Die heimliche Geliebte

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|71|Wiedensahl, den 20 ten Mai 1853

Wilhelm ist aus Antwerpen zurück und wie schwer gezeichnet. Er war fürwahr ernstlich erkrankt. Hätten seine holländischen Wirtsleute ihn nicht so aufopfernd gepflegt, wer weiß, wie es dann um ihn stünde – ohne Geld, krank und fern der Heimath. Mit einer roten Jacke und drei Orangen als Geschenk brachten sie ihn auf den Weg nach Haus, nachdem er leidlich wieder genesen. Doch es sind wohl auch andere Schläge, an denen er trägt, solche, die das Herz und den Geist schwächen. Die großen Meister wollte er studieren, als er nach Antwerpen gieng, angestachelt von dem Wunsche, es ihnen gleich zu tun. Doch statt sich zu ihnen emporzuschwingen, fiel er unsanft nieder. Er zweifelte an seiner Kunst. Was kümmern mich Rubens oder dieser Brouwer, dessen Name ich zuvor noch nie gehört hatte? Gleichfalls Tenius, oder der Hals, Frans mit Taufnamen, was können sie, daß er nicht kann? Oder es nicht zu können glaubt? Sie sind mir gleich.

Ich für mein Theil vertraue auf ihn. Er wird es schaffen.

Wie lange er wohl bleibt? Ich wollte ihm einen Besuch abstatten, jedoch er war nicht da. Noch habe ich nicht herausbekommen, wo er sich herumtreibt, wenn er nicht zu Hause ist. Wenn er mich nun nicht sehen will?

Trotz der traurigen Umstände bin ich froh, ihn wieder in meiner Nähe zu wissen. So in der Ferne und den Verlockungen der fremden Stadt ausgesetzt … Man weiß, wie Männer sind. Ich muß ein Auge auf ihn haben.

-5-

Sie hätte sich doch lieber auf den Heimweg machen sollen. Am Himmel ballten sich dicke Wolken und Leo befürchtete, genau in eine Regenwand zu fahren.

Im Wald lag die Dämmerung wie ein Mantel über Unterholz und Farnkraut. Was für merkwürdige Schatten Bäume haben konnten! Leo fuhr schneller, erreichte wieder freies Land und verlassene Felder. Im fahlen Blaugrau flammten plötzlich die Lichter einer Mülldeponie auf. Mit einem unbehaglichen Gefühl strampelte Leo an dem eingezäunten Gelände vorbei.

|72|Vereinzelte Gehöfte lagen wie Schiffe in der hereinbrechenden Dunkelheit vor Anker. Schließlich kam das letzte Stück offene Landstraße, dann wieder Wald.

Ein herrschaftliches Gebäude löste sich aus der Wand aus Dunkelheit, ein großer, rechteckiger Kasten aus massiven Sandsteinblöcken. Leo hatte selten einen Ort gesehen, der einsamer wirkte, obwohl alle Fenster hell erleuchtet waren. Wald-Residenz stand in verschnörkelten Buchstaben auf einem rustikalen Holzschild, das an zwei Pfeilern mit einem Dach darüber aufgehängt war. Wie der Eingang zu einer Ranch und ziemlich deplatziert, dachte Leo und schob ihr Rad die Auffahrt entlang. Unter ihren Füßen knirschte Kies. Das Leuchtfeuer aus Lichterketten, Fußwegbeleuchtung und Laternen reichte aus, um einen parkähnlichen Garten zu erhellen. Eine Steintreppe führte zum Eingangsportal hinauf, beidseitig von mächtigen Rhododendren flankiert.

Leo klingelte. Schritte kamen näher und die große Eingangstür schwang auf. Eine ältere Frau mit gewelltem weißen Haar und einem nervösen Zucken im Gesicht baute sich vor Leo auf.

»Unsere Besuchszeit ist schon vorbei.« Zuck. »Zu wem wollten Sie?« Zuckzuck.

»Ich bin eine Freundin von Katarina Singer; Leonore Heller. Ich würde gern …«

»Bedaure. Frau Doktor hat heute ihren freien Tag.«

Das nervöse Zucken nahm zu, als wollte eine Hälfte ihres Gesichts unbedingt verhindern, dass die andere freundlich lächelte.

Leo spähte an der Frau vorbei in die Eingangshalle. Auf dem Steinfußboden lag ein flauschiger Teppich. Von der endlos hohen Decke hing an einer langen Eisenkette ein Lüster herunter, dessen Glasprismen funkelten und blitzten. Unwillkürlich musste Leo an Professor Irschinger denken. Auch er hatte lange Jahre ein Heim geleitet, das allerdings längst nicht so luxuriös gewesen war. Er hatte ständig um Gelder und Mittel kämpfen müssen. Für die meisten Menschen bedeutete Altwerden gleichzeitig auch Armwerden.

Leo fiel die merkwürdige Stille im Haus auf. Von den Bewohnern |73|des Heimes war nichts zu sehen, nur leises Geschirrgeklapper verriet, dass sich irgendwo Menschen aufhielten.

Als könnte sie Gedanken lesen, erklärte die zuckende Dauergewellte: »Unsere Senioren haben sich gerade im Fernsehraum versammelt. Ich möchte sie dort nicht zu lange allein lassen. Wenn ich wüsste, wann Doktor Singer wiederkommt, könnten Sie warten, aber …« Sie ließ den Satz in der Schwebe.

»Machen Sie sich keine Umstände. Wenn Sie vielleicht ausrichten, dass ich hier gewesen bin?« Unter Zuckungen wurde es versprochen, dann stand Leo wieder vor verschlossener Tür.

Was für ein ungastlicher Ort.

Leo zuckte mit den Schultern, wandte sich um und – fuhr zusammen. Neben dem dunklen Hügel der Rhododendrenbüsche stand ein Mann. Einen Moment verharrten sie beide regungslos, dann kam er langsam näher, bis Leo im Licht der Eingangslaterne sein Gesicht erkennen konnte, das glatt war und merkwürdig alterslos unter dem grauen Haar. Der Mann trug einen braunen Kleppermantel, der ihm fast bis auf die Füße reichte. Die Pelerine auf den Schultern ließ ihn auf den ersten Blick kräftig wirken. Er überragte Leo zwar um einige Zentimeter, schien aber abgesehen von den Schultern eher schmächtig zu sein.

Mit einem verschwörerischen Lächeln hob er einen Zeigefinger.

»Gleich kommen sie!«

Er legte den Finger auf die Lippen und winkte Leo mit der anderen Hand, ihm zu folgen.

Unschlüssig blieb sie stehen. Wer war er? Ein Heimbewohner, einer von der verrückten Sorte? Er griff nach ihrer Hand und wiederholte eindringlich: »Gleich kommen sie!« Seine Finger fühlten sich warm und rau an.

Leo war inzwischen viel zu neugierig, um sich aus dem Staub zu machen. Sie folgte ihm zur Rückseite des Hauses. Etwas stimmte mit seinem Gang nicht; er hielt sich nicht nur vornübergebeugt, sondern schwankte auch seltsam hin und her. Betrunken war er nicht, sie hatte keine Alkoholfahne gerochen. Ob er Tabletten |74|bekam, die seine Motorik störten? Schlurfschlurfschlurf machten seine Schritte im Kies und begleiteten das rhythmische Knirschen ihrer Schuhsohlen. Zusammen veranstalteten sie einen ganz schönen Lärm.

Während Leo noch darüber nachdachte, ob in diesem Heim vielleicht Patienten mit einem Hang zu gefährlichen Gefühlseruptionen wohnten, die mit Medikamenten ruhiggestellt werden mussten, und sie hier gerade mal wieder einen grandiosen Fehler beging, hob der Mann neben ihr erneut den Finger an die Lippen.

Die offene Parkwiese grenzte auf einer Seite an ein Maisfeld. Es war noch nicht abgeerntet und die trockenen Blätter raschelten unheimlich. Dahinter lag der Wald wie ein dunkles Lebewesen auf der Lauer. Aus einigen Fenstern auf der Rückseite des Heimes fielen Lichtschneisen in den Park, die sich in der Dunkelheit schon nach wenigen Metern auflösten. Leo und ihr Begleiter blieben im Schatten stehen, als direkt neben ihnen ein Fenster aufleuchtete. Der Mann neben Leo verharrte wachsam.

»Mein Zimmer!«, wisperte er. Im Fenster erschien der Umriss eines Mannes. Er drückte sein Gesicht an die Scheibe.

»Karl!« Erleichtert trat Leos Begleiter einen Schritt vor.

Das Fenster wurde geöffnet und der, der Karl hieß, beugte sich hinaus und blinzelte mit kurzsichtigen Augen hinter fingerdicken Brillengläsern in die Nacht. Leo bemerkte, wie sorgfältig er gekleidet war: kariertes Jackett, blütenweißes Hemd und Fliege. Sein weißes, streichholzkurzes Haar war so dick, dass es in Büscheln über den Ohren abstand. Es schien noch jemand neben ihm zu sein, irgendwo weiter unten, denn Karl wurde abgelenkt und sah zu Boden.

»Ja doch! – Ja!«, flüsterte er. Leo reckte sich und erkannte die Oberseite eines Kopfes, bedeckt von flaumigem dunklen Haar.

»Was ist?«, fragte der Mann neben ihr.

»Du musst aufpassen!«, warnte Karl. »Die Loss sucht dich.«

»Keine Sorge. Komme gleich. Will ihr nur was zeigen.«

Er meint mich, dachte Leo. Karl schob sein Gesicht in ihre Richtung. |75|Es war zweifelhaft, ob er in der Finsternis viel sah, aber er deutete eine Verbeugung an:

»Gnädige Frau!«

Eine lange, magere Hand tauchte von unten auf und zerrte an seinem Ärmel. Karl beugte sich hinunter und wandte sich dann wieder an Leo:

»Entschuldigen Sie uns«, sagte Karl. »Wir müssen!«

Er schloss das Fenster und verließ mit seiner unsichtbaren Begleitung den Raum. Das Licht ging wieder aus.

»Karl und Esmeralda«, erklärte der Mann neben Leo. »Esmeralda sitzt im Rollstuhl, aber sonst ist sie in Ordnung.«

Leo suchte noch nach einer passenden Antwort, als der Mann ihre Aufmerksamkeit auf den Wald lenkte.

»Jetzt geht’s los!«

Direkt am Waldrand knackte es. Und dann brach etwas mit dem Getöse einer Planierraupe durch das Unterholz. Leos Muskeln spannten sich an. Sie warf einen nervösen Blick auf den Mann neben sich. War es in Ordnung, dass sie hier seelenruhig herumstanden? Kein Zaun trennte den Park von dem Niemandsland auf der anderen Seite. Je näher der unheimliche Lärm kam, desto mehr erwärmte sie sich für den Gedanken, ins Haus zu flüchten.

Und dann kamen sie. Gedrungene schwarze Gestalten am Waldrand. Sie hielten inne. Sie witterten. Sie grunzten.

Wildschweine! – Es waren Wildschweine, eine Rotte mit Tieren in allen Größen. Leo fand sie allesamt beeindruckend groß. Zielstrebig hielten sie auf das Maisfeld zu, um zwischen den hohen Stängeln zu verschwinden. Im Inneren des Feldes begannen sie geräuschvoll ihre Mahlzeit.

 

»Hast du gesehen? Sie kommen jeden Abend. Und manchmal auch frühmorgens«, wisperte es neben ihr. »Ich kann sie aus meinem Zimmer sehen.«

Plötzlich wurde das Fenster aufgerissen. »Justus?« Die Frau, die Leo die Tür geöffnet hatte, lehnte sich hinaus. »Justus, sind Sie da irgendwo?«

|76|Sie hatte sich im Dunkeln angeschlichen, im Zimmer brannte kein Licht.

Justus trat vor. Leo blieb, wo sie war.

»Justus, es wird Zeit, dass Sie hereinkommen. Es ist zu kalt. Außerdem gibt es bald Abendessen.«

»Komme, Frau Loss«, sagte Justus und machte sich mit einer übertriebenen Verbeugung über den Befehlston in ihrer Stimme lustig. »Gleich.«

Das Fenster wurde wieder geschlossen.

»Ich mag nicht, wenn sie in mein Zimmer geht«, murmelte Justus. Dann zwinkerte er Leo zu. »Sie kann sie nicht leiden.«

»Äh, mich?«

»Die Wildschweine. Weil sie manchmal in den Park kommen.«

Für Leo das Stichwort für einen abrupten Rückzug. Als sie wieder zur Vorderseite des Hauses gingen, fiel ihr auf, dass Justus ein Bein nachzog. Den leicht schwankenden Gang versuchte er durch besonderen Schwung auszugleichen, was ihn aber erst recht auf einen leichten Schlingerkurs brachte. Der weite Mantel segelte schwungvoll mit.

»Du wolltest zu Doktor Singer«, stellte er unvermittelt fest.

»Ja«, sagte Leo. Mittlerweile waren sie bei ihrem Fahrrad auf dem Vorplatz angekommen. »Ich kenne sie von früher. Ich bin übrigens Leo.«

Feierlich schüttelten sie sich die Hände.

»Sie ist weggefahren«, sagte Justus. »Das ist gut.«

»Warum?«

»Weil ich in ihr Zimmer muss.«

Leo sah ihn beunruhigt an. Vielleicht war er doch verrückter, als sie geglaubt hatte. Er klopfte auf seine Jacke, unter der sich eine leichte Beule abzeichnete.

»Ich leih mir manchmal was zum Lesen. Das weiß sie aber nicht. Muss es zurücklegen, bevor sie es merkt.«

»Du hast etwas genommen, was du eigentlich nicht haben darfst?«

|77|»Nein! – Ja. – Aber ich bring es zurück«, sagte er verlegen. »Und dann ist alles gut, sie hat ja nichts gemerkt.«

Leo konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.

»Was liest du denn so?«

»Alles Mögliche. Am liebsten Geschichten über andere Leute. Wie sie so leben.«

»Ah, Biografien«, nickte Leo.

»Kann sein. Diesmal hab ich aber was anderes erwischt, so eine Liebesgeschichte. Ich bring sie zurück!«, versicherte er.

Justus begutachtete Leos Fahrrad von allen Seiten und zog dabei mit seinem Bein Kreise im Kies.

»Deins?«

Leo nickte und stellte das Blinklicht an. Er strich über die Feder am Lenker.

»Hast du eine Elster aufs Korn genommen?«

»Gefunden. Hier, schenk ich dir. Ein Glücksbringer. Fährst du auch Rad?«, fragte Leo.

Er schüttelte den Kopf, während er abwechselnd die Feder und Fahrradlenker streichelte. »Früher mal. Aber mit dem Bein …«

Leo hätte ihn gern gefragt, was damit passiert war, und sich noch länger mit ihm unterhalten. Aber in der Eingangstür erschien wie ein misstrauischer Wachhund Frau Loss.

»Sie sind noch da? – Justus, Sie müssen jetzt aber hineinkommen, es wird schneien.«

Leo winkte noch und zog sich die Mütze über die Ohren.

»Komm mal wieder vorbei«, rief Justus über die Schulter, während Frau Loss ihn ungeduldig ins Haus zog. »Und pass auf die Wildschweine auf, sie sind überall!«

Als sie auf die dunkle Straße einbog, hörte sie ihn fröhlich grunzen.

Inzwischen war es völlig finster. Der schmale Lichtkeil, den die Fahrradlampe auf den Weg warf, machte die Dunkelheit rechts und links nur noch undurchdringlicher. Leo überfiel eine bleierne Müdigkeit. Die Erschöpfung nach der langen Strecke, die Anspannung |78|und die Enttäuschung darüber, dass sie Katie nicht angetroffen hatte, hingen wie Gewichte an ihren Beinen. Schweiß lief ihr den Rücken herunter, aber ihre Füße waren kalt.

Nur noch ein kleines Stück durch den Wald, komm schon, Leo. Und dann so schnell wie möglich nach Stadthagen und schnurstracks in den nächsten Zug nach Hause.

Scheinwerfer tauchten auf, kamen näher, blendeten ab, fuhren vorbei. Leo warf einen Blick hinter sich. Das Blinklicht funktionierte zum Glück immer noch und schickte tapfer kleine Lichtsignale in die Nacht.

Sie dachte an Katie und an das Seniorenheim. Was für ein Ort zum Arbeiten und Leben! Nicht unschön, nein, das nicht, im Sommer und bei Tageslicht war es sogar sicher sehr idyllisch. Aber ob Katie sich dort nicht schrecklich einsam fühlte? Kein Wunder, dass sie an ihrem freien Tag das Weite suchte.

Wieder näherte sich Motorengeräusch. Lichtfinger tasteten sich vor, kamen näher, wurden kräftiger. Ein Auto kam von hinten. Die Strecke war gerade, ihr Blinklicht blinkte, der Fahrer musste sie schon entdeckt haben. Vorsichtshalber fuhr sie trotzdem so weit rechts wie es ging.

Klang wie ein Sportwagen. Himmel, hatte der ein Tempo drauf! Leo drückte sich noch ein Stückchen weiter an den Rand. Kein Platz zum Anhalten, nur ein Graben.

Sie konnte es nicht glauben: Der Wagen beschleunigte noch! Der Motor heulte auf, und Leo wurde vom Sog erfasst, als ein roter Blitz so dicht an ihr vorbeiraste, dass einer Mikrobe die Haare zu Berge gestanden hätten. Wenn Mikroben Haare hatten. Aber dieses Detail war im Moment von untergeordneter Bedeutung. Leo riss den Lenker herum und warf sich zur Seite. Schlamm spritzte auf, als sie in den Graben hechtete. Das Fahrrad flog hinterdrein und krachte ihr in den Rücken.

Verdammt. – Verdammtverdammtverdammt.

Es tat höllisch weh. Sie wusste im ersten Moment nicht, was schlimmer war, der Schmerz oder der Schock. Als sie den Kopf hob, |79|waren die Rücklichter des Geisterautos schon in der Dunkelheit verschwunden.

Fluchend rappelte sie sich auf. Manchmal wurde die Welt von merkwürdigen Dingen zusammengehalten: Je lauter Leo fluchte, desto besser ging es ihr. Schmatzend gab der Schlamm ihre Hände und Beine frei, und als sie zitternd und auf allen vieren aus dem Graben kroch, brüllte sie vor Wut.

»Idiot! – Scheißkerl! – Idiot!« Nicht sehr einfallsreich, aber wohltuend.

Leo tastete sich ab. Sie hatte sich das Kinn aufgeschrammt und ein gründliches Schlammbad genommen, aber ansonsten schien sie glimpflich davongekommen zu sein. Nur mit ihrem Rücken stimmte etwas nicht, sie konnte nicht gerade stehen. Irgendwo über dem Kreuzbein stach es böse. Sie hielt sich die schmerzende Stelle und versuchte tief durchzuatmen. – Was für ein Wahnsinniger! Völlig gestört. Oder betrunken. Unvermittelt überkam sie das dringende Verlangen nach einem großen Schluck Rum.

Mit Mühe und Not zerrte sie das Fahrrad aus dem Graben; ihr Rücken protestierte schmerzhaft. Dem Drahtesel war nichts passiert, sogar das Licht blinkte noch. Zitternd und frierend durchwühlte sie die Satteltaschen. Gott sei Dank, die Kamera war heil, die Flaschen mit Rum und Bitterschnaps auch. Nur die Schale bestand jetzt aus drei Teilen. Leo schraubte die Rumflasche auf und legte den Kopf in den Nacken. Etwas Feuchtes wehte ihr ins Gesicht, betupfte ihre Hände, schlüpfte in den Jackenkragen. Es schneite.

Na wunderbar, auch das noch.

Nach dem dritten Schluck Rum fühlte sie sich besser. Mit einer Hand voll Laub wischte sie sich notdürftig den Schlamm ab. Noch ein Riegel Schokolade, und sie war in der Lage, weiterzufahren. Vorsichtig stieg sie auf und stellte erleichtert fest, dass die Schmerzen auszuhalten waren, wenn sie kerzengerade saß. Dafür bot sie dem Schnee die größtmögliche Angriffsfläche. Nun gut, man konnte eben nicht alles haben.

|80|Irgendwann während der Fahrt durch Schnee und Dunkelheit verlor sie jedes Zeitgefühl. Sie war sicher, den direkten Weg nach Stadthagen eingeschlagen zu haben, aber die Strecke kam ihr quälend lang vor. Endlich tauchte der Bahnhof auf, bis auf wenige Reisende verlassen und trostlos. Aber sie hatte Glück, der nächste Zug sollte in einer halben Stunde fahren. Sie löste die Tickets am Automaten, versuchte zu erraten, wo der Gepäckwagen halten würde, und registrierte, wie die wenigen Wartenden einen Sicherheitsabstand zu ihr hielten. Vermutlich sah sie noch schlimmer aus, als sie sich fühlte. Der Zug kam mit ein paar Minuten Verspätung und der Gepäckwagen befand sich natürlich am falschen Ende.

Leo schlurfte mühsam über den Bahnsteig. Ihr Rücken wollte in zwei Teile zerfallen, als sie das Fahrrad in den Waggon hievte. Dankbar sank sie auf einen Klappsitz. Der Schaffner kam, musterte ihre schlammverkrustete Kleidung und das lädierte Gesicht und rümpfte missbilligend die Nase, als er auch noch eine Rumfahne witterte. Es war Leo vollkommen gleichgültig. Müde und frierend döste sie vor sich hin, bis sie aussteigen musste. Am Hauptbahnhof von Hannover herrschte wie immer Hochbetrieb. Leo zwängte sich mit ihrem Rad in den Fahrstuhl, der sie unten auf der U-Bahn-Ebene wieder ausspuckte, schaffte es gerade noch, sich ein Plätzchen in der Linie 8 zu sichern und stieg am Altenbekener Damm wieder aus.

Der Schnee war zum matschig nassen Schneeregen geworden, als sie endlich vor dem Haus mit dem Torbogen ankam. Sie stutzte.

Das Schild an der Linde war weg. Irgendein Idiot hatte wieder seine Stoßstange an den Baumstamm geklebt; diesmal war es ein hastig eingeparktes Ford-Coupé-Cabriolet mit einer unglaublichen Perlmutt-Lackierung. Und in ihrer Küche brannte Licht. Wer zum Teufel stand da am Fenster?

Leo hastete am Imbiss vorbei, ließ das Fahrrad achtlos auf dem Hof stehen und lief die Treppe hinauf, so schnell ihr schmerzender Rücken es zuließ. Der eingesperrte Rufus bellte, als sie vorbeihumpelte.

|81|Die Tür zu ihrer Wohnung war nur angelehnt. Leo stieß sie auf und blickte in die überraschten Gesichter von Paul Ostermann, Wang Li und einer ihr unbekannten älteren Frau mit schlohweißen, kurz geschnittenen Haaren. Paul Ostermann trug wieder einmal Bademantel und Pantoffeln und sah aus, als habe man ihn gerade aus dem Bett gezerrt. Wang Li hatte eine nicht mehr ganz saubere Schürze um den Hals hängen und war offenbar direkt aus der Küche heraufgeeilt. Die drei standen in einem Schlachtfeld: umgeworfene Möbel, herausgezogene Schubladen, Bücher, Papiere und Zeitungen auf dem Fußboden. Leos Augen suchten Edwina. Gott sei Dank. Die Rose stand an ihrem Platz am Fenster. Ihr war nichts passiert. Aber die Wohnung! Komplett auf den Kopf gestellt.

Leo schnappte nach Luft. »Was zum …«

Paul Ostermann kam rasch auf sie zu und fasste nach ihrer Hand.

»Leo, Sie Ärmste! Es tut mir so leid!«

Aus der Küche meldete sich eine weitere Stimme.

»Hier ist offenbar nichts angerührt worden.« Kommissar Sandved streckte seinen Kopf um die Ecke. Leos Knie drohten nachzugeben. Als er sie sah, schossen seine Augenbrauen in die Höhe.

Paul Ostermann hielt immer noch ihre Hände umklammert. »Leo, wie sehen Sie denn aus?«

Sie machte sich los. »Würde mir bitte mal jemand erklären, was hier los ist?«

»Sieht so aus, als wäre mir jemand zuvorgekommen«, sagte Sandved und kam aus der Küche geschlendert. »Ihre Wohnung wurde gründlich durchsucht.«

***