Bilder - Schilder - Sprache

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Ilona Schulze

Bilder – Schilder – Sprache

Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen

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© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-8233-8298-0 (Print)

ISBN 978-3-8233-0147-9 (ePub)

Inhalt

  Vorwort

  1 Einleitung

 2 Linguistic Landscapes2.1 Eine Standortbestimmung2.2 Der öffentliche Raum als Bühne der LL2.3 Der historische Kontext: LL, Ökonomie, Citybildung, Werbung

  3 Linguistic Landscapes und Multimedialität 3.1 Typografische Aspekte 3.2 Text und Bild 3.3 Der historische Kontext

 4 Untersuchungsraum und Methoden4.1 Der Untersuchungsraum4.2 Datenbasis4.3 Methoden

 5 Analysen5.1 Struktur des Untersuchungsraums5.2 Sprache, Sprachen, Schilder5.2.1 Basisdaten Sprache5.2.2 Basisdaten Sprachen5.2.3 Schildformen, Farben, Grafik5.2.4 Handel5.2.5 Dienstleistung5.2.6 Gastronomie5.2.7 Kirche5.2.8 Kultur5.2.9 Infrastruktur5.3 Bild, Schilder, Sprache: Interaktion im öffentlichen Raum5.3.1 Schilder und Räume5.3.2 Sehflächen: Varianten und Aneignung5.3.3 Bilder5.3.4 Interaktionsstrukturen

  6 Fazit

  7 Abbildungen

  8 Tabellen

  9 Diagramme

  10 Bildverzeichnis

  11 Bildnachweis

  Bibliografie

Vorwort

La cité est un discours, et ce discours est véritablement un language: La ville parle à ces habitants, nous parlons notre ville, la ville où nous nous trouvons, simplement en l’habitant, en la parcourant, en la regardant. (Barthes 1967: 12).

Dieses Zitat von Roland Barthes kann als Leitmotiv der vorliegenden Arbeit verstanden werden, die im Rahmen des von der Fritz-Thyssen-Stiftung von April 2016 bis April 2018 mittels eines Forschungsstipendiums geförderten Projekts „Bilder, Schilder, Sprache – Empirische Studien zur Text-Bild-Semiotik im öffentlichen Raum“ entstanden ist. Die Arbeit verortet sich so im Forschungsfeld einer Sémiologie de l’espace, wobei unter espace ‚Raum‘ mit Henri Lefebvre (1974) ein dynamischer, sozial, kulturell und ökonomisch bestimmter Raum verstanden wird. Einer der bekanntesten Versuche solche urbanen Räume impressionistisch zu erschließen stammt vom französischen Autoren Georges Perec. In seinem Text Tentative d‘épuisement d‘un lieu parisien (1975) listet er Ausschnitte eines „inventaire de quelques-unes des choses strictement visibles“ auf, also Momentaufnahmen, die er ausgehend von einem Tabac an der Place Saint-Sulpice (Paris) am 18. Oktober 1974 gemacht hatte. Vorgefunden hatte er unter anderem:

— Des lettres de l’alphabet, des mots « KLM » (sur la pochette d’un promeneur), un « P » majuscule qui signifie « parking », « Hôtel Récamier », « St-Raphaël », « L’épargne à la dérive », « Taxis tête de station », « Rue du Vieux-Colombier », «Brasserie-bar La Fontaine Saint-Sulpice », « P ELF », «Parc Saint-Sulpice ».

— Des symboles conventionnels : des flèches, sous le « P » des parkings, l’une légèrement pointée vers le sol, l’autre orientée en direction de la rue Bonaparte (côté Luxembourg), au moins quatre panneaux de sens interdit (un cinquième en reflet dans une des glaces du café).

— Des chiffres : 86 (au sommet d’un autobus de la ligne n° 86, surmontant l’indication du lieu où il se rend : Saint-Germain-des-Prés) , 1 (plaque du n° 1 de la rue du Vieux-Colombier), 6 (sur la place indiquant que nous nous trouvons dans le 6e arrondissement de Paris).

— Des slogans fugitifs : « De l’autobus, je regarde Paris » (…) (Perec 1975: 10).

Perec spricht einfach nur von einem inventaire, doch kann davon ausgegangen werden, dass er diesem „Inventar“ auch Bedeutung(en) zugewiesen hatte. Ganz im Sinne des obigen Zitats von Roland Barthes kann also vermutet werden, dass die in diesem Inventar aufgelisteten Einheiten zu Georges Perec gesprochen hatten. Entscheidend ist, dass Perec dabei etwa im Gegensatz zu Michel Butor dem Sprachlichen hierbei nicht das Primat gibt, auch wenn er das Sprachliche zuerst anführt. Auch der Schriftsteller Michel Butor nimmt zunächst eine globale Perspektive ein, wenn er sagt: „[L]a ville peut être considérée comme une œuvre littéraire“ (Butor 1982: 36), doch schränkt er in einem früheren Text ein: „Par texte de la ville j’entends d’abord l’immense masse d’inscriptions qui la recouvre“ (Butor 2006 [1974]: 567). Butor kann mit dieser Pointierung des (In-)Schriftlichen als Vorläufer derjenigen betrachtet werden, die versuchen die ‚sprachliche Landschaft‘ (Linguistic Landscape) eines (vornehmlich urbanen) Raums zu erschließen, wobei aber Landschaft eigentlich als übergeordneter Begriff zu verstehen ist: Es geht um die Systematik aller sensorisch (vornehmlich visuell) erfassbaren Einheiten eines definierten Raums. Dem Begriff Landscape ist also ein multimodales Moment inhärent, was zugleich bedeutet, dass das Lesen solcher Räume – wie Henri Lefebvre (1986: 167) betont – über ein Deschiffrieren und Dekodieren unterschiedlicher, aber mit einander interagierender Zeichensysteme verläuft. Es handelt sich demnach um „un code à la fois architectural, urbanistique, politique, langage commun aux habitants des campagnes et des villes, aux autorités, aux artistes, permettant non seulement de ‘lire’ un espace mais de le produire“ (Lefebvre 1986: 14). Die sémiologie de l’espace verkörpert sich folglich in multimodalen ‚semiotischen Landschaften‘ (Semiotic Landscapes), die – wie der französische Landschaftsarchitekt René Pechère formuliert hat- sowohl durch eine grammaire als auch durch ein vocabulaire ausgezeichnet sind (Pechère 1995).

Natürlich sind solche (besonders urbane) Landschaften (im Sinne von espace) dynamische Ensembles, wobei den Menschen, die sich in ihnen bewegen, eine besondere Rolle zukommt. Hall (2009: 579) betont dabei sicherlich zurecht: „[L]ocal lives and biographies take shape not only in, but with place, such that the two are run together.“ Dies gilt auch für die Semiotik öffentlicher Räume: Eine komplett menschenleere Fußgängerzone erhält ein anderes semiotisches Gesicht als wenn sie vorweihnachtlich durch tausende von Menschen bevölkert wird. Um solche im Grunde dynamischen Räume aber einer Deskription zugänglich zu machen, ist es notwendig, dem Heraklit’schen πάντα ῥεῖ vorläufig Einhalt zu gebieten: Ebenso wie in den Sprachwissenschaften das Systematische als statische Größe von der Dynamik des tatsächlichen Sprachgebrauchs getrennt wird, ist es sinnvoll, auch die Dynamik semiotischer Landschaften vorläufig, also heuristisch mittels eines snap shot anzuhalten, um sie überhaupt beschreibbar zu machen.

Genau diese Art einer Momentaufnahme ist in der vorliegenden Arbeit gegeben. Als Räume wurden eine Fußgängerzone und ein Einkaufszentrum (Shopping Mall) in München abgesteckt. Für diese wird eine systematische Analyse im Sinne der Sémasiologie de l’espace erarbeitet, die auf einer umfänglichen Foto-Dokumentation des Erhebungsraums basiert. Ganz im Sinne des Verfahrens von Georges Perec werden die dokumentierten Einheiten nach Faktoren geordnet, die sich in den drei Termini Bilder, Schilder und Sprache verkörpern. In der Tradition der Linguistic Landscape-Forschung wird zwar der Modalität Sprache (in Schrift) ein eigenständiger Wert beigemessen, doch ist zugleich angestrebt, den in der Linguistic Landscape-Forschung gängigen Fokus auf Sprache zu relativieren, indem dieser Faktor in ein multimodales Geflecht (Text im etymologischen Sinn) semiotischer Verfahren integriert wird, wodurch sich Zeichen (signs) im öffentlichen Raum in den Worten von Susanne Göpferich (1995: 56) als „thematisch und/oder funktional orientierte, kohärente (…) sprachlich-figürliche Komplex[e]“ verkörpern. Diese Perspektive bedeutet natürlich eine Annäherung an bildlinguistische Forschungen, wobei hierunter oft genug eher eine methodische als eine gegenstandsbezogene Perspektive gemeint ist. So deuten zum Beispiel Klemm & Stöckl (2011: 11) ein gewisses Primat der Linguistik an, wenn sie feststellen „dass die Sprachwissenschaft mit ihren Theorien, Methoden und Erkenntnisinteressen sehr wohl einen genuinen Beitrag zu einer inter- und transdisziplinären Bildwissenschaft leisten kann und auch leisten sollte.“ Allerdings transzendieren Forschungen zu Semiotic Landscapes in der Regel das Moment Sprache. So definiert etwa Janina Wildfeuer (2017: 191) „ auch multimodale Artefakte mit wenig oder ganz ohne sprachlichen Anteil als Text.“

 

In der vorliegenden Arbeit werden die semiotischen Landschaften einer Fußgängerzone und einer Shopping Mall in München also sowohl quantitativ als auch qualitativ dahingehend beforscht, dass die Systematiken und internen Strukturen derjenigen semiotischen Verfahren sichtbar werden, mittels derer die beiden Räume mit Passanten kommunizieren. Damit fühlt sich die Arbeit einem ‚semiotischen Kontextualismus‘ verpflichtet, der zudem über das rein Synchrone hinaus auch in großem Umfang auf diachrone Momente abhebt. Ebenso wie Sprache als Traditionssystem verstanden werden muss, sind auch multimodale semiotische Systeme in den Traditionen des entsprechenden Raums (im Sinne von espace) eingebettet und vorstrukturiert. Dementsprechend müssen aber synchrone Spezifika in Rechnung gestellt werden, die sich in den sozialen, kulturellen, architektonischen, infrastrukturellen und ökonomischen Mustern des entsprechenden öffentlichen Raums abbilden bzw. diese mit konstituieren.

Natürlich kann ein solches Unternehmen niemals vollständig sein. Das liegt zum einen an der oben erwähnten Dynamik der öffentlichen Räume in semiotischer ebenso wie funktionaler Hinsicht. Zum anderen können semiotische Landschaften und ihre grammaire bzw. ihr vocabulaire unterschiedliche Lesarten haben, die sich etwa durch das biographische, diastrate oder eventuell auch diatope Profil des jeweiligen ‚Lesenden‘ ergeben können. Dennoch kann davon ausgegangen werden, dass die in die Arbeit eingebrachten Generalisierungen nicht nur Abbildungen einheitlicher Verfahren des Schreibens multimodaler Texte sind, sondern auch globalere, um nicht zu sagen tendenziell universelle Momente des Lesens solcher Texte spiegeln.

Zu fragen ist auch, ob mit den drei Größen Schilder, Bilder und Sprache die Semiotik öffentlicher Räume hinreichend abgedeckt ist. So verlangen Dorfplätze, Parks, große Verkehrsstraßen oder gar Tiefgaragen sicherlich auch nach anderen oder zusätzlichen Deskriptoren, die in den hier gewählten Räumen zunächst nicht oder weniger zum Tragen kommen. Dennoch muss damit gerechnet werden, dass analoge Studien zu anderen ‚Raum-Typen‘ auch zur Verfeinerung des deskriptiven Inventars beitragen, das in der vorliegenden Studie zum Einsatz gekommen ist, oder es ergänzen.

Hier sollte auch der Faktor ‚Zeit‘ nicht unerwähnt bleiben: Wie oben gesagt handelt es sich bei vorliegender Studie um eine Momentaufnahme. Wünschenswert wäre natürlich, diese Art der Dokumentation um eine Langzeitstudie zu ergänzen, die Wandlungserscheinungen ausgehend vom derzeitigen Ist-Zustand sichtbar machen könnte. Hierdurch könnten die in der vorliegenden Studie gemachten Beobachtungen zur Diachronie der Erhebungsräume weiter verfeinert werden, da dann auch eine Parallelität der ‚Datenlage‘ gegeben wäre, die naturgemäß für frühere Zeitpunkte in größerem Umfang fehlt.

Ein weiteres Desiderat wäre die Einbringung einer typologischen Perspektive, indem mehr oder minder analog definierte öffentliche Räume unterschiedlicher urbaner Kontexte zum Beispiel anhand der in vorliegender Arbeit vorgestellten Systematik verglichen werden, um ökonomische, kulturelle und soziale Spezifika ebenso herauszuarbeiten wie Reflexe einer Globalisierung oder Entlehnung entsprechender semiotischer Systeme.

Dennoch hoffe ich, dass die vorliegende Studie dazu beträgt, der (in den Worten des oben angesprochenen René Pechère) grammaire und dem vocabulaire zweier urbaner semiotischer Landschaften näherzukommen. Einige mögliche Defizite erklären sich vielleicht mit der relativen Kürze der Laufzeit des Projekts. Andere sind sicher auch der Tatsache geschuldet, dass wir derzeit erst am Anfang der Theorie- und vor allem Methodologie-Bildung zur Semiotic Landscape-Forschung stehen, weshalb das eine oder andere an semiotischen Einheiten anders gelesen werden kann als in vorliegender Arbeit vorgeschlagen.

Abschließend möchte ich der Fritz Thyssen-Stiftung herzlich dafür danken, dass sie das Vorhaben, dessen Ergebnisse in diesem Buch versammelt sind, mittels eines Forschungsstipendiums so großzügig unterstützt hat. Ohne diese Unterstützung wäre die Realisierung dieses Vorhabens kaum möglich gewesen.

1 Einleitung

Die vorliegende Studie versteht sich als empirische Fallstudie zur Frage, in welchem Umfang sich der öffentliche Raum als semiotische Landschaft (semiotic landscape) mit Fokus auf die semiotischen Systeme Bild/Grafik und Sprache darstellt. Ausgangspunkt ist also die Präsens von Sprache (in ihrer grafischen Repräsentation mittels Schrift) im öffentlichen Raum, wie sie sich in Beschilderungen (im weitesten Sinn des Wortes, zur Definition siehe unten) äußert sowie deren typischen Kombinationen mit bildlich/grafischen Elementen im öffentlichen Raum. Damit knüpft die Untersuchung an die relativ jungen Traditionen von Forschungen zum Komplex Linguistic Landscapes an, erweitert die Perspektive aber unter Einschluss von Theorien und Methoden der bisher schwerpunktmäßig auf die Beschreibung zweidimensionaler, gedruckter Daten konzentrierten Bildlinguistik (s.u.) hin zu einer multimodalen und multifunktionalen Betrachtungsart des öffentlichen Raumes. Zugrunde liegt die Annahme, dass

(wir) [v]on der Vielfalt möglicher Zeichentypen und ihren Verknüpfungen (…) regelhaft Gebrauch (machen), also stets orientiert an kulturell und sozial hervorgebrachten und damit wandelbaren Konventionen der Zeichenverwendung und Zeicheninterpretation. Insofern handelt es sich bei diesen Modalitäten um ausdifferenzierte Zeichensysteme, da sie uns jene kommunikativen Übereinstimmungen und Unterschiede erkennen lassen, die Mitteilen und Verstehen erst ermöglichen. (Klemm und Stöckl 2011: 10)

Hinsichtlich der Konventionalisierung von Zeichenverwendung und –interpretation ergibt sich für den öffentlichen Raum die Frage nach dessen Genesezeitraum. Wird also angenommen, dass die Verwendung von Sprache und Bild/Grafik sowohl alleine als auch in Kombination im öffentlichen Raum bestimmten Regeln unterliegt, muss ein Zeitraum bestimmbar sein, der als Ausgangspunkt für die Entwicklung oder Entstehung dieser Regeln gelten kann. Die Identifikation dieses Ausgangspunktes sowie der Umstände, die zur Ausprägung bestimmter Zeichenverwendungen in bestimmten Kontexten geführt haben, können in der Folge zur Erklärung vorgefundener synchroner Strukturen und Muster monomodaler und multimodaler Aggregate herangezogen werden.

Gleichzeitig gilt es zu klären, ob multimodale Aggregate im öffentlichen Raum hierarchisierbar sind bzw. hierarchisiert werden müssen, um ihre Funktion für die Konstruktion des öffentlichen Raumes und seiner Diskurse sowohl aus den Perspektiven der Linguistic Landscape-Forschung als auch der Bildlinguistik, möglicherweise ergänzt durch eine allgemeinere semiotische Perspektive, adäquat beschreiben zu können, woraus sich als weiterer Schritt die Suche nach typischen Aggregaten auf unterschiedlichen Hierarchieebenen oder in unterschiedlichen Funktionstypen ergibt. Es soll also insgesamt nicht nur die direkte Interaktion von geschriebener Sprache und bildlichen/grafischen Elementen zur Formulierung von Gesamtaussagen untersucht werden, sondern auf verschiedenen Ebenen deren Beitrag zur Strukturierung und Ausprägung eines öffentlichen Raumes, dessen dauerhafte Gegebenheiten in Form von Gebäuden, Straßen, Wegen etc. sowohl als Träger von Signs1 im Sinne der Linguistic Landscape-Forschung als auch als mögliche eigenständige semiotische Struktur betrachtet werden.

Aus dieser Perspektive werden in der vorliegenden Studie exemplarisch zwei spezifische, sowohl areal als auch funktional abgegrenzte, aber ähnliche semiotische Landschaften, nämlich die der Münchener Neuhauser Straße/Kaufingerstraße/Weinstraße/Theatinerstraße und kontrastiv hierzu die des Münchener OEZ („Olympia Einkaufszentrum“) als durch diverse Faktoren intern strukturierte Räume anhand einer empirischen, sowohl qualitativ als auch quantitativ angelegten Mikrostudie zu den in diesen Räumen gegebenen öffentlichen Zeichentypen rekonstruiert und verglichen werden.

Als Leithypothese soll dabei gelten, dass sich der öffentliche semiotische Raum über eine kommunikative, also dialogische Dimension mit den Wahrnehmenden konstituiert, wobei das hierfür relevante Zeichensystem als multimodales System im Spannungsverhältnis von Sprache, Bild und Medium („Zeichenträger“) verstanden wird. In diesem Zusammenhang wird auch ein Augenmerk darauf gelegt, dass zahlreiche semiotische Strukturen zwei unterschiedliche Verweisfunktionen mit unterschiedlichen Zielrichtungen haben. Sie kommunizieren in ihrer dialogischen Funktion mit dem Wahrnehmenden über konkrete Handlungen und Diskurse, präsentieren aber gleichzeitig auf einer zweiten, etwas abstrakteren Ebene den öffentlichen Raum als grundlegende, noch nicht ‚personalisierte‘ konkrete Form, also als allgemein erkennbare Struktur mit bestimmter Funktion, die sich aus bestimmten Markern ablesen lässt und die dann ‚individuell‘, also auf einer für einen gegeben Raum spezifischen Art und Weise profiliert wird.

Die Studie basiert auf einer primär Foto-gestützten und durch zusätzliche Daten ergänzten Dokumentation der Untersuchungsgebiete, die sich neben ihrem aktuellen Erscheinungsbild auch auf historische Dimensionen ab dem frühen 20. Jahrhundert erstreckt. Diese Daten werden um eine Rekonstruktion derjenigen relevanten gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen erweitert, die diachron zur Ausprägung des öffentlichen Raumes in seiner spezifischen Form beigetragen bzw. diesen erst ermöglicht haben und die damit auch als Basis für die aktuell vorgefundenen Formen gelten können.

Die Analyse erfolgt über eine Datenbank-basierte, möglichst umfassende quantitative Mikro-Kartierung der Zeichentypen der genannten Räume. In interpretativer Hinsicht wird eine exemplarische, feinkörnige Klassifikation der einzelnen Dimensionen der Multimodalität der dokumentierten Zeichen angestrebt, woraus dann über ein mehrdimensionales Analyseverfahren eine entsprechende Zeichentypologie erstellt wird. Die feinkörnige Annotation der Foto-Dokumente erfolgt über eine Vielzahl von Einzelfaktoren, die sich in folgende Kernbereiche gliedern:

1 Linguistik des Sprachlichen

2 Grafie des Sprachlichen

3 Dimensionen des Bildlichen

4 Typik des ‚Zeichenträgers‘

5 Einbettung in die architektonische Dimension

6 Ökonomische und historische Faktoren

Diese Kernbereiche werden über die jeweiligen Subkategorisierungen hinaus in interpretativer Hinsicht soweit erfassbar mittels für bildlinguistische Analysen vorgeschlagener Parameter wie Intentionalität, Informativität, Situationalität, Intertextualität, Kulturalität und Materialität annotiert (Große 2011). Zusätzlich werden formale Analysemodelle der Bildlinguistik mit ihrem Schwerpunkt auf der Beschreibung der Beziehung von bildlich/grafischen und sprachlichen Elementen in der Analyse auf ihre Anwendbarkeit in dreidimensionalen Räumen mit komplexen multimodalen Clustern mit mehrseitigen Beziehungsstrukturen untersucht.

Auch wenn anzunehmen ist, dass die Gegebenheit öffentlicher semiotischer Räume genuiner Teil zumindest ‚moderner‘ Gesellschaften ist, kann nicht davon ausgegangen werden, dass die jeweilige semiotische Substanz an sich ‚zeitlos‘ wäre. Vielmehr ist zu vermuten, dass derlei semiotische Systeme sowohl in ihrer Form als auch in ihrer Semantik Analogien zeigen zu entsprechenden Traditionen und Konventionen von Gesellschaften ‚in ihrer Zeit‘. Zugleich kann angenommen werden, dass aktuelle semiotische Systeme sich aus älteren Verfahrensweisen heraus entwickelt haben und sich in ihrer Struktur auch durch diese begründen. Dieser Aspekt wird durch die Berücksichtigung der diachronen Entwicklung nachgezeichnet. Die diachrone Perspektive bezieht sich dabei nicht nur auf den Wandel in der Verwendung und Kombination einzelner Modi und deren Auswirkung auf die semiotische Struktur des Raumes, sondern auch auf Änderungen, die durch externe Faktoren wie z.B. die Stadtentwicklung oder Architektur bedingt sind. Die Einbeziehung dieser Aspekte gründet auf umfassenden Archivarbeiten, wobei der hieraus erarbeitete Befund analog in der Datenbank annotiert wird.

 

Die mehrdimensionale Analyse ist sowohl in Theorien und Methoden von Forschungen zu Linguistic Landscapes als auch zur schon oben erwähnten Bildlinguistik (z.B. Große 2011, Diekmannshenke et al. 2011), zur Semiotik von „Schrift-Bildern“ (e.g. Metten 2011) und zur Bildsemiotik (Barthes 1969) eingebettet, wobei die Beobachtung von Große (2011: 12) zugrunde gelegt wird, wonach

[d]ie bisher als selbstverständlich geltenden räumlichen und funktionalen Grenzen zwischen Bild, Sprache und Schrift (…) aufgelöst, die jeweiligen Vorteile von Schrift und Bild in neuartigen Zeichensystemen verknüpft und zu permanent neuen Synergien, Metamorphosen und Mischformen gestaltet (werden).

In diesem Sinn wird die Tradition von Forschungen zum Komplex Linguistic Landscapes zwar als wesentlicher Ausgangspunkt für die vorliegende Studie verstanden, doch setzt sie sich zugleich das Ziel, diese Dimension unter Zugrundelegung von Hypothesenbildungen im Bereich der Bildlinguistik und „social semiotics“ (Stöckl 2004) als Bestandteil einer multimodalen „semiotischen Karte“ (semiotic map, vgl. die Beiträge in Zantides 2014) zu interpretieren.

In der Tat konzentrieren sich Studien zu Linguistic Landscapes in meist synchroner Perspektive auf die Beschreibung und Analyse von Sprache ‚an sich‘ im öffentlichen Raum. Nicht nur in der genannten synchronen, sondern auch in diachroner Perspektive wird in der vorliegenden Studie jedoch davon ausgegangen, dass – wie oben angedeutet – die Beschränkung auf die rein sprachliche Dimension vor allem in Hinblick auf eine qualitative Analyse der Präsenz geschriebener Sprache im öffentlichen Raum nicht ausreichend ist, um die Strukturierung und Funktionalität bzw. Semiotik eines öffentlichen ‚Sprachraums‘ zu erfassen. Linguistic Landscapes sind also zu verstehen als Teile einer Gesamtkomposition multimodaler semiotischer Zeichen, die als eigentliche Analysegröße zugrunde zu legen ist. Dies ermöglicht eine umfassendere Beschreibung der unterschiedlichen Formen der Repräsentation von Sprache einschließlich der sich daraus ergebenden unterschiedlichen Funktionen eines semiotischen Raumes2 und seiner dialogischen Struktur (Zeichen-Wahrnehmende), ohne Kriterien, die in der Linguistic Landscape-Forschung thematisiert werden, zu vernachlässigen.

In einer solchen der Gesamtsemiotik des öffentlichen Raumes Rechnung tragenden Analyse können Ansätze der LL-Forschung mit denen der Bildlinguistik (Schmitz 2011, Stöckl 2011, Bateman 2014) und weiteren Bereichen der semiotischen Forschung (Kress 2010) in einem Ansatz integriert werden. Die Klassifizierung in unterschiedliche Analysegrößen (Schild, Sehfläche, Bild, vgl. Kapitel 5), die die verschiedenen möglichen semiotischen Genres aufgreift, ermöglicht es hierbei sowohl unterschiedliche Formen der Multimodalität zu berücksichtigen als auch die Beziehung der einzelnen Modi zueinander und ihre (dialogische) Funktion auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Bereichen im modernen öffentlichen Raum zu beschreiben.

Dabei ist zu beachten, dass die Studie darauf abzielt grundlegende, allgemeine Muster und Beziehungen zu isolieren, die sich auf andere öffentliche Räume mit gleicher oder ähnlicher Funktion übertragen lassen. Dies gilt umso mehr, als die gegebenen öffentlichen Räume in ihrer Profilierung zwar vergleichsweise stabil sind, aber dennoch erhebliche Volatilität besteht. Einerseits sind Nutzerwechsel auch innerhalb kürzerer Zeiträume möglich oder gar wahrscheinlich und andererseits sind konkrete Formen sowohl des Bildlichen als auch Sprachlichen durch häufige Umdekorationen etc. im ständigen Wechsel begriffen. Entsprechend sind die erhobenen Daten eine Momentaufnahme, aus der sich aber die zugrunde liegenden Muster, Regeln und Konventionen ableiten lassen.

Um den unterschiedlichen Dimensionen und Ansätzen, die dieser Arbeit zugrunde liegen, gerecht zu werden, gliedert diese sich in 6 Textkapitel einschließlich dieser Einleitung und Verzeichnisse.

Kapitel 2 widmet sich ausführlich der Linguistic Landscape-Forschung. Nach einer Präsentation des aktuellen Forschungsstandes wird die synchrone Linguistic Landscape in den Kontext des öffentlichen Raumes als ihrem Realisationsort gestellt. Diese Beschreibung des status quo wird mit einer historischen Kontextualisierung abgeschlossen, in der aufgezeigt wird, dass bestimmte interdependente gesellschaftliche, politische und ökonomische Entwicklungen an der Wende vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert wesentlichen Einfluss auf die Genese der modernen Linguistic Landscape und des modernen, ökonomisch genutzten öffentlichen Raums hatten.

Kapitel 3 stellt die Beziehung von Linguistic Landscapes und Multimedialität in das Zentrum der Betrachtung. Dabei werden die unterschiedlichen Dimensionen des Begriffs Multimodalität in Bezug auf die Linguistic Landscape und den öffentlichen Raum in den Blick genommen. Dafür werden zunächst typografische Aspekte wie die Wahl von Fonts, Farben sowie die bildhafte Veränderung von Schrift beschrieben. Es geht in diesem Teil des Kapitels damit um die bewusste Gestaltung des Mediums Schrift mit dem Ziel den so präsentierten Text mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen. Im Anschluss daran wird auf Text-Bild-Aggregate eingegangen. Solche Kombinationen aus möglicherweise mit typografischen Mitteln gestaltetem Text und Bild sind Untersuchungsgegenstand der Bildlinguistik, die die unterschiedlichen Interaktionsformen beider Modalitäten zur Formulierung einer Gesamtaussage untersucht. Auch hier werden nach der Präsentation der synchronen Befunde die historischen Dimensionen nachgezeichnet wobei gezeigt wird, dass die gegenwärtigen Strukturen im Ergebnis auf den in Kapitel 2 vorgestellten Genesekontext zurückzuführen sind.

Kapitel 4 führt in die eigentliche Studie ein und stellt den Untersuchungsraum, die angewandten Methoden, Analysegrößen sowie die Datenbasis für die Auswertungen vor. Der Untersuchungsraum wird dabei unter Rückgriff auf die Befunde aus den Kapiteln 2 und 3 ausführlich auch in seiner historischen Dimension beschrieben, welche gerade die Fußgängerzone heute immer noch prägt. Gleichzeitig zeigen sich der Bau und die Funktion des Olympia Einkaufzentrums als Fortschreibung einer Entwicklung, die auch Auswirkungen auf die Fußgängerzone hat(te), woraus sich die Begründung für die Wahl eben dieser Untersuchungsräume ableiten lässt.

Die eigentliche und umfassende Analyse der gesammelten Daten erfolgt in Kapitel 5, welches mit einer ausführlichen Beschreibung der allgemeinen Daten des Untersuchungsraumes einsetzt. Es beginnt mit einer Analyse der Sign-Produzenten im Hinblick auf Gruppierung (Akteure) und Quantitäten sowohl für den Gesamtuntersuchungsraum als auch für beide Teiluntersuchungsräume (Fußgängerzone, OEZ). Im Anschluss daran und inhaltlich den Kapiteln 2 und 3 folgend wird zunächst eine Analyse der dokumentierten Signs im Sinne der Linguistic Landscape-Forschung vorgenommen. In einem ersten Schritt werden das Gesamtkorpus sowie die Anzahl der dokumentierten Signs in Beziehung zu den Akteuren gesetzt (jeweiliger Anteil der Akteure an den Signs und dem Korpus), um diese Ergebnisse um die Dimension Sprachen zu erweitern. Es erfolgt zunächst die Identifikation der verwendeten Sprachen sowie die Feststellung ihres Anteils am Gesamtkorpus und am fremdsprachlichen Korpus.

Diese Daten werden dann mit den Akteuren als Sign-Produzenten sowie den Untersuchungsräumen in Beziehung gesetzt, um eine umfassende Beschreibung der Präsenz sprachlicher Daten im Untersuchungsraum leisten zu können. Diese sprachlichen Daten wiederum werden angeschlossen an eine Untersuchung von Schildformen, verwendeten Farben (Schrift und Schild) sowie weiteren grafischen Elementen, die die Gesamtaussage und das Erscheinungsbild eines Signs beeinflussen bzw. zu ihr bzw. ihm beitragen können. Diese Gesamtergebnisse werden als Abschluss dieses Analyseteils systematisch für die einzelnen Akteure dargestellt und die typischen vorgefundenen Sign-Strukturen beschrieben.

Als weiterer Analyseschritt erfolgt die Integration der vielfältigen bildlichen Elemente, wie sie in Form von Schaufenstern und Architektur im öffentlichen Raum gegeben sind. Dabei steht die Analyse der sich aus den Strukturen des öffentlichen Raumes ergebenden multimodalen Aggregate im Zentrum des Interesses. Die Funktion von Signs als strukturierendes und in dieser Form mit der Architektur bzw. bestimmten architektonischen Merkmalen interagierendes Element wird dabei ebenso untersucht wie das Zusammenspiel von Sprache und Bild im Bereich von Schaufenstern. Hier wird der Fokus auf die an Beispielen erläuterte Rekonstruktion von Aneignungswegen solcher komplexer Aggregate, sowie die Beschreibung der formalen Beziehungen zwischen bildlichen und sprachlichen Elementen gelegt. Die Systematisierung der Einzelergebnisse dieses zweiten Analyseabschnittes und die Beschreibung der sich aus diesen ergebenden, Akteur-spezifischen Interaktions- und Präsentationsstrukturen bilden den Abschluss der Analyse. Alle Analyseschritte greifen konsequent auf die in Kapitel 2 und 3 getroffen Aussagen und Beschreibungen von Entstehungskontexten zurück und binden die Analyseergebnisse an diese an, so dass sich, ausgehend von den konkreten Daten der Studie, allgemeinere Aussagen ableiten lassen.