Der Heinrich-Plan

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From the series: Leo Schwartz #1
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„Gut. Wir werden die drei lediglich über Maximilians Tod informieren, mit Einzelheiten halten wir uns vorerst noch zurück. Können wir uns darauf einigen?“ Leo sah vor allem Steinberger an, der keine Einwände hatte. „Ich möchte Sie bitten, dass Sie sich diesmal an die Absprache halten,“ fügten Leo hinzu. Steinberger war sauer. Was fiel diesem Schwaben eigentlich ein, so mit ihm zu sprechen?

Es war 16.00 Uhr und die Freunde waren anwesend. Sie saßen gemeinsam in Steinbergers Büro und Leo informierte sie über Maximilians Tod. Anna hielt sich im Hintergrund, um die drei aufmerksam zu beobachten. Maximilians Freunde waren sichtlich geschockt.

Julius Bernrieder war 1,72 Meter groß, 24 Jahre, untersetzt und hatte langes, braunes Haar, das er bestimmt schon einige Tage weder gewaschen, noch gekämmt hatte. Er trug eine kleine Nickelbrille und man konnte aufgrund der Glasstärke der Brille erkennen, dass er sehr schlechte Augen hatte. Seine Kleidung war leger: Jeans, Turnschuhe und ein T-Shirt. Julius war Sohn eines Bankers, seine Mutter war Hausfrau. Er studierte entgegen den Erwartungen seiner Eltern Naturwissenschaften. Leo befragte ihn zu seinem Verhältnis zu Maximilian und zu dem Tag des Verschwindens.

„Ich war mit Maximilian noch nicht lange befreundet, wir kannten uns eigentlich nicht näher. Wir haben uns in einer Passauer Kneipe kennengelernt, als ich meine Eltern zuhause besuchte. Sie müssen wissen, dass ich in Bayreuth studiere. Sie haben Glück, dass ich noch in Passau bin, in einer Woche enden die Semesterferien. Maximilian und ich trafen uns also in der Kneipe und verstanden uns auf Anhieb. Eines Tages beim Bier hat mir Maximilian erzählt, dass er nach Sylt in Urlaub möchte und hat mich dazu überredet, mich anzuschließen. Ich hatte nichts Besseres vor, also bin ich mit.“

„Es geht um die Party am 14. Juni, als Maximilian verschwand. Woran können Sie sich erinnern?“

„Bei der Party war ich nur kurz, es hat mir nicht gefallen. Ich bin nicht der geborene Party-Typ. Ich lass mich nicht gerne volllaufen, ich ziehe interessante Gespräche vor und lese lieber.“

„Wann haben Sie die Party verlassen?“

„So gegen 22.00 Uhr schätze ich.“

„Wann haben Sie Maximilian von Kellberg zum letzten Mal gesehen?“

„Auf der Party. Als ich ging, war er gerade am Tanzen. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe.“ In Julius Augen standen Tränen, deren er sich nicht schämte.

Leo wandte sich an den nächsten Freund, an Benjamin Aschenbrenner. Er war der Sohn eines Zahnarztes und einer Psychotherapeutin, und wie Julius ebenfalls 24 Jahre alt. Er saß mit seiner sichtlich teuren Kleidung aufrecht auf dem Stuhl. Er war 1,83 Meter groß und hatte eine sehr sportliche Figur. Seine Frisur war kurz und sehr modern mit Haargel in Form gebracht. Seine wachen, blauen Augen sahen Leo erwartungsvoll an.

„Auch an Sie habe ich die gleichen Fragen, Herr Aschenbrenner. Wie war Ihr Verhältnis zu Maximilian und wie haben Sie den Abend des 14. Junis erlebt?“

Leo überraschte die tiefe, klare Stimme.

„Maximilian und ich kennen uns schon von klein auf, wir sind praktisch zusammen aufgewachsen. Unsere Eltern sind sehr eng befreundet. Nach der Schule war es klar, dass wir gemeinsam studieren. Wir haben uns für Jura entschieden und uns gemeinsam an der Uni Passau eingeschrieben. Zu dem Abend auf Sylt kann ich nicht viel sagen. Ich saß an der Bar und habe mich mit einigen Leuten unterhalten. Maximilian hat sich vorwiegend auf der Tanzfläche aufgehalten und hat alle möglichen Mädchen angemacht. Irgendwann ist er dann mit einem Mädchen verschwunden. Später habe ich ihn noch einmal mit einem anderen Mädchen gesehen. Das muss nach Mitternacht gewesen sein, eher halb eins. Da ich müde war, habe ich Maximilian und Tim noch zugewinkt und bin auf mein Zimmer.“

„Danach haben Sie Maximilian nicht mehr gesehen?“

„Nein, das war das letzte Mal.“ Er senkte den Kopf, um die Tränen zu verbergen. Von Anfang an hatte er sich bemüht, sachlich zu bleiben, was ihn arrogant erscheinen ließ. Er musste sich anstrengen, um die Fassade aufrecht zu erhalten. Aber gerade diese Gefühlsregung machte ihn fast schon wieder sympathisch.

Leo bekam langsam ein Bild von Maximilian von Kellberg. Er wandte sich an den dritten Studienkollegen Tim Mahler, der in einem roten Jogginganzug vor ihm saß. Tim bemerkte Leos abschätzende Blicke.

„Tut mir leid, ich war im Training und bin direkt hierher. Ich hoffe, Sie stören meine Klamotten nicht.“

„Nein, keineswegs. Bei der Gelegenheit möchte ich mich bei Ihnen allen bedanken, dass Sie es möglich gemacht haben, pünktlich zu erscheinen; in welcher Kleidung auch immer. Welchem Sport gehen Sie nach?“

„Eigentlich mache ich so gut wie alles, aber vor allem spiele ich mit Leidenschaft Fußball. Ich studiere Biologie und Sport auf Lehramt. Um mein Studium zu finanzieren, kellnere ich in einer kleinen Bar in der Altstadt. Meine Mutter hat kein Geld, um mich finanziell zu unterstützen. Sie ist Sekretärin in einem Exportunternehmen und hat mich allein aufgezogen. Ich komme über die Runden, das Studium läuft prima.“

„Sind Sie ein guter Fußballer?“, wollte Leo wissen, der eine Schwäche für Fußball hatte.

„Ich kann das selbst nicht so beurteilen,“ antwortete Tim Mahler bescheiden, „aber mein Trainer meint, dass ich das Zeug zum Profi habe. Die ersten Anfragen von Profivereinen flattern bereits ins Haus. Ich bin erst 20 Jahre alt, mal sehen, was noch kommt. Ich verlasse mich aber nicht auf eine eventuelle Profikarriere. Ein kaputtes Knie oder dergleichen, und ich stehe auf der Straße.“

Insgeheim beneidete Leo diesen Jungen. Er wollte früher auch so sein wie Tim Mahler, aber er hatte nicht die nötige Disziplin. Tim war mit 1,98 Meter sehr groß. Er hatte schwarze, kurze Haare und eine gebräunte, gesunde Gesichtsfarbe. Eben einer dieser Jungs, die von den Mädchen umschwärmt werden und die überall beliebt sind.

„Sehr vernünftig, junger Mann. Ich habe natürlich die gleichen Fragen auch an Sie.“

„Ich kenne Maximilian von der Uni, wir haben uns beim Sport kennen gelernt. Maximilian war auch begeisterter Fußballspieler, aber er hatte nicht den gleichen Ehrgeiz wie ich. Er kommt zwar aus sehr reichem Haus, aber er war nicht so ein eingebildeter Schnösel, sondern völlig normal.“ Dabei sah Tim Benjamin an, der keine Miene verzog. „Maximilian hat mich zu diesem Urlaub auf Sylt überredet und hat das alles auch bezahlt. Ich habe keinen Cent übrig, aber Maximilian sah das locker und hat mich einfach eingeladen. Er wollte unbedingt, dass ich mitkomme. Wir hatten auf Sylt richtig viel Spaß. Bezüglich des weiblichen Geschlechts waren wir auf einer Wellenlänge, wenn Sie verstehen, was ich meine. Wir beide haben es richtig krachen lassen. Durch mein Studium, das Training und meinen Nebenjob habe ich sehr wenig Freizeit und habe diesen Urlaub wirklich ausgenutzt.“

Leo musste grinsen, genau so hatte er sich Tim vorgestellt.

„Ja, ich kann mir vorstellen, wie Sie das meinen. Fahren Sie fort. Wie ist der Abend verlaufen?“

„Wie Benjamin schon sagte. Maximilian und ich sind gleich auf die Tanzfläche und auf die Mädchen los. Wir wurden ziemlich schnell fündig und sind mit den Mädels abgezogen, jeder für sich natürlich. Später sind wir uns wieder begegnet, tranken ein Bier zusammen und haben uns wieder unter die Leute gemischt. Ich habe gegen später noch ein Mädchen aufgerissen und bin mit auf ihr Zimmer. Maximilian habe ich nur kurz von weitem mit einem Mädchen am Strand gesehen.“

„Welche Uhrzeit?“

„An dem Abend habe ich jegliches Zeitgefühl verloren. Ich ließ mich einfach treiben und genoss das Leben. Ich bin mir sicher, dass das nach Mitternacht gewesen sein muss.“

„War außer Maximilian und dem Mädchen noch jemand am Strand?“

„Darauf habe ich nicht geachtet. Ich sah Maximilian und das Mädchen, das ich nicht beschreiben könnte. Ich kann mich an ihr langes Haar erinnern, das im Wind wehte. Das war das letzte Mal, dass ich Maximilian sah.“

Leo spürte, dass Tim das alles sehr nahe ging. Er atmete schwer und ihm versagte langsam die Stimme.

„Dann waren Sie der Letzte von Ihnen, der Maximilian auf der Party gesehen hat?“, fragte Leo weiter.

„Das kann gut sein, aber sicher bin ich mir nicht. Ich weiß, dass Julius nicht so auf Partys steht. Ich habe Benjamin gesehen, wie er sich mit einigen Leuten heftig gestritten hat. Wann die beiden von der Party weg sind, kann ich nicht sagen.“

„Hör mal Tim,“ empörte sich Benjamin sehr laut, „ich habe dir und Maximilian doch noch zugewinkt. Das muss gegen halb eins gewesen sein.“

„Tut mir leid, Kumpel. Ich kann mich weder an die Uhrzeit, noch an das Winken erinnern.“

Benjamin war sichtlich sauer.

„Mit wem haben Sie sich gestritten und um was ging es dabei?“

„Das war kein Streit, ich habe lediglich mit einigen Leuten diskutiert. Es ging um Politik und bei dem Thema kann es schon mal ein bisschen heftiger zugehen. Aber ich bestehe darauf, dass ich mich mit niemandem gestritten habe.“

Leo sah zu Julius.

„Was sagen Sie dazu, Herr Bernrieder?“

„Was soll ich sagen, Mann? Ich kann von meinem Kumpel nicht erwarten, dass er weiß, wann ich ins Bett gehe. Ich weiß, dass ich gegen 22.00 Uhr ins Bett bin, Zeugen habe ich keine.“

„Kann sich von Ihnen jemand erinnern, was Maximilian an diesem Abend anhatte?“

„Ja klar,“ sagte Tim mit einem Schmunzeln. „Wir haben uns alle darüber lustig gemacht. Es waren blaue Shorts mit bunten, kleinen Palmen drauf. Das ging gar nicht. Maximilian hatte seine Shorts zuhause vergessen und hat in der Boutique des Hotels das scheußliche Ding gekauft. Er sagte, die anderen waren noch hässlicher, was ich mir nicht vorstellen kann.“

 

„Und die Schuhe?“

„Keine Schuhe. Das war eine Beachparty, im Sand trägt man keine Schuhe. Die Jungs tragen Badeshorts und die Mädchen einen Bikini, das ist ja das Tolle an diesen Strandpartys,“ sagte Tim mit einem Lächeln.

„Ich hatte Schuhe an,“ sagte Benjamin mit einem Seitenblick auf Tim.

„Klar, du warst ja auch wie immer korrekt gekleidet. Mit Hemd, langer Hose und Slippern. Und das bei einer Beachparty im Sand!“, sagte Julius mit einem Lachen. „Du musst immer aus der Reihe tanzen und bei jeder Gelegenheit demonstrieren, dass du etwas Besseres bist,“ sagte Julius sarkastisch. Man spürte sofort, dass er Benjamin nicht leiden konnte. „Ich hatte übrigens auch keine Schuhe an. Das war mir ganz recht, denn in meinem Zimmer hätte ich Stunden gebraucht, um meine Schuhe zu finden. Ich bin etwas chaotisch und es braucht nicht viel, bis es aussieht wie Sau.“

„Jetzt habe ich aber auch eine Frage,“ sagte Tim. „Wie ist Maximilian gestorben? Wo haben Sie ihn gefunden und was zum Teufel hat er die ganze Zeit gemacht?“

Die drei sahen Leo an. Offensichtlich stellten sich die anderen beiden dieselben Fragen.

„Tut mir leid, aber Details können wir Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt aus ermittlungstechnischen Gründen noch nicht nennen.“

„Unfall oder Mord?“ Tim ließ nicht locker. „Es macht mich stutzig, dass Sie von der Mordkommission Ulm sind.“

Leo war in der Zwickmühle und sah Anna an. Sie zuckte nur mit den Schultern und überließ ihm die Entscheidung, Informationen zu nennen. Warum auch nicht? Die drei jungen Männer, die vor ihm saßen, waren Maximilians beste Freunde. Hatten sie nicht ein Recht darauf, wenigstens dieses Detail zu erfahren?

„Wir gehen von Mord aus. Aber mehr kann ich Ihnen wirklich noch nicht sagen.“

Die drei starrten Leo irritiert an, damit hatte niemand gerechnet. Sie stellten Leo noch jede Menge Fragen, die er aber abblockte. Noch scheute er sich davor, ihnen die grausame Wahrheit zu sagen. Was sollte das bringen?

Nachdem die Protokolle aufgenommen wurden, gab Leo jedem noch eine seiner Visitenkarten und sie wurden nach Hause entlassen.

Nach einer kühlen Verabschiedung von Steinberger fuhren Leo und Anna zurück nach Ulm. Es war bereits dunkel geworden und im Radio lief leise Musik.

„Steinberger konnte es kaum erwarten, dass wir endlich wieder abhauen. Kann ich irgendwie nachvollziehen, schließlich haben wir ihn ganz schön in Beschlag genommen. Maximilians Freunde taten mir sehr leid. Die Todesnachricht und vor allem die Info, dass Maximilian ermordet wurde, hat sie ziemlich mitgenommen.“ Anna war betroffen. Der heutige Tag ging ihr ziemlich an die Nieren.

„Ich habe mir das Gespräch mit den Freunden anders vorgestellt. Ich ging davon aus, dass sie untereinander befreundet sind und sich gut kennen. Aber in Wirklichkeit sind die sich alle nicht ganz grün. Die waren nur zusammen, weil sie mit Maximilian befreundet waren. Er war das Bindeglied zwischen ihnen. Wenn wir mehr Erkenntnisse haben, sollten wir sie zu einem späteren Zeitpunkt nochmals getrennt voneinander befragen.“ Auch an Leo ging der heutige Tag nicht spurlos vorbei. Dieser beschissene Tag und die Fahrt in der trostlosen Nacht gingen ihm an die Nieren. Er spürte, dass es Anna ähnlich ging. „Was hältst du davon, wenn wir richtig gut essen gehen? Das haben wir uns nach dem heutigen Tag verdient. Morgen sehen wir weiter. Ich denke, wir sollten uns auf Sylt umsehen, vielleicht werden wir dann etwas schlauer.“ Anna nickte zustimmend. Auch Sie würde sich gerne auf Sylt vor Ort umsehen und sich ein persönliches Bild machen. Bezüglich des Essens hatte sie keine Einwände. Im Gegenteil: Sie hatte tierischen Hunger.

Leo fand im nächsten Ort ein nettes Restaurant mit gutbürgerlicher Küche und sie genossen das Essen.

„Hattest du auch das Gefühl, dass der Butler Willi seinen Chef Johannes von Kellberg nicht besonders mag?“, fragte Leo, als sie ihr Wiener Schnitzel fast aufgegessen hatte.

„Sicher. Und ich kann ihn verstehen: Mir ist der arrogante Typ auch nicht sympathisch.“ Dass er Albert Steinberger ebenfalls nicht mochte, behielt er lieber für sich, schließlich ging es um einen Kollegen.

Sie trafen gegen 23.30 Uhr in Ulm ein. Leo rief trotz der späten Stunde seinen Chef Zeitler an, um ihn über den heutigen Tag zu unterrichten und den Flug nach Sylt genehmigen zu lassen. Zeitler schien über die späte Störung nicht sauer. Er hörte sich alles an und stellte nur wenige Fragen. Bezüglich Sylt hatte er zwar Bedenken, stimmte dann aber doch zu.

Leo kümmerte sich umgehend um Flüge nach Sylt und gab Anna Bescheid, dass er sie um 4.00 Uhr abholen würde. Schon wieder hatten sie eine sehr kurze Nacht vor sich. Dann rief Leo in dem Hotel auf Sylt an, in dem Maximilian im Juni gewohnt hatte. Er kündigte seinen Besuch für den nächsten Tag an und vereinbarte einen Termin mit dem Hotelmanager. Wie würde die Sylter Polizei reagieren, wenn er mit Anna dort auftauchte und recherchierte? Er konnte keine Probleme brauchen, rief dort an und sprach lange mit dem Diensthabenden, bis der schließlich sein Okay gab, das sich Leo schriftlich per Mail bestätigen ließ.

Jetzt war alles geklärt. Leo sah auf die Uhr: 1:24 Uhr! Die Telefongespräche hatten sehr lange gedauert. Wenn er sich ranhielt, dann konnte er noch zwei Stunden schlafen.

4.

Anna stand schon auf der Straße, als Leo sie pünktlich um 4.00 Uhr abholte. Sie hatte wie immer gute Laune, wohingegen Leos Laune auf dem Nullpunkt war. Er hatte wenig und schlecht geschlafen. Er hatte Angst vor dem Flug nach Sylt, denn er litt unter starker Flugangst. Aber es half nichts, da musste er durch.

Sie stellten den Wagen direkt im Parkhaus am Flughafen ab. Die Tickets waren für sie am Schalter hinterlegt.

Leo rief vor dem Abflug bei der Passauer Polizei an, um sich nochmals bei Albert Steinberger für dessen Mitarbeit zu bedanken und um nachzufragen, ob sich etwas Neues ergeben hätte. Das war leider nicht der Fall. Warum war Steinberger so wortkarg, fast unfreundlich? Klar! Es war noch sehr früh am Tag und er hatte den Kollegen ganz sicher geweckt. Hätte er ihm sagen sollen, dass er auf dem Weg nach Sylt war? Nein, warum auch?

Der Flug dauerte nur 1 ½ Stunden und war sehr unangenehm. Wegen der heutigen Stürme wurden sie kräftig durchgeschüttelt. Nach den letzten schönen Tagen machte sich der Herbst nun doch langsam bemerkbar. Leo stand Todesängste aus. Schon der holprige Start war für ihn eine Tortur gewesen. Er krallte sich in seine Oberschenkel und konnte sich keine Sekunde entspannen. Den Snack und ein Getränk lehnte er ab. Anna schien völlig ruhig. Sie las in einem Buch und ihr schienen die Turbulenzen nichts auszumachen. Als das Flugzeug zur Landung ansetzte, wurde Leos Nerven noch einmal strapaziert. Schreckliche Horrorszenarien von Flugzeugabstürzen liefen vor seinem inneren Auge ab. Alles ging gut, sie landeten sicher und Leo atmete erleichtert auf. Hatte Anna gemerkt, dass er Angst hatte? Bestimmt nicht.

Natürlich hatte Anna seine Angst bemerkt, wie auch die Stewardessen und ihr Sitznachbar. Sie ließen Leo in Ruhe. Was hätten sie auch tun können?

Das Wetter auf Sylt war ungewöhnlich stürmisch und es regnete stark, als die beiden um 8.30 Uhr aus dem Flugzeug stiegen. Leo machte das Wetter nichts aus. Er hatte den Flug hinter sich gebracht und war glücklich. Da sie beide kein Gepäck hatten, konnten sie den Flughafen schnell verlassen. Sie nahmen ein Taxi.

Nach guten 20 Minuten hatten sie das Hotel im Blick. Leo war überrascht, er hatte sich das ganz anders vorgestellt. Es machte einen sehr ordentlichen, aufgeräumten Eindruck. Die Auffahrt war mit großen Pflanzen gesäumt und dazwischen waren Figuren und große bepflanzte Amphoren geschickt platziert worden. Hier fand eine der größten Strandpartys Nordeuropas mit hunderten von Jugendlichen statt?

Die Empfangshalle war hell und freundlich mit sehr gemütlichen, farbenfrohen Sitzmöglichkeiten und riesigen, mediterranen Pflanzen ausgestattet. Außerdem war es hier sehr warm, was beide nach dem schlechten Wetter als sehr angenehm empfanden. Hinter dem Tresen begrüßte sie eine junge Frau mit einem leichten Sprachfehler. Leo sah sofort eines dieser schrecklichen Zungenpiercings, die er nicht ausstehen konnte. Er kapierte nicht, wie man sich freiwillig Löcher in irgendwelche Körperstellen machen konnte. Das Gleiche galt übrigens für Tattoos, die in jeder Altersschicht beliebt waren und inzwischen zum guten Ton gehörten. Das musste doch alles höllisch wehtun! Es gab für ihn nur die eine logische Erklärung dafür: Diese Menschen müssen alle masochistisch veranlagt sein, denn schön und schmückend war der Körperschmuck in seinen Augen ganz sicher nicht. Bei diesen Gedanken allein schüttelte es ihn und er bekam eine Gänsehaut.

„Hallo, ich bin Lisa. Was kann ich für euch tun?“

„Guten Tag. Mein Name ist Leo Schwartz, das ist meine Kollegin Anna Ravelli, wir sind von der Kriminalpolizei Ulm. Wir möchten den Hotel-Manager sprechen, wir sind angemeldet.“

„Ja klar, ich weiß Bescheid,“ lispelte die junge Frau und rief mit schriller Stimme quer durch die Halle „Sabrina! Dein Termin ist da!“

Leo und Anna erschraken über die Lautstärke und die saloppe Art der Frau. Kurz darauf kam eine junge Frau in einem Minirock und einem sehr knappen Oberteil auf die beiden zu. „Hallo, ich bin Sabrina. Was kann ich für euch tun?“

„Guten Tag. Mein Name ist Leo Schwartz,“ sagte er irritiert und zeigte seinen Dienstausweis vor. Er starrte auf das riesige, funkelnde Bauchnabel-Piercing und die Tätowierung auf der linken Brust. Sofort bekam er wieder eine Gänsehaut. „Das ist meine Kollegin Anna Ravelli. Wir sind von der Kriminalpolizei Ulm. Unser Aufenthalt wurde von der örtlichen Polizei abgesegnet.“ Er hielt ihr ein Blatt Papier vor, was Sabrina aber wenig interessierte. Sie strahlte Leo mit ihren weißen Zähnen an, was Leo nun noch mehr irritierte. „Wir haben einige Fragen bezüglich eines Mordfalles. Können wir uns irgendwo ungestört unterhalten?“

„Na klar. Ich bin sehr gespannt, was unser Haus mit einem Mord in Ulm zu tun hat. Kommt mit, wir setzen uns an die Bar.“ Ohne auf eine Reaktion zu warten, klapperte sie auf ihren hochhackigen Schuhen davon und die beiden folgten ihr. Anna war sehr amüsiert, denn selten hatte sie Leo so irritiert gesehen.

„Was möchtet ihr trinken?“, fragte Sabrina und winkte dem Barkeeper. „Ich nehme einen Wodka-Orange.“

Leo erschrak. Alkohol um diese Uhrzeit? Das konnte ja heiter werden. Er lehnte dankend ab.

„Und was möchtest du trinken?“, wandte sich Sabrina an Anna.

„Ein Cappuccino wäre super, wenn das möglich wäre.“

„Klar, du bekommst alles, was du willst. Pedro?“ Sie gab dem Kollegen hinter der Theke ein Zeichen. „Wodka-Orange und einen Cappo.“

„Frau Sabrina,“ begann Leo und wurde sofort von ihr unterbrochen.

„Nur Sabrina bitte. Wir nennen uns hier alle beim Vornamen und duzen uns auch alle. Wir pflegen untereinander einen lockeren Ton, was bei unseren meist jungen Gästen sehr gut ankommt. Was nicht heißt, dass das Hotel nicht ordentlich geführt wird und wir keine Ahnung haben.“

„In Ordnung, wie Sie wollen. Sabrina. Wir haben die Leiche eines jungen Mannes gefunden, der im Juni mit seinen Freunden in Ihrem Hotel abgestiegen ist. Ich habe ein Foto. Wenn Sie sich das bitte ansehen würden?“

„Klar, zeig her.“ Sie besah sich das Foto sehr genau. Das Lächeln war verschwunden, sie runzelte die Stirn. Dann stand sie auf, ging ein paar Schritte und rief quer durch die Empfangshalle „Leute, kommt mal bitte alle an die Bar!“

Anna und Leo sahen sich an und konnten sich ein Lachen nicht verkneifen. In dem Hotel ging es wirklich sehr locker zu. Kurz darauf kamen fünf junge Personen. Alle etwa alle im gleichen Alter, ungefähr Mitte 20, und alle sahen ähnlich aus wie Sabrina: Knappe, kurze, sehr aufreizende Kleidung und irgendwo blitzte ein Piercing oder ein Tattoo hervor.

„Leute, seht euch das Foto an. Kennt jemand den Jungen? Es ist wichtig.“

Das Foto ging reihum und das junge Mädchen Lisa vom Empfang kicherte. „Ja, den kenne ich. Der war im Juni während unserer großen Beachparty hier“, lispelte sie und bewegte das Zungenpiercing hektisch hin und her. Leo musste sich zwingen, nicht hinzusehen, da ihm richtig schlecht wurde. Schon die Vorstellung allein, dass dieses Mädchen mit dem Metall in ihrem Mund spielte, verursachte bei ihm abermals eine Gänsehaut.

 

„Sind Sie sicher, dass Sie den Mann kennen?“, hakte Leo nach.

„Klar. Ich war kurz mit ihm zusammen. Wegen dem war doch die Polizei schon einmal hier, erinnert ihr euch?“ Reihum nickten alle. Sabrina kapierte nun auch, um wen es sich handelt.

„Ach der ist das? Ich dachte mir doch gleich, dass er mir bekannt vorkommt. Ja, der war hier. Die Polizei hat ihn gesucht.“

„Moment, Lisa. Habe ich das richtig verstanden? Sie waren mit Maximilian zusammen?“

„Ja, wir hatten kurz Spaß miteinander. Er ist zurück zur Party und ich musste zur Arbeit, an dem Tag hatte ich Spätschicht.“

„Haben Sie Maximilian später noch einmal gesehen?“, wollte Anna wissen.

„Nein, warum sollte ich?“ Lisa schien erstaunt.

„Waren Sie nicht besorgt, als Maximilian vermisst wurde?“

„Nein, warum denn ?“

„Sie waren doch schließlich mit ihm zusammen.“

Lisa kicherte und auch Sabrina und die anderen konnten sich ein Lächeln nicht verkneifen. „Das dürft ihr nicht erst nehmen und gleich in die Beziehungskiste stecken. Das mit ihm und mir hatte nichts weiter zu bedeuten. Die Leute kommen zu uns ins Hotel, um Spaß zu haben. Und das wollen wir auch.“

„Wir sind alle sehr jung, seht uns doch an. Bei den jungen Leuten draußen sind wir bekannt und beliebt dafür, dass wir hier Party machen und locker drauf sind. Deshalb ist unser Haus auch immer ausgebucht,“ erklärte Sabrina und verdrehte die Augen. Immer wieder musste sie sich vor Spießern erklären. Warum konnte man nicht einfach akzeptieren, dass es das Konzept des Hauses war, locker drauf zu sein und den Gästen ein Höchstmaß an Spaß, Sicherheit und Exklusivität zu bieten, ohne billig und abgefuckt zu wirken. Hier konnte man so richtig feiern, ohne am nächsten Tag Fotos von sich in der Zeitung zu sehen. Sie war davon überzeugt, dass auch das Personal zu dem Konzept passen musste, was sich in den letzten drei Jahren, in denen sie als Hotel-Managerin angestellt war, bezahlt gemacht hatte. Es war ein riesiger Aufwand, die Sicherheit und den Spaßfaktor zu garantieren, weshalb auch die Hotelpreise überdurchschnittlich hoch waren. Darüber hinaus konnte nicht jeder bei ihnen buchen, Sabrina war da sehr wählerisch. Gäste, die neu zu ihnen kamen, ließ sie überprüfen. Das war zwar nicht korrekt, aber das war ihr egal. Auf Rowdys und gewaltbereite Typen, die sich nicht im Griff hatten, konnte sie gerne verzichten. Sie hatte immer ein Auge darauf, dass die Gäste ihres Hotels ungefähr in derselben Altersgruppe waren, wodurch schon sehr viel Ärger abgewendet werden konnte. In den letzten drei Jahren hatte sich noch nie jemand über den Lärm beschwert.

„Haben Sie als Hotel-Managerin nichts dagegen, dass sich Ihr Personal mit den Gästen einlässt?“, wollte Anna wissen.

„Nein, was soll ich dagegen haben? Zufriedenes Personal ist gutes Personal. Was meine Leute in ihrer Freizeit machen ist mir egal, solange es keine Probleme gibt.“

Leo schüttelte den Kopf, das verstand er nun überhaupt nicht. Wahrscheinlich war er schon zu alt dafür. Er zog weitere Fotos aus seiner Mappe, und zwar von Julius Bernrieder, Benjamin Aschenbrenner und Tim Mahler. „Kennen Sie einen der Herren?“

Wieder wurden die Fotos genau studiert und gingen im Kreis herum. Alle murmelten ein „Nein“ oder „Kann sein“ und Sabrina gab Leo die Fotos wieder zurück.

„Es hilft vielleicht, wenn wir uns das Reservierungsbuch ansehen,“ schlug Sabrina vor und rannte auch schon los. Kurz darauf kam Sie wieder und überreichte Leo ein sehr sauberes, mit ordentlicher Handschrift geführtes Buch.

„Hier sind die Belegungen. Da normalerweise nicht mehr als eine Woche gebucht wird, kannst du dich auf Belegungen ab dem 5. Juni konzentrieren. Die Kopien der Ausweise sind in dieser Mappe. Die Nummer aus den Anmeldungen in dieser Spalte,“ Sabrina zeigte auf die vorletzte Spalte, in der eine dreistellige Nummer stand, “findest du hier den jeweiligen Ausweiskopien zugeordnet. Du kannst die Personen, nach denen du fragtest, mit den Eintragungen vergleichen.“

„Sind das alle Personen, die auf der Party waren?“

„Nein, das waren nicht alle. Die Party im Juni wird zwar von uns veranstaltet, aber sie ist eigentlich öffentlich. Jeder kann gerne mitfeiern, wenn er eine Eintrittskarte ergattern konnte. Zu unseren Hotelgästen kommen in der Regel noch einige Leute dazu, die mit dem Boot da waren. Die legen hier an, feiern mit, und übernachten auf ihren Booten. Von den Einwohnern von Sylt waren nur sehr wenige Leute dabei, das ist immer so.“

„Wie kann ich das verstehen?“

„Wir verlangen ziemlich viel Eintritt und auch die Getränke sind sehr teuer. Dadurch wollen wir die Party exklusiv halten und Schlägereien vermeiden, die durch zu viel Alkohol verursacht werden. Wir möchten auch möglichst vermeiden, dass sich Einheimische mit unseren Gästen und Partybesuchern anfreunden, das gibt nur Ärger. Ihr könnt euch vorstellen, dass sehr viel Neid aufkommt, schließlich sind unsere Gäste überdurchschnittlich wohlhabend. Und dann darf man die zwischenmenschliche Seite nicht außer Acht lassen. Unsere Gäste kommen hier her und wollen ihren Spaß haben, sonst nichts. Es gibt nur Probleme, wenn von einer Seite nur Spaß im Vordergrund steht, und die andere Seite auf eine Beziehung aus ist. Nein, es ist aus unseren Erfahrungen besser, wenn unsere Gäste und die Partybesucher unter sich sind.“

Leo war erstaunt über das fast schon spießig zu nennende Konzept. Er hatte sich eingestehen müssen, dass er Sabrina und das übrige Personal aufgrund ihres Äußeren und der lockeren Art völlig anders eingeschätzt hatte.

Er widmete sich wieder dem Reservierungsbuch zu. Er nahm sich zunächst die Seite vor, auf der die Eintragungen von Maximilian und seinen Freunden stand. Er wurde stutzig.

„Was bedeuten diese Kürzel, die in der letzten Spalte eingetragen sind?“

„Das sind interne Hinweise für uns. SZ heißt ganz banal schmutziges Zimmer. Dabei geht es nicht um Unordnung oder Schmutz, sondern bedeutet: der Kunde hat das Zimmer vollgekotzt. Sie werden verstehen, dass wir darauf nicht scharf sind. Ein D steht für Dieb, was bedeutet, dass der Gast geklaut hat. Dabei sind nicht die üblichen Handtücher, Aschenbecher, Bademäntel oder ähnliches gemeint, sondern dass derjenige einen unserer Gäste oder Partybesucher beklaut hat. In dem Fall reagieren wir sehr empfindlich. Die anderen Kürzel stehen jeweils für ähnliche Informationen, die aber keine so hohe Tragweite haben. Wir machen uns Notizen, die auch banal sein können, uns aber auffielen. Diese haben wir im Computer angelegt. Wenn wieder eine Reservierung reinkommt, können wir nachsehen, ob wir schon einmal negative Erfahrungen mit dem Gast gemacht haben. In dem Fall kann es vorkommen, dass wir auf den Besuch verzichten. Wenn sich aber der Kunde unter falschem Namen doch reinschummeln möchte, dann sehen wir es spätestens an der Kopie der Ausweispapiere, weil wir alle Kopien aufbewahren; zusammen mit den entsprechenden Kürzeln. Wer bei uns bucht, dem garantieren wir jede Menge Spaß und wir sind immer ausgebucht. Auch, weil es bei uns sehr, sehr wenig Ärger gibt, dafür sorgen wir schon bei der Buchungen.“

„Was machen Sie mit einem Gast, der sich während seines Aufenthalts unmöglich aufführt und Sie ihn loswerden wollen? Was passiert dann?“

„Dann muss er sofort seine Sachen packen, beziehungsweise umgehend die Party verlassen. Für solche Fälle haben wir einen Sicherheitsdienst, der uns quasi rund um die Uhr zur Verfügung steht. Der Sicherheitsdienst ist immer unauffällig in unserem Hotel und auch bei den Partys anwesend. Wir garantieren dadurch nicht nur die Sicherheit unserer Gäste vor Paparazzi oder ungebetenen Gästen, sondern schaffen uns mit deren Hilfe auch unliebsame Gäste sehr schnell vom Hals.“