, die alltägliche klinische Probleme hatten, welche sich auf den Aufbau und die Beendigung zwischenmenschlicher Beziehungen bezogen. Bei gründlicherer Nachfrage zeigten beide Frauen viele Sorgen über existenzielle Fragen, die ich niemals hätte erkennen können, hätte ich nicht den angemessenen psychologischen Rahmen dafür gehabt.

Ein anderes Beispiel des »Sich-Einstimmens« wird von einer Therapeutin angeboten, die eine Samstagsvorlesung, die ich über das Thema der Todesangst hielt, besuchte. Ein paar Tage später schrieb sie in einem Brief:

… ich erwartete nicht, dass das Thema jetzt in meiner Arbeit auftauchen würde, da ich Berater am Reed College bin, und unsere Studenten gewöhnlich bei guter körperlicher Verfassung sind. Aber meine erste Verabredung am Montagmorgen war mit einer Studentin, die zwei Monate vorher vergewaltigt worden war. Sie litt seither an vielen unangenehmen und schmerzhaften Symptomen. Sie gab mit einem verlegenen Lachen den Kommentar von sich, »Wenn ich nicht an dem einen sterbe, sterbe ich an dem anderen.« Es geht wohl teilweise auf ihre Bemerkungen zurück, dass das Interview sich ihrer Angst vor dem Sterben zuwandte, und dass vergewaltigt zu werden und zu sterben Dinge waren, von denen sie glaubte, dass sie nur anderen Menschen zustoßen würden. Sie fühlte sich jetzt verletzlich und überflutet von Ängsten, die gewöhnlich unterdrückt waren. Sie schien erleichtert, dass es in Ordnung war, darüber zu sprechen, dass man vor dem Sterben Angst hat, auch wenn keine tödliche Krankheit im eigenen Körper gefunden werden kann.79

Psychotherapeutische Sitzungen, die eine auch nur vorübergehende Begegnung mit dem Tod berücksichtigen, bieten viel klinisches Material an. Träume sind natürlich besonders fruchtbares Quellenmaterial. Eine dreißigjährige Frau beispielsweise träumte in der dem Begräbnis eines alten Freundes folgenden Nacht: »Ich sitze und sehe fern. Der Arzt kommt herüber und untersucht meine Lungen mit einem Stethoskop. Ich werde wütend und frage ihn, welches Recht er hat, das zu tun. Er sagte, ich würde rauchen wie ein Schlot. Er sagte, ich hätte eine weit fortgeschrittene ›Stundenglas‹-Krankheit in meinen Lungen.« Die Träumerin raucht nicht, aber ihr toter Freund rauchte drei Päckchen am Tag. Ihre Assoziation zur »Stundenglas«-Krankheit der Lunge war, »die Zeit rinnt davon.«80

Die Verleugnung spielt eine zentrale Rolle für die selektive Unachtsamkeit eines Therapeuten für den Tod in der Therapie. Verleugnung ist eine allgegenwärtige und mächtige Abwehr. Wie eine Aura umgibt sie den Affekt, der mit dem Tod assoziiert wird, wann immer er erscheint. (Ein Witz aus Freuds umfangreicher Sammlung verdeutlicht das, als ein Mann zu seiner Frau sagt: »Wenn einer von uns beiden vor dem anderen stirbt, denke ich, werde ich nach Paris umziehen.«)81 Die Verleugnung verschont den Therapeuten nicht, und im Behandlungsprozess gehen die Verleugnung des Therapeuten und die Verleugnung des Patienten eine Kollusion ein. Viele Therapeuten haben ihre persönliche Angst vor dem Tod nicht erforscht und durchgearbeitet, obwohl sie viele Jahre lang selbst in Analyse waren; sie vermeiden diesen Bereich auf phobische Weise in ihrem persönlichen Leben und sind selektiv unachtsam für Material in der psychotherapeutischen Praxis, das offensichtlich mit dem Tode verknüpft ist.

Zusätzlich zu der Verleugnung jedes einzelnen Therapeuten gibt es eine kollektive Verleugnung im gesamten Feld der Psychotherapie. Diese kollektive Verleugnung kann am besten verstanden werden, wenn man erforscht, warum der Tod aus den formalen Angsttheorien ausgelassen wurde. Obwohl Angst eine absolut zentrale Rolle sowohl in der Theorie als auch in der täglichen Praxis der dynamischen Psychotherapie spielt, wird dem Tod in den traditionellen dynamischen Theorien der Angst kein Platz eingeräumt. Wenn wir die therapeutische Praxis ändern, die klinische Hebelwirkung, die der Begriff des Todes zur Verfügung stellt, nutzen wollen, wird es notwendig sein, die Rolle des Todes in der Genese der Angst darzustellen. Es gibt keinen besseren Weg, damit anzufangen, als dass man den Spuren der Evolution des psychodynamischen Angstbegriffs folgt und versucht, die systematische Ausklammerung des Todesbegriffs zu verstehen.

Freud: Angst ohne den Tod

Freuds Ideen haben das Feld so sehr beeinflusst, dass die Evolution des dynamischen Gedankenguts zu einem großen Teil die Evolution von Freuds Gedankengut ist. Trotz seines außerordentlichen, der Zeit vorauseilenden Wissens glaube ich jedoch, dass er im Bereich des Todes einen hartnäckigen blinden Fleck hatte, der einige sehr offensichtliche Aspekte der inneren Welt des Menschen für ihn verdeckte. Ich werde einiges Material präsentieren, um zu veranschaulichen, wie Freud den Tod in seinen klinischen und theoretischen Überlegungen vermied, und dann einige Gründe dafür nennen, die hinter dieser Vermeidung stecken können.

Freuds Meiden des Todes

Freuds erster bedeutsamer klinischer und theoretischer Beitrag erschien in den Studien über Hysterie, die er mit Josef Breuer 1895 schrieb.82 Es ist eine faszinierende Arbeit und verdient Aufmerksamkeit, denn sie illustriert auf überzeugende Weise eine selektive Unaufmerksamkeit für den Tod, und sie legt die Grundlage für den Ausschluss des Todes aus dem gesamten Bereich dynamischer Therapie, die aus ihr hervorging. Das Buch führt fünf Hauptfälle auf, einen (Anna O.) von Breuer und vier von Freud. Mehrere andere Fälle tauchen in den Fußnoten und Diskussionsabschnitten in fragmentarischer Form immer wieder einmal auf. Jeder der Patienten beginnt die Therapie mit starken Symptomen, die Lähmung, Anästhesie, Schmerz, Ticks, Müdigkeit, Zwangshandlungen, Erstickungsgefühle, Geschmacks- und Geruchsverlust, linguistische Desorganisationen, Amnesie und so weiter einschließen. Auf Grund der Untersuchung dieser fünf Patienten stellten Freud und Breuer eine Ätiologie der Hysterie und die systematische Form einer Therapie auf, die auf dieser Ätiologie gründet.

Die fünf Patienten litten alle an einem wichtigen emotionalen Trauma, das sich früh in ihrem Leben ereignete. Freud bemerkt, dass ein Trauma, obwohl es störend ist, keine anhaltenden Wirkungen hervorbringt, weil die Emotionen, die dadurch ausgelöst wurden, zerstreut werden: entweder sie werden abreagiert (die Person geht durch eine Katharsis, indem sie die Emotion auf eine effektive Weise zum Ausdruck bringt) oder auf andere Weise durchgearbeitet (Freud stellt fest, dass die Erinnerung an Traumata in »den großen Komplex der Assoziationen eintritt. Sie (Erinnerung) rangiert dann neben anderen, vielleicht ihr widersprechenden Erlebnissen«und wird dann »korrigiert«, richtig gestellt oder einem Realitätstest unterzogen, zum Beispiel indem man mit einer Beleidigung umgehen kann, wenn man an seine Errungenschaften und Stärken denkt.)83

Bei diesen fünf Patienten verteilte sich das Trauma nicht, sondern verfolgte das Opfer stattdessen kontinuierlich. (»Der Hysterische leidet größtenteils an Reminiszenzen.«84) Freud wies darauf hin, dass die Erinnerung an das Trauma und die dazugehörenden Emotionen aus den bewussten Gedanken verdrängt wurden (der erste Gebrauch des Begriffs der Verdrängung und des Unbewussten) und daher nicht für den normalen Prozess der Affektverteilung verfügbar waren. Der eingeklemmte Affekt blieb jedoch mit frischer Stärke im Unbewussten bestehen und fand einen bewussten Ausdruck durch Konversion in körperliche Symptome (daher »Konversionshysterie«).

Die Implikationen für die Behandlung sind klar: Man muss den Patienten befähigen, das Trauma zu erinnern und dem eingeklemmten Affekt Ausdruck zu verleihen. Freud und Breuer verwandten Hypnose, und später benutzte Freud die freie Assoziation, um den Patienten zu helfen, die Erinnerung an die ursprüngliche Kränkung wiederzugewinnen und den Affekt verbal und verhaltensmäßig auszudrücken.

Freuds Spekulationen über den Aufbau und die Verteilung von Affekten über die Bildung von Symptomen und über ein System der Therapie, das auf diesen Annahmen beruht, sind von entscheidender Bedeutung und kündigen viel von der dynamischen Theorie und Therapie, die ihm folgte, an. Am relevantesten für meine Diskussion ist Freuds Ansicht über die Quelle des dysphorischen Affekts – das Wesen des ursprünglichen Traumas. Die Theorie der Symptome und der therapeutische Ansatz bleiben im gesamten Text konsistent. Aber Freuds Beschreibung des Wesens des Traumas, das für die Symptome verantwortlich ist, erlebt eine faszinierende Evolution vom ersten bis zum letzten Patienten. (In seiner Einführung stellt er fest, »Ich kann niemandem, der an der Entwicklung der Katharsis in der Psychoanalyse interessiert ist, einen besseren Rat geben, als mit den Studien über Hysterie zu beginnen und damit dem Weg zu folgen, den ich selbst bereitet habe.«)85

In den ersten Fällen des Buches scheinen die Traumata trivial zu sein: Es strapaziert die Glaubwürdigkeit, dass der tief greifend neurotische Zustand einer Person daher rühren könnte, dass er von einem bösartigen Hund gejagt wurde86 oder dass er von einem Arbeitgeber mit einem Stock geschlagen wurde; oder dass man entdeckt, dass das Dienstmädchen dem Hund erlaubt hat, Wasser aus seinem Glas zu trinken,87 oder dass man in seinen Arbeitgeber verliebt ist und dessen ungerechte Vorwürfe erleiden muss.88 Im Weiteren werden die Erklärungen von Falltraumata im Buch Freuds immer verwirrender in ihrer Ausgeklügeltheit: Er glaubte schließlich, dass seine Patienten von archetypischen Sorgen verfolgt wurden, die es wert gewesen wären, von einem griechischen Tragödienschreiber festgehalten zu werden – Hass auf Kinder (da sie die Fähigkeit einer Frau zur Versorgung ihres sterbenden Ehemanns anzweifelten)89, inzestuöse Handlungen mit einem Elternteil,90 das Miterleben einer Zeugungsszene91 und die Freude (gefolgt von Schuldgefühlen) bei dem Tod einer Schwester, deren Ehemann die Patientin liebte.92 Diese letzteren Fälle, die Fußnoten und Freuds Briefe93 legen alle Zeugnis ab von der unbeirrbaren Richtung in Freuds Denken über die Quelle der Angst: (1) Er verschob die Zeit des »wirklichen« Traumas, das für die Angst verantwortlich war, allmählich in eine frühere Periode im Leben; und (2) kam er zu der Ansicht, dass das Wesen des Traumas ausdrücklich und ausschließlich sexuell sei.

Freuds Nachsinnen über die emotionalen Traumata seiner fünf Patienten entwickelte sich allmählich zu einer formalen Theorie der Angst. Angst war ein Signal für antizipierte Gefahr; die Angst wurde früh im Leben gesät, wenn ein bedeutsames Trauma eintrat: Die Erinnerung des traumatischen Ereignisses wurde verdrängt und der dazugehörige Affekt in Angst verwandelt. Die Erwartung der Wiederkehr des Traumas oder einer analogen Gefahr konnte die Angst erneut hervorrufen.

Welche Art von Trauma? Welche Ereignisse sind so grundlegend bösartig, dass ihre Echos einen Menschen sein ganzes Leben lang hindurch verfolgen? Freuds erste Antwort hob die Bedeutung des Affekts der Hilflosigkeit hervor. »Angst ist die ursprüngliche Reaktion auf Hilflosigkeit im Trauma, die dann später in der Gefahrsituation als Hilfssignal reproduziert wird.«94 Dann besteht die Aufgabe darin zu bestimmen, welche Situationen Hilflosigkeit hervorrufen. Da das Thema der Angst das Herzstück psychoanalytischer Theorie ist, und da Freud während seiner gesamten Laufbahn die grundlegende Theorie beliebig änderte, ist es nicht überraschend, dass es viele Aussagen über Angst gibt, dass sie vielfältig sind und teilweise widersprüchlich.95 Zwei primäre Ursprünge der Angst überleben die rastlosen Veränderungen durch Freud: der Verlust der Mutter (Verlassenheit und Trennung) und der Verlust des Phallus (Kastrationsangst). Andere Quellen schließen das Über-Ich oder die moralische Angst ein, die Furcht vor den eigenen selbstzerstörerischen Tendenzen und die Furcht vor Ich-Verlust – die Furcht, von den dunklen irrationalen Mächten der Nacht, die in uns wohnen, überwältigt zu werden.

Obwohl Freud oft andere Quellen der Angst erwähnte, legte er seine Hauptbetonung auf Verlassenheit und Kastration. Er glaubte, dass diese beiden psychischen ›Katzenjammer-Kids‹ uns in immer neuer Verkleidung unser ganzes waches Leben lang verfolgen, und in unserem Schlaf die Nahrung für unsere zwei üblichen Albträume liefern: des Fallens und des Gejagt-Werdens. Freud, der immer ein Archäologe war und immer nach noch grundlegenderen Strukturen suchte, weist darauf hin, dass Kastration und Trennung eine gemeinsame Eigenschaft haben: Verlust – Verlust der Liebe, Verlust der Fähigkeit, sich mit der Mutter zu vereinigen. Chronologisch gesehen kommt die Trennung zuerst, da sie schon in der Tatsache des Geburtstraumas – des ersten Moments im Leben – angelegt ist; aber Freud entschied sich dafür, die Kastration als die gattungsmäßig primäre Quelle der Angst zu betrachten. Die frühe Trennung, so behauptete er, programmiert die Person für die Kastrationsangst, die die früheren Angsterfahrungen einschließt, sobald sie sich entwickelt.

Wenn man die Datengrundlage (das Fallmaterial der Patienten in den Studien über Hysterie), aus dem Freuds Schlussfolgerungen über Angst und Trauma hervorgehen, betrachtet, ist man von der erstaunlichen Diskrepanz zwischen den Fallgeschichten und Freuds Schlussfolgerungen und Formulierungen beeindruckt: Der Tod durchdringt die klinischen Geschichten dieser Patienten so sehr, dass Freud ihn nur mit einer übermäßigen Anstrengung der Unachtsamkeit in seinen Ausführungen über die Traumata des Fallens herauslassen konnte. Von den fünf Patienten werden zwei nur kurz diskutiert. (Eine Patientin, Katarina, Freuds Kellnerin in einem Ferienort, wurde in einer einzigen Sitzung behandelt.) Die drei Hauptpatientinnen – Anna O., Frau Emmy von N. und Fräulein Elisabeth von R. (die ersten dynamischen Fallberichte in der psychiatrischen Literatur) – sind insofern bemerkenswert, als ihre klinischen Beschreibung vor Anspielungen auf den Tod nur so überströmen. Wahrscheinlich hätte Freud darüber hinaus sogar noch mehr Material über das Todesthema hervorgelockt und berichtet, wenn er an der Todesangst besonders interessiert gewesen wäre.

Anna O.s Krankheit beispielsweise entwickelte sich zuerst, als ihr Vater krank wurde (und er erlag dieser Krankheit zehn Monate später). Sie pflegte ihn zunächst unermüdlich; aber schließlich führte ihre Krankheit, die aus bizarr veränderten Bewusstseinszuständen, Amnesie, linguistischer Desorganisation, Anorexie und Konversionssymptomen der Sinne und Muskeln bestand, dazu, dass sie von ihrem sterbenden Vater ferngehalten wurde. Während des folgenden Jahres verschlimmerte sich ihr Zustand sehr. Breuer bemerkte Anna O.s ständige Besorgnis über den Tod. Beispielsweise kommentierte er, dass, obwohl sie bizarre und rasch wechselnde Störungen des Bewusstseins hatte, »das Bewusstsein davon, dass der Vater gestorben sei, (…) meist doch zu bestehen [schien].«96

Während Breuers Hypnosearbeit mit Anna O. hatte sie erschreckende Halluzinationen, die in Verbindung mit dem Tod ihres Vaters standen. Während sie ihn gepflegt hatte, war sie einmal ohnmächtig geworden, als sie sich einbildete, dass sie ihn mit einem Totenkopf sah. (Während der Behandlung schaute sie einmal in den Spiegel und sah nicht sich selbst, sondern ihren Vater mit einem Totenkopf, der sie anstarrte.) Bei anderer Gelegenheit halluzinierte sie eine schwarze Schlange, die ihren Vater gerade angriff. Sie versuchte, gegen die Schlange zu kämpfen, aber ihr Arm war eingeschlafen, und sie halluzinierte, dass ihre Finger sich in Schlangen verwandelten und jeder Fingernagel zu einem winzigen Totenkopf wurde. Breuer hielt diese Halluzinationen, die von ihrem Todesschrecken ausgingen, für die grundlegende Ursache ihrer Krankheit: »Am letzten Tage [der Behandlung] reproduzierte sie mit der Nachhilfe, dass sie das Zimmer so arrangierte, wie das Krankenzimmer ihres Vaters gewesen war, die oben erzählte Angsthalluzination, welche die Wurzel der ganzen Erkrankung gewesen war.«97

Frau Emmy von N. entwickelte ihre Krankheit, wie Anna O., unmittelbar nach dem Tod des Menschen, dem sie am nächsten stand – ihres Ehemannes. Freud hypnotisierte Frau Emmy von N. und fragte nach wichtigen Assoziationen. Sie rasselte eine Litanei von Erinnerungen herunter, die in Beziehung zum Tod standen: Sie sah ihre Schwester in einem Sarg (im Alter von sieben), sie wurde durch ihren Bruder, der sich als Geist verkleidet hatte, und durch ihre Geschwister, die tote Tiere auf sie warfen, erschreckt, sie sah ihre Tante im Sarg (im Alter von neun), sie fand ihre Mutter bewusstlos von einem Schlaganfall (im Alter von fünfzehn), und dann (im Alter von neunzehn) fand sie sie tot auf, sie pflegte einen Bruder, der an Tuberkulose starb, sie betrauerte (im Alter von neunzehn) den Tod ihres Bruders, sie war Zeugin des plötzlichen Todes ihres Ehemannes. Auf den ersten acht Seiten des klinischen Fallberichts gibt es nicht weniger als elf explizite Bezugnahmen auf den Tod, auf Sterben oder auf Leichen. In der gesamten klinischen Beschreibung spricht Frau Emmy von N. ausführlich über ihre tief greifende Todesangst.

Die Krankheit der dritten Patientin, Fräulein Elisabeth von R., begann während der achtzehn Monate, in denen sie ihren sterbenden Vater versorgt und den unerbittlichen Verfall ihrer Familie beobachtet hatte: Eine Schwester zog weit weg, ihre Mutter litt an einer schweren Krankheit, ihr Vater starb. Schließlich brach Fräulein Elisabeths Krankheit in voller Stärke nach dem Tod einer sehr geliebten älteren Schwester aus. Im Verlauf der Therapie gab ihr Freud (in ganz ähnlicher Weise, wie Breuer sein Beratungszimmer umgeräumt hatte, damit es dem Zimmer ähnelte, in dem Anna O.s Vater gestorben war) die Aufgabe, das Grab ihrer Schwester zu besuchen, um das Auftauchen alter Erinnerungen und Affekte zu beschleunigen.

Freud glaubte, dass Angst durch eine Situation hervorgerufen wird, die eine frühere, lange vergessene Situation des Schreckens und der Hilflosigkeit wachruft. Sicherlich lösten die mit dem Tod in Zusammenhang stehenden Traumata dieser Patientinnen tiefe Gefühle des Schreckens und der Hilflosigkeit in ihnen aus. Aber in der Lösung jedes Falles vernachlässigt Freud das Todesthema entweder gänzlich oder lenkt die Aufmerksamkeit auf den generellen Stress, der durch die Verluste, die jede Patientin erlitten hatte, verursacht wurde. Seine Formulierungen konzentrieren sich auf die erotischen Komponenten der Traumata jeder Patientin.

Robert Jay Lifton macht in The Broken Connection (New York, 1979) fast genau die gleiche Beobachtung über einen anderen von Freuds wichtigen Fällen, Klein Hans, und er schlussfolgert, dass die Libidotheorie den Tod aufhebt. Da Liftons Buch unglück licherweise erschien, nachdem mein Buch fertig war, war ich nicht in der Lage, seine reichen Einsichten in einer sinnvollen Weise aufzugreifen. Es ist ein gedankenreiches, wichtiges Werk, das sorgfältiges Lesen erfordert.

Freud verhalf Fräulein Elisabeth, als ihre Schwester starb, zu der Erkenntnis dass sie sich in der Tiefe ihrer Seele freute (und infolgedessen von Schuld überwältigt wurde), weil der Ehemann ihrer Schwester, den sie begehrte, jetzt frei war, um sie zu heiraten. Eine wichtige Entdeckung: Das Unbewusste, ein Überrest primitiver Wünsche, die im Keller unserer Seele vergraben liegen, weil sie für das Sonnenlicht ungeeignet sind, tauchte kurz im Bewusstsein auf und verursachte große Angst, die schließlich durch Konversionssymptomatologie gebunden wurde.

Es besteht kein Zweifel, dass Freud in jedem seiner Patienten wichtige Konflikte aufdeckte. Aber das, was er ausließ, bedarf der genauen Untersuchung. Der Tod eines Elternteils, eines Partners oder eines anderen Nahestehenden ist mehr als ein generalisierter Stress; es ist mehr als der Verlust eines wichtigen Objektes. Es ist ein Klopfen an der Tür der Verleugnung. Wenn, wie Freud spekulierte, Fräulein Elisabeth auch nur für einen flüchtigen Moment, als ihre Schwester starb, dachte: »Jetzt ist ihr Ehemann wieder frei, und ich kann seine Frau sein«, dann erschauerte sie höchstwahrscheinlich auch bei dem Gedanken: »Wenn meine geliebte Schwester stirbt, dann werde ich auch sterben.« Wie Fräulein Elisabeth beim Tod ihrer Schwester, so Anna O. beim Tod ihres Vaters oder Frau Emmy von N. beim Tod ihres Ehemannes: Jede von ihnen muss auf einer tiefen Ebene und nur für einen Augenblick einen Blick auf ihren eigenen Tod geworfen haben.

In den nachfolgenden Formulierungen, die die Quellen der Angst betreffen, übersah Freud den Tod weiterhin auf höchst seltsame Weise. Er fixierte sich auf den Verlust: Kastration und Verlassenheit – der Verlust des Penis und der Verlust der Liebe. Seine Haltung ist an dieser Stelle untypisch. Wo ist der furchtlose archäologische Gräber? Freud bohrte immer nach dem Fels – nach den frühesten Ursprüngen – der Dämmerung des Lebens – der Lebensweise des primitiven Menschen – der vorsintflutlichen Horde – den grundlegenden Trieben und Instinkten. Aber vor dem Tod hielt er plötzlich inne. Warum tat er nicht einen weiteren, nahe liegenden Schritt, hin zu dem gemeinsamen Nenner von Verlassenheit und Kastration? Beide Begriffe stützen sich auf ontologische Felsen. Verlassenheit ist unentwirrbar mit dem Tod verknüpft: Der verlassene Primat geht immer unter; das Schicksal des Aussätzigen ist unvermeidlicherweise der soziale Tod, dem der physische Tod schnell folgt. Kastration ist, wenn sie im bildlichen Sinn verstanden wird, synonym mit Vernichtung; wenn sie wörtlich genommen wird (und Freud meinte sie leider wörtlich), dann führt sie auch zum Tod, da der kastrierte Mensch seinen Samen nicht in die Zukunft werfen kann, er nicht der Auslöschung entfliehen kann.

In Hemmung, Symptom und Angst betrachtete Freud kurz die Rolle des Todes in der Ätiologie der Neurosen, aber schob sie wieder als oberflächlich beiseite (ich werde später auf die auf den Kopf gestellte analytische Sichtweise von dem, was »Tiefe« und »Oberflächlichkeit« ausmacht, eingehen). In einer Passage, die unzählige Male von Theoretikern zitiert wurde, beschreibt Freud, warum er die Todesfurcht aus seinen Überlegungen über die ursprüngliche Quelle der Angst weglässt.

Es ist nach allem, was wir von der Struktur der simpleren Neurosen des täglichen Lebens wissen, sehr unwahrscheinlich, dass eine Neurose nur durch die objektive Tatsache der Gefährdung ohne Beteiligung der tieferen unbewussten Schichten des seelischen Apparats zustande kommen sollte. Im Unbewussten ist aber nichts vorhanden, was unserem Begriff der Lebensvernichtung Inhalt geben kann. Die Kastration wird sozusagen vorstellbar durch die tägliche Erfahrung der Trennung vom Darminhalt und durch den bei der Entwöhnung erlebten Verlust der mütterlichen Brust; etwas dem Tod Ähnliches ist aber nie erlebt worden oder hat wie die Ohnmacht keine nachweisbare Spur hinterlassen. Ich halte darum an der Vermutung fest, dass die Todesangst als Analogon der Kastrationsangst aufzufassen ist, und dass die Situation, auf welche das Ich reagiert, das Verlassensein vom schützenden Über-Ich – den Schicksalsmächten – ist, womit die Sicherung gegen alle Gefahren ein Ende hat.98

Die Logik kommt hier schlimm ins Schleudern. Zuerst besteht Freud darauf, dass die Erfahrung des Todes im Unbewussten nicht repräsentiert sein kann, weil wir keine Erfahrung davon haben. Hatten wir eine Erfahrung mit der Kastration? Keine direkte Erfahrung, gibt Freud zu; aber er stellt fest, dass wir die Erfahrung von anderen Verlusten haben, die erfahrungsmäßig gleichwertig sind: die tägliche Trennung von den Fäkalien oder die Erfahrung des Abstillens. Sicher ist die Fäkalien-Abstillen-Kastrationskette nicht logisch zwingender als der Begriff von einer angeborenen intuitiven Bewusstheit des Todes. Das Argument, wodurch Tod durch Kastration als ursprüngliche Quelle der Angst ersetzt wird, ist in der Tat so unhaltbar, dass ich mich nicht wohlfühle, wenn ich es angreife, ganz so als würde ich einen offensichtlich verkrüppelten Gegner bekämpfen. Betrachten Sie beispielsweise die offensichtliche Tatsache, dass auch Frauen Angst haben – die Verrenkungen, die notwendig sind, um die Kastrationstheorie auf Frauen anzuwenden, sind wirklich Spitzenleistungen analytischer Metapsychologie.

Melanie Klein war ausgesprochen kritisch gegenüber Freuds seltsamer Inversion des Primats. »Die Todesangst verstärkt die Kastrationsangst und ist nicht ihr analog … da die Reproduktion eine wesentliche Möglichkeit ist, gegen den Tod zu arbeiten, würde der Verlust der Genitalien das Ende der kreativen Kraft bedeuten, die das Leben erhält und weiterführt.« Klein stimmte auch mit Freuds Ansicht nicht überein, dass es keine Todesfurcht im Unbewussten gäbe. Sie akzeptierte später Freuds Forderung, dass es in der tiefsten Schicht des Unbewussten einen Todesinstinkt (Thanatos) gibt und argumentierte, dass »eine Todesfurcht, die auch im Unbewussten sitzt, in Opposition zu diesem Instinkt aktiv ist.«99 Trotz des Widerspruchs von Klein ebenso wie von Rank und Adler u.a., die in eine Guerilla-Opposition gingen, bestand Freud auf seinen Ansichten und begründete einen Kult der Todesverleugnung für viele Generationen von Therapeuten. Die wichtigsten analytischen Handbücher reflektieren und zementieren diesen Trend. Otto Fenichel stellt fest, dass, »weil die Idee des Todes subjektiv unbegreiflich ist, jede Todesfurcht andere unbewusste Ideen verdeckt.«100 Robert Waelder lässt alle Betrachtungen über den Tod aus;101 während Ralph Greenson den Tod kurz aus der Perspektive von Thanatos, Freuds Todesinstinkt, diskutiert und ihn dann als eine Kuriosität verwirft – eine kühne, aber unhaltbare Theorie.102 Nur allmählich und durch jene, die außerhalb der Freudschen Tradition arbeiteten (oder die sich schnell außerhalb dieser wiederfanden), wurde die notwendige Korrektur vorgenommen.

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995 p. 10 illustrations
ISBN:
9783897976061
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