Mandalay und Monaco

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Mandalay und Monaco
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Zwei kurz gefasste Geschichten über die fragwürdige Kunst, familiäre Beziehungskonflikte unter den Tisch zu kehren.

Impressum:

Copyright © Juli 2017

Text und Buchgestaltung: Ines Mandeau

Kontakt: imandeau@mailbox.org

Alle Rechte vorbehalten

Bildnachweis:

hoanggiapearl/commons.wikimedia.com

Verlag: epubli GmbH, Berlin

www.epubli.de

ISBN: siehe Verlagsangabe

1 Bald bin ich in Mandalay

Schwimmen

Im Zug nach Kreuzegg

Es ist finster

Kobolde

„Iss doch was!“

Laktatschlacht

Perlenkette, Wespennest

Siesta mit Soraya

Die Party steigt

Back on the road again

2 Zwei Bären und ein Partygirl

Waldesruh in Fontvieille

Diverse Einladungen

Schokotorte, Rosenkleid

Klimt oder Carmen?

Der Witwer und ...

… die Waisenfrau

Zwei Bären in Monaco

Geburtstagsgespenst zur Mitternachtsstunde

Im Rascasse war die Hölle los

Milchkaffee, ganz harmlos

Schwesternspiele

Beziehungsspektakel

Und noch ein Brief

1 Bald bin ich in Mandalay

Jeder erlebt schließlich nur einen Konflikt im Leben,

der sich immer nur anders vermummt

und anderswo heraustritt.

Rainer Maria Rilke

Schwimmen

Fertig.

Ich schließe alle offenen Dateien und melde mich vom Firmennetzwerk ab. Da vibriert mein Handy, das griffbereit neben der Computertastatur liegt, und zeigt auf dem Display an: Emmerich calling – na bravo! Dieser Feigling! Ich atme langsam ein, bis meine Bauchdecke spannt, und lasse dann die Luft zwischen den gespitzten Lippen ausströmen, ebenso langsam, damit jene paar Sekunden gewonnen sind, die meine Stimme braucht, um zweifelsohne sachlich zu klingen: „Planck.“

„Hey du, hey, ich bin’s. Wie geht es dir?“

Sehr originell. Fällt ihm nach der komischen Funkstille nichts Besseres ein als diese ausgelutschte Allerweltsansage?

„Gut, bestens. Heute ist mein letzter Arbeitstag. Ab Montag bin ich im Urlaub. Vielleicht erinnerst du dich ja an mein Reiseprogramm.“

„Klar. Ich vergesse nie was. Du fährst weg und deshalb rufe ich an. Sag, können wir uns vor deinem Abflug sehen? Morgen ab sechs, okay? Ich habe dienstfrei im Betrieb und auch sonst ist alles im grünen Bereich“ – er redet hastig und verhaspelt sich beinahe, keine Sorge Richi, ich lege schon nicht auf – „und ich dachte, wir zwei zusammen sollten mal wieder eine Trainingseinheit hinblättern? Wie wär’s mit einer knackigen Nummer draußen im Mallsee?“

„Why not?“, entgegne ich cool und überschlage in Gedanken meinen Zeitplan. Um fünf Uhr muss ich am Bahnhof sein, das ist in knapp drei Stunden und demnach ginge sich eine Runde Schwimmen problemlos aus, allerdings müsste ich jetzt gleich losziehen. Genau, das mache ich. Wozu soll ich den Nachmittag hier im Büro absitzen? Die laufenden Projekte sind abgearbeitet und die Vertretung für die kommenden zwei Wochen meiner Abwesenheit ist eingewiesen. Ich kann meinen Urlaub reinen Gewissens ein bisschen verfrüht antreten und, falls sich jemand aufregt, auf meine flexiblen Arbeitszeiten pochen.

Well then, Ma’am Planck, you officer soon-to-be: Abmarsch zum Mallsee und Schwimmtraining mit Richi, einem meiner Kollegen aus dem Sportverein. Damit der Knabe sich nicht allzu glücklich schätzt, sein Date mit mir ohne Hürde und Hemmnis auf Anhieb ergattert zu haben, stelle ich ihn vor eine ultimative Alternative: „Aber es geht nur jetzt sofort, oder gar nicht.“ Kriegt er das hin?

„Klar, sofort. Ready to go. Kanone bereit für den Startschuss.“

Hoppla, das war ja tatsächlich ein Anflug von Originalität. Trotzdem, doofer Spruch. Mein Sportsfreund ist ein wenig befangen, wie mir scheint. Ich gebe die Geschäftige und sage an: „Ich hole mein Schwimmzeug aus der Wohnung und bin spätestens um drei Uhr am See. Wir treffen uns vor dem Holzsteg bei der Trauerweide, alles roger?“ Ich bin es, die hier die Pistole ansetzt; die Kanone, die Knarre, die Puffn, you name it. Mein Buddy soll sich nach mir richten und nicht immer bloß seiner Familie nachspringen. Der gute Mann ist verheiratet, miserabel verheiratet, wie er mir gegenüber beteuert, und er hat zwei kleine Kinder, Schreihälse, meint er, und er nennt diese häuslichen Verhältnisse „mein Hobby“, was ich nicht verstehe: Meine Familie ist mein Hobby? Etwa ungefähr wie: Triathlon ist mein Hobby? Woran misst mein Kumpel das, etwa am Zeiteinsatz? Er und manch anderer Athlet aus unserem Verein absolvieren ein Training von wöchentlich mindestens zehn, teils mehrstündigen Einheiten neben einem Fulltime-Job und zwischen den Kind und Kegel-Kisten. Dennoch ist keiner von denen ein Profiwettkämpfer. Wir sporteln zum Vergnügen und jobben für Moneten, oder? Ziemlich verzwickte Konstellationen, aber wie dem auch sei, heute läuft die gewöhnlich komplizierte Terminkoordination mit meiner Zuckerschnute Richi so glatt wie Honig aufs Butterbrot schmieren.

„Drei Uhr, okay, alles roger!“, sagt er und fügt mit schmelzendem Timbre hinzu: „Ich liebe es, wie flott du bist!“ Nun ist der alte Süßholzraspler hörbar in Form.

„Na dann, raff dich hurtig, and see you soon, Rocket!“

Irgendwie bin ich erleichtert. Nicht, dass es mir etwas ausgemacht hätte, ohne Nachricht von Richi in die Ferien abzurauschen, doch unser merkwürdiges Auseinandergehen neulich und das anschließende Schweigen im Walde hängen mir nach, obwohl ich die Angelegenheit mit dem Etikett forget it versehen und in eine unzugängliche hintere Ecke meines Oberstübchens abgeschoben habe. Ich behaupte, es lohnt sich nicht, Beziehungsproblematiken breitzuwalzen und wiederzukäuen oder gar, Schreck aller Schrecken, auszudiskutieren. Davon konnte ich nie profitieren und ich habe auch heute nicht die Absicht, Richi darauf anzusprechen, warum er, ohne mir ein Wort davon zu sagen, am Triathlonbewerb in Monte-Carlo teilgenommen hat. Normalerweise nämlich informieren wir uns gegenseitig über die jeweiligen Anmeldungen zu den Wettkämpfen.

Eigentlich hätte ich ihn vorhin „wie du mir, so ich dir“ im Regen stehen lassen können – „Sorry Richi, ich muss los, ruf mich in zwei Wochen an“ –, doch ich will nicht nachtragend sein und beschränke mich darauf, Revanchegelüste auf dem sportlichen Feld auszufechten und besser gegen Richis Kampfzeiten anzutreten als an seinen Charakterschwächen herumzudoktern. Leider sind meine athletischen Leistungen nicht so stark wie seine, was indessen keine Schande ist, denn Rocket, wie sein clubinterner Name lautet, zündet in den Spitzenrängen der Klasse Elite 2, zu der ich nicht gehöre; und selbst wenn ich in dieser Liga mitmischte, ich käme wegen meines Geschlechtes nie an Richis Bestzeiten heran. Männer sind schneller als Frauen. Unfair, aber wahr.

Freundinnen flüsterten mir ungefragt, unser siegverwöhnter Strahleheld sei bei seinem Tri-Abenteuer in Monaco formidabel eingeknickt, er habe elend versagt und schäme sich derartig, dass er seither den Vereinsaktivitäten ferngeblieben sei. Vermutlich trainiere er geheim und im Alleingang; Sicheres wisse man nicht.

Es ist nicht das erste Mal, dass Richi, der King unter uns Adrenalinjunkies, eine Zeitlang abtaucht, ohne seine Gründe dafür preiszugeben; eine halbseidene Aktion, finde ich, die wilde Spekulationen schürt über Motive und Konflikte und dergleichen Psychohaarespaltereien. Man munkelt und mutmaßt und kommt zu keinem Ergebnis, warum jemand so und nicht anders handelt. Ich halte mich raus und habe Richi nach seinem Verschwinden auch nicht angerufen. Und nun ist er wieder da, ausgerechnet vor meinem Abflug in die metropolitane Fremde. Na, herrlich.

Ein letzter prüfender Blick auf meinen Arbeitstisch: Alles ist erledigt, alles aufgeräumt und ich spüre kein Bedauern, eine Weile nicht in dieser schwülen Schreibstube zu sitzen. Eher schmerzt mich meine Abmeldung vom Sanitäterdienst in der Rotkreuz-Dienststelle, wo ich ehrenamtlich tätig bin und so etwas wie eine Heimat gefunden habe. Ihr kehre ich für einen reinen Spaßurlaub den Rücken und das macht mir ein klein wenig zu schaffen, doch ich werde bald wieder da sein, versprochen.

 

Die Kollegen im Büro sind rasch verabschiedet. Ich flitze mit dem Rennrad los Richtung Mini-Downtown zu meiner Wohnung, ziehe mich dort um, packe den Neoprenanzug in meinen Rucksack und bin hundert Schnaufer später auf dem Rad stadtauswärts nach Osten unterwegs. Die verknäulten Gassen und Straßen zwischen Zentrum und Mallsee kenne ich blind, da unzählige Male hin- und hergeradelt und, locker vom Hocker, im Trainingsplan den Bike-Einheiten zugeschrieben, die ich strenggenommen auf einer extra ausgewiesenen Rennstrecke zu absolvieren hätte. Ich nehme das Sporteln nicht so eng. Hauptsache mobil bleiben und radeln, laufen und natürlich schwimmen, meine Lieblingsdisziplin. Mit oder ohne Richi hätte ich nach Büroschluss ein paar Bahnen runtergekrault, jawohl, bevor ich spätnachmittags aufbreche zur Visite nach Kreuzegg.

Es ist das letzte Septemberwochenende und überaus warm. Der Sommer nimmt kein Ende dieses Jahr und ich wünschte, er währte ewig. Von Weitem sehe ich Richis rotes Auto unter der Trauerweide leuchten. Er steigt aus dem Wagen, sieht mich heranpreschen und breitet seine Arme aus wie Jesus Christ Superstar, als ich hart vor ihm abbremse.

„Hey, Cilli, neuer Rekord, was?“

„Hey, du, und wo ist dein Bike, du fauler Sack?“ Unser Kumpeltalk funktioniert tadellos. Richi grinst und schneidet Grimassen, als er mich an den Schultern packt und freundschaftlich schüttelt. Vielleicht mag er mich deswegen, weil ich ihm nie eine offene Szene mache. Davon kriegt er genug von seiner Gattin geliefert. Ich hingegen, das easygoing Betthupferl für günstige Gelegenheiten, bin über solches Ehejochgenörgel erhaben. Ehrlich.

Es gibt Wangenküsschen, mehr nicht. „Los geht’s, meine Zeit drängt.“ Ich widme mich der Rucksackkramerei und habe hoffentlich verständlich mitgeteilt, dass nach dem Schwimmen kein Termin angesetzt ist für ein Schäferstündchen. Ich rolle die Neoprenpelle auf meine Haut, halb im Sichtschutz von Richis Auto und damit dem näheren Blick einer Frau entzogen, die auf der Uferpromenade einen Dackel an der Leine spazieren führt. Bestimmt bewundert sie den Adoniskörper des Mannes an meiner Seite. Richi ist der allerattraktivste Athlet in unserem Zweihundert-Mann-Verein. Das ist glasklar.

Neo zu, Kappe auf, angespuckte Brille drüber und „Yeah, yeah, yeah!“ Ich stürme los und bin als Erste im See, tauche ein und gleite los und bin eins mit dem Atem und dem Zug und dem Schlag, und höre das Gluckern und Blubbern des Wassers, ein Rauschen und Raunen, als sängen mir Nixen ein zärtliches Lied.

Richi gelangt ins Sichtfeld; er hat auf meine Höhe nachgezogen und stellt sich fairerweise auf mein Tempo ein. Wir kraulen Schulter an Schulter und mit synchronem Armruder hinüber zum anderen Ufer, drehen knapp davor links bei und nehmen in großem Bogen Kurs zurück zur alten Weide. Perfekt. Als ich aus dem Wasser steige, fühle ich mich wie ein Buddha nach dem Bade.

Schweigend ziehen wir uns um. Ich hänge den Neopren über die offene Autotür und verstaue den nassen Badeanzug und die Gummikappe in der Seitennetztasche meines Rotkreuz-Rucksackes. Ich fahre mit den Fingern durch meine geplätteten Haare und schüttle die Krause in alle Richtungen. Richi beobachtet mich mit seinem gewissen Glitzerblick. No way, my dear. Nur weil du willst, will ich noch lange nicht.

Aber auf einen kleinen Plausch erbarme ich mich doch. „Ich habe gehört, du bist in Monaco rausgeflogen?“

Gemeine Frage. Ich kann sie mir erlauben, denn ich gelte als Vereinsmutti und daher jene Instanz, der gegenüber die Burschen Rechenschaft über ihre misslungenen Heldentaten ablegen: face to face, ganz unter uns. Wenn sie nach einem Wettkampf mit gestutzten Gockelfedern im Club angeflattert kommen und in meinen Armen landen, sozusagen, dann sehen sie nicht länger die gewohnte sexy Hexy vor sich, sondern eine sizilianische Mamma, deren Lebensaufgabe darin besteht, ungeratenen Söhnen die Leviten zu blasen. Mein Alter ist schließlich kein Geheimnis. Ich bin sechsundvierzig Jahre alt und damit deutlich über dem Durchschnittsalter unserer Truppe, was mir eine Art Seniorstatus verschafft zusammen mit der Tatsache, seit mehr als einem Jahrzehnt ununterbrochen Mitglied im selben Verein zu sein. Ich habe eine Menge Triathlonerfolge vorzuzeigen. Das soll mir erstmal eine Mamma nachmachen.

Richi spannt seine Muskelpackerl und reckt sich auf die volle Länge von einen Meter neunzig. Er streicht seine braunen Haare leicht schräg aus der Stirn hoch nach hinten, damit sie in Form korrekter Robbie-Williams-Tolle trocknen. Seine Augen schweifen über den See.

„Die Show in Monaco? Hm, du weißt sicher eh schon Bescheid. Fakt ist, ich habe die Radstrecke unterschätzt. Unglaublich, wie extrem tricky die Bergerl an der Côte d’Azur sind. Das fasst du nicht!“

„Du hast die Streckeninfos vorab zur Verfügung. Höhenmeter, Steigung, Kurven. Hast du dich nicht gründlich genug vorbereitet?“ Im Grunde hasse ich meinen Mutti-Ton.

„Doch, hab ich. Aber diese Tour war der Hammer. Ein mörderischer Kurs, glaub mir! Krass, und dann bin ich aus der Spitzkehre geflogen, zum Glück hinaufwärts und ins Dorngestrüpp. Auf der anderen Straßenseite wäre ich glatt ins Nirwana gesegelt. Das war nahe der Ecke, wo Grace Kelly mit ihrem Wagen abgestürzt ist. Haben mir die Girls von der Support Crew erzählt. Entzückende Mädels waren das übrigens.“

„Hast du dir weh getan?“ Oh Mamma mia!

„Ach woher. Ein paar Schrammen, nichts Schlimmes. Aber das Bike war hinüber und ich disqualifiziert. Aus die Maus. Hat mich total geärgert. Trinken wir ein Bier? Ich habe was dabei.“

Na gut, ein Bier geht sich zeitlich aus. Richi fischt zwei Flaschen aus den Tiefen des Kofferraums, quetscht den Kronenkork in unnachahmlich männlicher Manier vom Glasrand und reicht mir eine Flasche, aus der heller Schaum blubbert und über meine Finger rinnt. Ich schlürfe das Zeug mit geschürzten Lippen auf – eine bacherlwarme Sprudelsuppe.

Wir setzen uns Schulter an Schulter und relativ schief an den Stamm der Trauerweide, schlenkern die Bierflasche in der Hand und lassen unsere Gesichter von der Sonne bescheinen. Ich überlege flüchtig, ob ich Richi auf sein Schweigen die letzten Wochen hindurch ansprechen soll, da fragt er aus heiterem Himmel: „Fährst du wirklich allein nach Birma?“

„Myanmar heißt das jetzt. Ich fliege nach Mandalay. In Etappen, versteht sich. Und ja, ich bin allein auf Achse. Wie immer.“

„Ist dort drüben nicht Terror und Drogen und so Katastrophen?“

„Ach Quatsch. Nicht mehr als sonst wo.“ Richi hat, im Gegensatz zu mir, Europa selten verlassen und wenn, dann als Pauschaltourist, der faule Lümmel! Und hätte er nicht seine organisierten Ausflüge zu den Sportevents, käme er noch weniger raus aus seiner netten Komfortzone. Ich halte ihn für weltunkundig und einen jener Heimhocker, der sich vor der Ferne fürchtet und ernsthaft glaubt, abseits der erprobten Pfade lauerten grässliche Gefahren, denen primär weibliche Alleinreisende ausgesetzt seien; und ich meine, das ist nichts weiter als eine speziell männliche Fantasie. Mein Buddy ängstigt sich völlig unnötig um reisende Singlefrauen, was ich oft genug bewiesen habe, indem ich von meinen vielen Ausflügen in die große Welt jedes Mal heil zurückgekehrt bin und wahrlich, in abartigen Gegenden habe ich mich durch die Büsche geschlagen. Es ist nur eine Frage des Willens. Durchbeißen muss man sich, that’s all.

Richi sieht mich zweifelnd an, dann wendet er sein Gesicht wieder der Sonne zu und setzt die Bierflasche an sein schnuckeliges Mäulchen. „Passt eh gut auf“, sagt er nach ein paar schmatzenden Schlucken.

Ja, ja. Ich genieße die Wärme auf der Haut, halte die Augen geschlossen und sehe den tanzenden Kringeln zu und den feurigen Kreisen, die das Sonnenlicht auf meinen Lidervorhang zaubert. Die goldenen Pagoden von Mandalay! Die will ich unbedingt begucken. Und den Irrawaddy-Strom! Und, und … und übermorgen Abend geht es los. Vorher jedoch muss ich kurz nach Kreuzegg zu meinen Eltern.

Richis Stimme unterbricht meine Gedanken. „In Monaco war es lässig“, sagt er mit routinierter Lässigkeit.

„Ach ja? Monaco?“ Ich reibe meinen Rücken am Stamm der Weide, trinke die Flasche leer und lege sie zur Seite. „Dieses Schicki-Micki-Kaff? Sorry, so was interessiert mich nicht im Geringsten.“ Nein, wahrhaftig nicht. Und das Bier war wirklich zu warm.

Richi scheint mich nicht gehört zu haben. Er fummelt in den Schlappertaschen seiner Cargohose und befördert ein mächtiges Smartphone an den Tag. „Ich habe gefilmt, Moment, Sekunde.“ Hektisch wischt er auf dem Display seines Megagerätes hin und her.

Ich bin noch nicht fertig. „Diese TriStar111-Typen sind gierig und versnobt. Das Label hält sich nicht lange, das kann ich dir prophezeien.“ Ich fange an auszuholen und meinen Unmut über diese Rennserie loszuwerden, die ich nach einer einmaligen Teilnahme im vorletzten Sommer in schlechter Erinnerung habe. Wir Athleten hatten ein saftiges Startgeld zu berappen und bekamen zum Dank eine unsympathische, sterile Abfertigung, als wären wir Maschinen und nicht Menschen mit dem verdammten Bedürfnis nach einem Tröpfchen Balsam für die gequälte Wettkampfseele, und …

Richi grätscht mir rein ins Wort. „Ich fand’s spannend“, sagt er und legt los mit Daten und Fakten zu jener Highflyer-Veranstaltung in Monaco, an der dabei zu sein ihm offenbar ungemein wichtig gewesen ist. Plötzlich weiß ich auch warum, als mitten in meines Buddys Redeschwall der beiläufige Satz fällt: „Nach meinem Bike-Desaster ging Mona shoppen und ich wartete derweil im Café de Paris.“

Mona ist Emmerichs Ehefrau und hat mit konsequenter Körperertüchtigung so wenig am Hut wie ich mit dem Tüfteln an quantenmechanischen Wellenfunktionen, nämlich null Komma null. Dafür ist sie blond und kennt stets den angesagten Haarefarbton der Saison. Sie ist im Alter meiner Nichten und wusste früh, was sie wollte: einen Traummann samt Traumhaus mit Wintergarten und zwei putzige Kinderchen. Das bekam sie auch. Nun durfte sie also neulich ihren Heldengatten an die Côte d’Azur begleiten.

„Ich hab’s!“, ruft Richi und neigt den Bildschirm halb zu mir. „Mann, diese Superflunder! Ist das nicht ein Wahnsinn?“

Ich sehe, wie eine rote Motorhaube auf mich zukommt. „Ein Auto?“

„Mensch Cilli, das ist kein Auto, das ist ein Ferrari! Ist das nicht geil? Hör mal, dieses Soundpaket!“ Er zieht den Audioregler auf maximale Lautstärke. „Das war vor dem Casino Monte-Carlo“, erklärt er eifrig. „Kam dort eine Nobelkarosse nach der anderen um den Palast geritten. Eine nach der anderen! Diesen Maranello-Flitzer hier hab ich echt spitze abgefilmt. Mann, was für ein Geschoss!“

Ich rede gern und viel mit Männern, aber wenn es um Autos geht, bin ich so unfähig wie unwillig, einen Beitrag, geschweige denn einen bedeutsamen Beitrag, zur Fachsimpelei zu leisten. Kraftfahrzeuge sind mir gleichgültig, ich besitze keines, und meine praktische Erfahrung zu dem Thema beschränkt sich darauf, dass ich einen Rotkreuz-Rettungswagen zu lenken imstande bin – und zwar gekonnt tatütata und nicht selten im Kampf um Sekunden, damit ich eine Lebendeinlieferung des Patienten in das Krankenhaus hinkriege. Welche Automarke hat unser Einsatzwagen? – Keine Ahnung.

Richi schwatzt von Type und Baujahr und starrt wie verhext auf den Bildschirm. Mir reicht’s. Ich will aufstehen und Tschüssiküssi sagen, da bleibt mein Blick an der laufenden Videoszene hängen. Sehe ich richtig?

Träume ich?

Das gibt’s doch nicht!

„Stopp!“, brülle ich. „Halt an!“

Richi zuckt erschrocken zusammen und tut – nichts. „Halt den Film an!“, wiederhole ich. Wie kann ein Mann, der einen Marathon unter drei Stunden läuft, dermaßen lahmarschig sein? Ich will ihm schon sein Ding entreißen, da kapiert er endlich.

„Ruhig Blut“, sagt er. „Was willst du denn sehen?“

„Die Szene vorhin. Spul zurück. Wo eine Frau aus dem Auto steigt. Zeig her!“ Mir pumpert’s an die Rippen, während Richi auf dem Display herumwischiwaschelt.

„Okay.“ Er hält mir sein Smartphone vor die Nase. „Meinst du die?“

Film ab: Das rote Auto rollt auf die Handykamera zu und bleibt am Straßenrand stehen, an den eine Terrasse mit Stühlen und Bistrotischen anschließt. Die Beifahrertür öffnet sich und heraus schwingt der Modelbody einer Frau in einem schneeweißen knielangen Kleid, das die gertenschlanke Figur vorzüglich zur Geltung bringt. Regisseur und Kameramann Richi zoomt genüsslich ran – natürlich, der alte Casanova – und verharrt im Close-up auf dem Gesicht. „Stopp!“, schreie ich und dieses Mal ist mein Buddy auf Zack: und Standbild. Eine Großaufnahme von azurblauen Augen und Herzkirschenmund, und üppigen Locken aus sattbraunem Haar.

 

„Steiler Zahn“, sagt mein Sportsfreund und rammt seinen Ellbogen in meinen Oberarm. Der herbe Knuff macht mich schlagartig nüchtern.

„Das ist Lena“, entgegne ich cool, „meine Schwester.“

Ich kann mich nicht täuschen. Es sei denn, es existierte eine Doppelgängerin meiner Schwester. Nein, unmöglich, ein solches Gesicht gibt es nur einmal auf der Welt, und außerdem: „Sie wohnt in Nizza.“

„Echt? Du hast eine Schwester in Nizza? Und die spaziert mir in Monte-Carlo vor die Linse? Das ist der Hammer!“ Richi ist neugierig. Er lässt das Video weiterlaufen. Der „steile Zahn“ lacht nach links über das Autodach hinweg und entzückt damit den sicher ebenfalls ausgestiegenen Chauffeur, der bedauerlicherweise nicht zu sehen ist. Kameramann Richi hält auf die Lady, die die Wagentüre zuwirft, sich umdreht und höchst elegant die Stufen einer breiten Treppe hinaufstöckelt, die zum Eingang des Gebäudes im Hintergrund führt. Dort verschwindet das weiße Kleid in das dunkle Innere eines von livrierten Männern gesäumten Portals. Gezielter Fokus auf die goldenen Lettern am schmiedeeisernen Vordach: Casino Monte-Carlo. The End.

„Das hab ich einwandfrei in den Kasten gekriegt. Super Gerät, mein neues Smarty. War das wirklich deine Schwester? Soll ich dir das Video kopieren?“

„Nicht nötig.“ Mein Hintern tut weh und die Borke der Trauerweide sticht in meine Wirbelsäule, und meinem Hirn schießt plötzlich ein, oh my God!, ich Dussel: „Wie spät ist es?“

„Gong! Es ist sechszehn Uhr, vierzehn Minuten und zwanzig Sekunden“, gibt Rocket-Richi die automatische Zeitansage.

Ich springe vom Boden hoch. Mein Zug! Lena hin und Richi her und Mona möge glücklich sein mit einem Ehemann, der leidenschaftlich fremde Betten frequentiert – ich muss los, und zwar pronto. So schnell kann mein Jüngling nicht mucksen, wie ich den Neoprenanzug im Rucksack verstaut und das Rad startklar habe. „Mein Zug wartet nicht“, erkläre ich Richi, der, mit dem Smartphone in der Hand, unschlüssig rumsteht und seine flotte Cilli im Einsatzmodus beobachtet.

„Soll ich dich zum Bahnhof bringen?“, fragt er.

„Danke, nein, ich radle, siehst du doch.“

„Also treffe ich dich nicht mehr?“

„Heute nicht, nein. Ich reise zu meinen Eltern. Sagte ich das nicht? Mein Vater hat Geburtstag und alle tanzen an. Familie hat Vorrang, das kennst du ja, mein Lieber, oder?“ Ich kann mir hin und wieder kleine Spitzen gegen meine verheirateten Sportkollegen nicht verkneifen. Die sind trainiert genug im Einstecken und verkraften auch mal eine scharfe Zunge. Wie lautet unser inoffizielles Vereinsmotto? – Nichts anbrennen lassen.

„Schade“, meint er. „Ich habe dieses Wochenende sturmfreie Bude. Mona ist mit den Kids bei ihrer Mutter. Mann, wir könnten das ganze Wochenende zusammen …“

„Emmerich, renk dich ein“, unterbreche ich ihn. „Geh in den Club. In der Bude ist bestimmt was los. Ich bin jetzt weg. Bye-bye and see you!“ Rennbrille auf, ein kurzer Wink über die Schulter, dann tret ich die Pedale und schau in die Sonne nach vorn. Sie steht tief und strahlt so warm als wär’s ein milder Juliabend.