Die Berlinerin

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Die Berlinerin
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Ilka-Maria Hohe-Dorst

Die Berlinerin

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Kleid

Der Zug

Prenzlauer Berg

Sommersprosse

Köln

Eskalation

Brief aus Berlin

Weihnacht

Mr. Right

Café Choccocino

Die Entscheidung

Freunde

Rivalen

Potsdam

Café Haferkater

Berlin-Wedding

Der Hinterhalt

Julians Warnung

Der Seidenschal

Hanau

Koma

Epilog

Impressum neobooks

Das Kleid

Eriks Magen rumorte. Was in gedämpften Intervallen begonnen hatte, war mittlerweile einem lauten Knurren gewichen, das sich nicht mehr ignorieren ließ. Also überlegte er, wo er sich zum Mittagessen niederlassen konnte, um nicht bald vor Entkräftung mitten in der Hanauer Innenstadt weiche Knie zu bekommen.

Wie jeden Morgen hatte sein Frühstück lediglich aus schwarzem, ungesüßtem Kaffee bestanden, was ihm Nadjas missbilligenden Blick eingetragen hatte. Sie hielt es für unvernünftig, sich den leeren Magen mit Kaffee vollzupumpen, aber Erik war ein Morgenmuffel, der erst in Schwung kommen musste, ehe er etwas Festes kauen und schlucken konnte.

Nachdem Nadja zur Arbeit aufgebrochen war, hatte Erik wie gewohnt den Frühstückstisch abgeräumt, die Tassen und Teller zusammen mit dem Geschirr vom Vortag gespült, abgetrocknet und in die Hängeschränke einsortiert. Dann hatte er ihre „To‑do“‑Liste in die Brusttasche seines Hemdes gesteckt und sich auf den Weg in die Innenstadt gemacht. Er war fast zwei Stunden unterwegs gewesen, um ihre Aufträge zu erledigen, ehe er die Reinigung ansteuerte, um ihr Kleid abzuholen. Die Bedienung hinter der Ladentheke hatte eine Ewigkeit danach gesucht, und Erik war unwohl geworden bei dem Gedanken, es könne sich unter der Einwirkung von Chemikalien restlos aufgelöst haben, was unweigerlich Nadjas Zorn und tagelange schlechte Laune nach sich gezogen hätte. Als man es ihm, in eine transparente Schutzfolie gehüllt, endlich überreichen konnte, war ihm ein Stein vom Herzen gerollt.

Mit dem Kleid über der linken Schulter, so dass der Haken des Drahtbügels, der aus der Folie ragte, bei jedem Schritt gegen seine Rippen wippte, erreichte er das Steakhaus im Hotel „Römerhof“. Er fand auf Anhieb einen freien Tisch und warf, während er sich setzte, seine unbequeme Bürde über die Rückenlehne des Nachbarstuhls.

„Ich kann Ihnen das argentinische Rib Eye Steak mit Folienkartoffel und Sour Cream empfehlen.“ Die Bedienung, eine hübsche junge Frau mit einem Pferdeschwanz, die schlanke Figur in hautenge Jeans und eine weiße Bluse gekleidet, lächelte Erik aufmunternd zu. In den Händen hielt sie Block und Kugelschreiber bereit, um die Bestellung aufzunehmen. „Oder möchten Sie die Speisekarte sehen?“

Er winkte ab. „Nein danke. Mir genügt etwas Einfaches, möglichst Leichtes.“

„Dann vielleicht gebratene Garnelen mit Schalotten und Cherry-Tomaten?“

„Klingt gut. Dazu bitte ein Glas Weißwein, trocken.“

„Kalifornischen oder lieber einen Württemberger?“

„Der Württemberger wäre perfekt.“

Sie strahlte ihn an. „Kommt in fünfzehn Minuten. Der Wein natürlich sofort.“

Erik sah ihr mit Wohlwollen nach, wie sie in die Küche tänzelte. Er mochte Menschen, die von ihrem Job erfüllt waren und ihren Kunden das Gefühl gaben, soeben den Ritterschlag empfangen zu haben.

In Erwartung seines schlichten Mahls lehnte er sich auf seinem Sitz zurück und bedankte sich bei einem älteren Kellner, der ihm den Weißwein servierte. Wenigstens ließ ihm Nadja genügend Freiraum, dass er sich ein- bis zweimal in der Woche diesen bescheidenen Luxus leisten konnte. Andere Frauen wären bei ihrem schmalen Budget bestimmt kleinlicher und ließen ihn aus Dosen und Büchsen vom Discounter essen, als sei er ein Hauskater. Schließlich entging ihm nicht, wie es bei anderen Paaren in seinem Freundeskreis zuging. Nadja hingegen verzichtete sogar darauf, dass er über jeden Cent der Ausgaben, die bei den täglichen Erledigungen anfielen, am Wochenende Rechenschaft ablegte.

Erik hatte es lange Zeit für ein großes Glück gehalten, Nadja gefunden zu haben. Oder genauer gesagt: Sie hatte ihn gefunden. Bis dahin hatte er sie im Vorlesungssaal der Goethe-Universität nur flüchtig wahrgenommen, geschweige denn jemals ein Wort mit ihr gewechselt, und es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, sie könne auf ihn, der sich für zurückhaltend und unauffällig hielt, aufmerksam geworden sein. Doch als er den ersten Tiefpunkt seines noch jungen Lebens erfahren und sich von Gott und der Welt verlassen geglaubt hatte, war sie auf ihn zugekommen. „Ich bin Nadja Seeler und möchte dich auf ein Eis einladen“, hatte sie mit kokettem Lächeln, aber tiefem Ernst in den Augen zu ihm gesagt. „Du wirkst ein bisschen verloren, und ich denke, jemand sollte sich um dich kümmern.“

Ihre ungespielte Offenheit hatte ihn verblüfft, so dass er auf ihr Angebot eingegangen und ihr ins Eiscafé Michielin gefolgt war, das nur eine U-Bahn-Station vom Campus entfernt lag . Nachdem die Bedienung ihre Bestellung serviert hatte, war Nadja ungeniert auf den Punkt gekommen: „Ich beobachte seit Wochen, wie du lustlos im Hörsaal herumlümmelst. Durchhänger sind schon mal drin, aber bei dir scheint es ein Dauerzustand geworden zu sein. Läuft’s etwa mit dem Studium nicht?“

„War schon besser. Aber das ist es nicht.“

„Was quält dich dann? Raus damit!“

Erik hatte gezögert, weil er es grundsätzlich für aufdringlich, wenn nicht gar peinlich hielt, andere Menschen mit seinen Sorgen zu behelligen. Andererseits hatte er Nadja, die aufrichtig an ihm interessiert zu sein schien, nicht vor den Kopf stoßen wollen. Auch hatte er begriffen, dass sie nicht der Typ war, der schnell aufgab, sondern über ein unerschöpfliches Repertoire verfügte, einem introvertierten Menschen wie ihm auf die Sprünge zu helfen. „Komm schon! Es kostet doch nichts, sich den Kummer von der Seele zu quatschen. Bleibt auch alles unter uns. versprochen.“ Zur Bekräftigung ihrer Aufrichtigkeit hatte sie die flache Hand auf die Stelle ihrer Brust gelegt, wo das Herz schlägt, so dass Erik sich einen Ruck gab und begann, erst stockend, dann immer flüssiger zu erzählen.

*****

„Mama, du isst ja wieder nichts.“

„Tut mir leid, Erik.“

Er hatte gekocht. Wie jeden Abend. Und wie jeden Abend konnte Margret Durante, die mit dunklen Augenringen vor ihrem Teller saß, vor Müdigkeit kaum das Besteck halten.

„Dein Essen schmeckt wie immer großartig, Erik, an dir ist wirklich ein Sternekoch verloren gegangen. Aber ich bin fix und fertig und gehe besser schlafen.“

Meistens sank sie noch angekleidet auf ihr Bett und zog sich erst am Morgen aus, um zu duschen und sich frische Kleidung überzustreifen. Sie nahm bedenklich schnell ab. Erik plagten Schuldgefühle, denn Margret hatte sich ein Ziel gesetzt, von dem nicht einmal Gott sie hätte abbringen können: Erik sollte studieren, und dafür war ihr jeder Einsatz recht. Sie fuhr mit ihrem Taxi erheblich mehr Stunden am Tag, als gesetzlich zulässig waren, denn nur so konnte sie genügend Geld nach Hause bringen, dass es für den Unterhalt und die Finanzierung des Studiums reichte.

Eigentlich Drogistin von Beruf, hatte sich Margret als Taxifahrerin selbständig gemacht, nachdem ihr Arbeitgeber gezwungen gewesen war, seine Drogerie zu schließen und die Mitarbeiter zu entlassen. Mit den Drogerieketten, die immer stärker den Markt beherrschten, hatte er auf Dauer nicht konkurrieren können. Margaret musste schon bald begreifen, dass sie keine Chance hatte, bei einer dieser Drogerieketten ausreichend entlohnt zu werden, um ihren Lebensstandard und Eriks Studium weiterhin finanzieren zu können. Eine Fernsehdokumentation über Taxifahrer in Berlin hatte sie schließlich auf die Idee gebracht, für die Taxifahrerprüfung zu lernen, einen Kredit aufzunehmen und ein Fahrzeug zu leasen. Das Risiko, das mit einer unternehmerischen Tätigkeit verbunden gewesen war, hatte ihr zwar Herzdrücken bereitet, war ihr jedoch annehmbarer erschienen, als sich arbeitslos zu melden und dem Staat auf der Tasche zu liegen.

 

Die Prüfung war anspruchsvoll gewesen, aber Margaret hatte sie souverän bestanden. Schon bald genoss sie den Respekt der Taxifahrerkollegen und begann, ihren neuen Beruf zu lieben.

Als sie sich eines Nachmittags mehrere Stunden lang nicht über Funk gemeldet hatte und auch bei Einbruch der Nacht nicht an ihren Halteplatz zurückgekehrt war, wurden die Kollegen und die Mitarbeiter in der Taxi-Zentrale nervös und informierten die Polizei. Die Einsatzbeamten, die bereits von Verkehrsteilnehmern über ein Autowrack auf der Bundesstraße 8 informiert worden waren und nach der beschriebenen Stelle suchten, fanden Margrets Taxi an einem Brückenpfeiler und ihren reglosen Körper in einem nahen Gebüsch, wohin er durch die Windschutzscheibe geschleudert worden war, weil sie sich nicht angeschnallt hatte.

In der Klinik erkannten die Ärzte auf den ersten Blick, dass ihre Chancen schlecht standen. Ihr Brustkorb war eingedrückt und hatte die Lunge zerquetscht, so dass die Chirurgen jede einzelne Rippe an Silberdrähten aufhängen mussten, um das Organ zu entlasten. Sie kämpften vergeblich: Drei Tage nach dem Unfall war Margret tot.

Erik stand über Nacht vor dem Nichts.

*****

Nadja hatte zugehört, ohne Erik zu unterbrechen. Sie saßen vor ihrem zweiten Eis.

„Und jetzt?“

„Was schon? Die Studiengebühr ist bis Ende des Semesters bezahlt. Dann muss ich aussteigen. Allein kann ich das nicht stemmen.“

„Was ist mit deinem Vater? Kann er dir nicht helfen?“

Erik hatte die Augenbrauen hochgezogen. „Welcher Vater? Wie kommst du darauf?“

„Wieso? Jeder Mensch hat einen Vater.“

„Ich nicht.“

„Wie?“

„Ich kenne meinen Vater nicht. Für mich hat es nie einen gegeben.“

Nadja hatte begriffen und nicht weiter danach gefragt.

„Ich habe für mein Studium gebrannt, Nadja. Nach fünf Semestern Soziologie wusste ich, was ich später machen wollte. Psychologie draufpacken und dann in die Welt der Organisations- und Arbeitspsychologie einsteigen … das wäre total spannend geworden. Die Menschen müssen immer stärker mit Zeitmanagement, Teamarbeit und psychischen Belastungen fertig werden. Das Fach hat irre viel Zukunft. Aber für mich ist das jetzt aus und vorbei.“

„Stimmt. Riesig spannende Themen. Das war auch für mich der Grund, Soziologie zu studieren. Und deshalb sind wir uns über den Weg gelaufen und sitzen jetzt hier. Du musst weitermachen, Erik. Unbedingt.“

„Hast du mir nicht zugehört, Nadja? Ich kann es nicht aus eigener Tasche bezahlen. Die paar Kröten, die meine Mutter sparen konnte, reichen gerade mal, um noch eine Weile die Miete und meinen Lebensunterhalt zu finanzieren. Nach diesem Semester ist für mich Schluss. Ich muss sehen, dass ich schnellstens an Arbeit komme.“

„Ich könnte meinen Vater bitten … Er hätte Verständnis. Weißt du, um Geld musste ich mir nie Sorgen machen. Meine Eltern sind … “

Erik unterbrach sie und schüttelte energisch den Kopf. „Akademiker in den gehobenen Kreisen des vornehmen Frankfurter Westends, die ihrer Tochter jeden Wunsch erfüllen würden. Oder erfolgreiche Manager eines Industrieunternehmens. Vergiss es, Nadja. Ich will von niemandem abhängig sein. Ich muss selbst meinen Weg finden.“

„Sie sind beide Zahnärzte, und Papa praktiziert außerdem als Kieferchirurg. Es würde ihm nichts ausmachen, einem Studenten unter die Arme zu greifen.“ Als Erik schwieg, zuckte sie die Schultern und seufzte. „Aber wie du meinst.“

Sie hatten ihre dritte Portion Eis verspeist und über zwei Stunden miteinander geplaudert, ehe sie aufbrachen und sich für ein nächstes Mal verabredeten. Von da an hatten sie sich regelmäßig getroffen, und nach wenigen Wochen waren sie ein Paar.

Als Nadja ihr Studium beendet und eine Assistenzstelle in einem Beratungsunternehmen gefunden hatte, willigte Erik ein, mit ihr in eine bezahlbare Wohnung nach Hanau zu ziehen. Über ihre junge Liebe und den harmonisch verlaufenden, sorgenfreien Alltag verblassten allmählich seine einstigen Ideale und Zukunftspläne, und er sah seine Aufgabe mehr und mehr darin, Nadja den Rücken zu stärken, indem er ihr die häuslichen Pflichten abnahm. Auch wenn sich in der letzten Zeit beim Nachsinnen über Adornos berühmten Aphorismus, es gebe kein richtiges Leben im falschen, Störgefühle meldeten, konnte er sich damit beschwichtigen, ein moderner junger Mann zu sein, der seine Identität nicht mehr an eine traditionelle, längst obsolet gewordene Männerrolle knüpfen musste.

*****

„Noch einen Württemberger?“

Erik erwachte aus seinen Gedanken, als ihm die Frau mit dem Pferdeschwanz den Teller mit den gebratenen Garnelen servierte. Er nickte: „Gerne.“

Als ihm der köstliche Duft der warmen Speise vom Teller in die Nase stieg, spürte er, wie ausgehungert er war, und augenblicklich machte er sich über seine Mahlzeit her.

„Das ist ein außergewöhnlich hübsches Kleid. Die Farbe ist faszinierend. Eine Augenweide.“

Erik schaute von seinem Teller auf. Die Frau am Nebentisch, in deren Stimme etwas nachklang, das ihn an das volltönende und zugleich zarte Spiel einer Harfe denken ließ, hatte weit auseinanderstehende, graugrüne Augen. Er folgte ihrem Blick auf Nadjas Kleid, das durch die Schutzfolie schimmerte. Es war aus einem mattglänzenden Stoff, der von hellblau über türkis bis zu meergrün changierte. Erik hatte die Farbe bisher nicht bewusst wahrgenommen. Wäre er nach ihr gefragt worden, hätte er wahrscheinlich ratlos mit den Schultern gezuckt. Doch jetzt erinnerte er sich daran, einmal in einem Buch über die Symbolik von Farben gelesen zu haben, dass einige Sprachen dieser Welt nicht zwischen Blau und Grün unterscheiden, sondern darin die gleiche Farbe sehen, jedoch in unzähligen Nuancen.

Die Frau lächelte Erik zu, und er lächelte einen kurzen Moment zurück, doch lange genug, um ihre grazile Gestalt, ihren blassen Teint und die Sommersprossen auf ihrer Nase wahrzunehmen. Ihr brünettes Haar hatte einen leichten, kaum wahrnehmbaren Rotstich. Ein bisschen erinnerte sie ihn an die französische Schauspielerin Isabelle Huppert.

Als die Bedienung an den Tisch der Frau trat, um ihr das bestellte Menü zu servieren, wünschte Erik guten Appetit und wandte sich wieder seinem Teller zu. Er aß zu Ende, trank seinen Wein aus und winkte der Bedienung, dass er bezahlen wolle.

Ihm war nicht bewusst, welcher Teufel ihn ritt, als er Nadjas Kleid nahm und es über die Rückenlehne eines der freien Stühle am Tisch der Frau schwang. „Es scheint für Sie gemacht zu sein. Bestimmt sehen Sie darin fantastisch aus.“

Schnellen Schrittes, als treibe ihn die Sorge, es sich im letzten Moment anders zu überlegen und das Kleid wieder an sich zu nehmen, verließ er das Restaurant. Draußen war ihm, als habe ihm die Frau etwas hinterhergerufen, nicht laut, um kein Aufsehen zu erregen, sondern gerade noch hörbar. Doch er ignorierte es und ging weiter. Erst nach einer Weile begann er sich zu fragen, warum er ihr Nadjas Kleid nur deshalb überließ, weil es ihr gefallen hatte. Welches Recht hatte er überhaupt, über etwas zu verfügen, das nicht sein Eigentum war? Und dennoch hatte er die tiefe Überzeugung, etwas Richtiges und Sinnvolles getan zu haben. Er konnte nur keine Antwort auf die Frage finden, warum.

Und was sollte er Nadja beichten, wenn er ohne das Kleid nach Hause kam?

Wie befürchtet, lief seine Ausrede ins Leere. „Wieso haben sie mein Kleid nicht gefunden? Sie haben eine Woche Zeit gehabt, also wieso sollte es noch nicht fertig sein?“

„Es war halt nicht da. Weshalb ist gerade dieses Kleid so wichtig für dich?“

„Mein Gott, bist du wirklich so blöd? In diesem Kleid habe ich dich kennengelernt. Und ich hab’s getragen, als wir uns zum ersten Mal küssten. Weißt du das nicht mehr?“

Erik strengte seinen Kopf an, doch er hatte keinen blassen Schimmer, was Nadja trug, als er sie zum ersten Mal küsste. Eher hatte ihn beschäftigt, was unter dem Kleid dieser hinreißend schönen Studentin mit der atemberaubenden Figur zu erkunden war. Als er allmählich begriff, was ihr Herz bewegte, verspürte er Schuldgefühle. „Doch, doch, Schatz. Alles gut. Ich gehe morgen noch einmal zur Reinigung und frage nach. Vielleicht ist es ja inzwischen aufgetaucht.“

Nadja schnaubte ihn an. „Lass es. Ich gehe selbst hin. Du bist einfach zu nichts zu gebrauchen. Was machst du eigentlich den ganzen Tag?“

Der Vorwurf versetzte Erik einen Stich, doch er verzichtete darauf, aufzuzählen, was er alles erledigt hatte, denn Nadja hörte seit langem nur unkonzentriert, wenn überhaupt noch zu, und schon gar nicht kam ihr ein Wort der Anerkennung über die Lippen.

Er schützte Bedauern und Mitgefühl vor, als sie von ihrer Exkursion zur Reinigung unverrichteter Dinge zurückkam: Das Kleid sei abgeholt worden, habe man ihr gesagt, aber damit habe sie sich nicht abspeisen lassen und gefordert, herauszufinden, wer es unberechtigterweise mitgenommen hat. Das könne sie wohl erwarten, denn schließlich müsse man doch durch die Folie gesehen haben, ob man das richtige oder falsche Kleidungsstück ausgehändigt bekommen hat. Man habe ihr versichert, weiter danach zu forschen und, sollte man nicht fündig werden, Schadenersatz zu leisten. Sie habe erwidert, damit sei ihr nicht gedient, denn sie hänge an dem Kleid, weil es mit Erinnerungen verknüpft sei, und wenn es nicht mehr auftauchen sollte, könne man ihr den Buckel runterrutschen, und natürlich werde sie sich dann eine andere Reinigung ihres Vertrauens suchen.

Erik war überrumpelt, als sie nach diesem Schwall der Empörung in Tränen ausbrach und sich an seine Brust warf: „Es war unser Kleid!“

Eine Welle der Zärtlichkeit überkam ihn. Er strich über Nadjas Haar, hob ihr Kinn und küsste ihr die Tränen aus dem Gesicht. Ihre Gefühlsoffenheit, in die er sich während ihrer gemeinsamen Zeit an der Universität verliebt hatte, die aber seit Antritt ihrer Stelle bei dem Unternehmensberater unter ihrer Arbeitswut nach und nach verschüttet gegangen war, schien an die Oberfläche zurückzukehren. Er spürte Lust in sich aufsteigen und presste Nadja enger an sich. Wann hatten sie eigentlich zuletzt miteinander geschlafen?

Aber unvermittelt stieß sie ihn weg und wischte sich mit dem Handrücken die Tränen von den Wangen: „Schon gut, Erik, irgendwann muss man sich mit der Realität abfinden. Ich bin ja kein Kind mehr.“

Mea culpa, dachte Erik. Wie hatte er Nadja durch eine spontane Handlung, für die er keine Erklärung hatte, derart verletzen können?

Er musste seinen Fauxpas wiedergutmachen und das Kleid unbedingt zurückholen.

Aber wie?

Der Zug

„Es war unser Kleid!“

Nadjas Kummer klang in Erik nach, doch es fiel ihm schwer, sich in sie hineinzuversetzen, da ihm jede Form von Sentimentalität fremd war. Sogar vom Hab und Gut seiner Mutter hatte er sich nach ihrer Beerdigung ohne Bedauern trennen können. Er vertrat den Standpunkt, dass eine devote Wertschätzung von Erbstücken einen geliebten Menschen nicht ersetzen kann. Ihm genügte die Kostbarkeit seiner Erinnerungen, und jedes Mal, wenn er besonders intensiv an seine Mutter dachte, empfand er eine tiefe Traurigkeit.

Aber Nadja war anders als er, das hatte er falsch eingeschätzt. Sie hatte enttäuscht einen leeren Pappkarton geschlossen und dabei gesagt, sie habe das Kleid zur Reinigung gebracht, obwohl es ihr inzwischen zu eng geworden war, weil sie es sauber und ordentlich habe wegpacken wollen, wie es Bräute nach der kirchlichen Trauung mit ihrem Hochzeitskleid zu tun pflegen.

Auch wenn sie so getan hatte, als könne sie sich mit dem Verlust des Kleides abfinden, falls es wirklich nicht mehr auftauchen sollte, stand ihr der Gram darüber in den Augen und nährte Eriks schlechtes Gewissen. Die Idee, eine Anzeige aufzugeben, um die fremde Frau ausfindig zu machen, verwarf er, denn hätte Nadja zufällig davon Wind bekommen, wäre seine Lügengeschichte aufgeflogen. Stattdessen ging er jeden Mittag von der Jahnstraße in die Hanauer Innenstadt und trottete die Salzstraße entlang bis zu dem großen Platz vor dem Rathaus, auf dem das Brüder-Grimm-Denkmal steht und zweimal in der Woche, mittwochs und samstags, der Markt abgehalten wird. Von dort bog er nach rechts in die Fahrstraße ein und lief bis zum Freiheitsplatz, dann die Hammerstraße nach Süden bis zur Römerstraße und zum Steakhaus „Römerhof“, immer in der Hoffnung, die fremde Frau irgendwo bei einem Stadtbummel oder in einem Straßencafé zu entdecken.

 

Eine Woche lang schaute er vergeblich nach ihr aus, dann verlor er die Zuversicht, ihr noch einmal zu begegnen, und so gab er die Suche auf.

Am Samstag darauf machte er sich auf seine gewohnte Tour für den Wochenendeinkauf. Auf dem Marktplatz vor dem Rathaus wimmelte es vor Menschen, die sich um die Stände drängten, um frisches Obst und Gemüse zu kaufen oder bei einem der Winzer ein Glas Wein zu trinken. In der Römerstraße, die südlich am Markt vorbeiführt, hatte sich vor der Tiefgarage eine lange Autoschlange gebildet, die ruckweise in das Gebäude kroch.

Erik tauchte in das Marktgetümmel ein. Er sollte einen Kopfsalat, eine Gurke („sie darf getrost krumm sein“), Äpfel, Weintrauben und ein Bauernbrot nach Hause bringen. An verschiedenen Ständen blieb er stehen, um die Qualität der Angebote zu prüfen und die Preise zu vergleichen.

Er hatte sich noch nicht entschieden, bei welchen Händlern er kaufen wollte, als ihm eine markante Farbe in den Blickwinkel fiel, die sein Augenmerk zum Verkaufswagen eines Metzgers lenkte. Dort waren nur wenige Menschen unterwegs, so dass Erik freie Sicht hatte und die Frau deutlich erkennen konnte, die sich von dem Metzger bedienen ließ. Ihr Anblick kam für Erik so unerwartet, dass er reglos, als sei er in Trance, zu ihr hinüberstarrte. Nadjas blaugrün schillerndes Kleid passte dieser Frau wie maßgeschneidert, und wie Erik prophezeit hatte, sah sie hinreißend darin aus. Sie war größer, als er sie im Steakhaus geschätzt hatte, so dass das Kleid knapp über ihren Knien endete und ihre schlanken, festen Waden sehen ließ.

Erik und sie trennten nur wenige Schritte voneinander, aber er war so überrascht von ihrem Auftauchen, dass er nicht wusste, wie er handeln sollte. Er blieb einfach stehen und beobachtete sie weiter. Sie ließ sich ein belegtes Brötchen einpacken, das sie in ihrer Umhängetasche verstaute, bevor sie bezahlte und ihr Wechselgeld empfing. Sie hatte Gepäck dabei, einen mittelgroßen, rollbaren Schalenkoffer, der mit den Sehenswürdigkeiten europäischer Metropolen bedruckt war. Obenauf befand sich eine Fototasche, die sie mit einem Vorhängeschloss am Ausziehgriff des Rollkoffers befestigt hatte.

Sie schaute auf ihre Armbanduhr und setzte sich in Richtung Ostseite des Marktes in Bewegung. Erik ging ihr nach, als stünde er unter einem Zauber und hätte keine andere Wahl, als die Anweisung seines Meistermagiers zu befolgen.

In der Lotto-Verkaufsstelle am Parkhaus deckte sich die Frau mit einer Tageszeitung und zwei Zeitschriften ein. Dann rollte sie ihren Koffer die Fahrstraße entlang in Richtung Freiheitsplatz. An der Bushaltestelle der Linie 1, die zum Hauptbahnhof fuhr, stellte sie sich zu den Wartenden. Erik hielt genügend Abstand, um nicht in ihr Blickfeld zu geraten. Als der Bus kam und anhielt, stieg er nach ihr ein und achtete beim Hinsetzen darauf, von anderen Fahrgästen abgeschirmt zu sein und sein Gesicht so wenig wie möglich zu zeigen.

Nach etwa zehn Minuten Fahrt erreichten sie den Hanauer Hauptbahnhof, und die Frau stieg aus. Erik folgte ihr in das Gebäude. Sie ging die Treppe zum Gleis 7 hinauf, setzte sich auf eine der Bänke und begann, in den Zeitschriften zu blättern. Offensichtlich war sie auf eine längere Wartezeit eingestellt.

Erik hielt sich abseits und behielt den Bahnsteig im Blick. Die Frau interessierte sich weder für das Display, noch für die einlaufenden Züge. Erst als gegen 15:30 Uhr der Zug nach Berlin einrollte, blickte sie auf, packte ihre Zeitschriften und die Tageszeitung zusammen und schob sie in ihre Umhängetasche. Dann erhob sie sich und zog ihren Rollkoffer die Waggons entlang, bis sie die richtige Nummer fand, wartete, bis alle Fahrgäste ausgestiegen waren, und kletterte hinauf.

Als sie verschwunden war, stieg Erik ebenfalls ein. Er sah, dass sie nach ihrem reservierten Sitz suchte und sich an einen Fensterplatz in der Mitte des Waggons niederließ. Erik blieb im Türbereich stehen, bis alle Fahrgäste eingestiegen waren und ihre Plätze eingenommen hatten. So verharrte er, bis die Türen geschlossen waren und der Zug sich behäbig wie ein sattes Tier in Bewegung setzte.

Einen Moment lang wunderte sich Erik über sich selbst. Auf was ließ er sich gerade ein? Warum war er nicht rechtzeitig ausgestiegen? Hatte er völlig den Verstand verloren?

Da er keine Antworten fand, schüttelte er die Fragen von sich ab und betrat entschlossen den Großraum des Waggons. Der Zug hatte das Bahnhofsgebäude hinter sich gelassen und Fahrt aufgenommen, so dass der Boden unter Eriks Füßen schwankte und er sich beim Vorwärtspendeln an den Sitzlehnen festhalten musste, bis er den Platz der Frau erreichte.

„Ich wusste es: Das Kleid steht Ihnen ausgezeichnet.“

Sie wandte ihren Blick vom Fenster ab und sah überrascht an Erik hoch. „Sie? Was machen Sie denn hier?“

„Ich wollte Sie wiedersehen. Einfach war’s nicht. Hat mich ziemlich viel Geduld gekostet und wäre auch beinahe schief gegangen.“

„Sie haben gar kein Gepäck dabei. Und für jemand, der auf Reisen geht, sind Sie ziemlich leicht bekleidet.“

Erik sah auf seine hellblaue Leinenhose und die braunen Sandalen hinunter und zuckte die Schultern. „Vor zwei Stunden hatte ich noch keine Ahnung, dass ich in diesen Zug steigen würde.“

Die Frau runzelte die Stirn. In ihren Augen stand Argwohn. „Sie sind nicht etwa auf Drogen … oder? Und Sie wissen hoffentlich, wo Sie wohnen. Was Sie tun, scheinen Sie jedenfalls nicht immer zu wissen.“

„Jahnstraße in Hanau, Altbau, zweiter Stock, Fenster zur Straße. Keine Drogen. Ihre dritte Vermutung stimmt allerdings, sonst hätten Sie ein anders Kleid an, und ich wäre jetzt nicht hier.“

Sie lächelte amüsiert. „Sie müssen völlig verrückt sein.“

„Ganz im Gegenteil, ich habe mich schon lange nicht mehr bei so klarem Verstand gefühlt wie gerade jetzt. Sie fahren bis Berlin?“

Sie nickte. „Prenzlauer Berg. Dort bin ich zu Hause.“

Er deutete auf den leeren Sitz neben ihr. „Darf ich?“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, setzte er sich zu ihr.

Ein Schaffner betrat den Waggon, um die Fahrscheine der Reisenden zu kontrollieren. Erik löste bei ihm ein Ticket nach Berlin, was ihn beinahe seine gesamte Barschaft kostete und ihm beim Schließen seines Portemonnaies einen Seufzer entlockte. Die Frau konnte ihr Lachen nicht zurückhalten. „Sie sind wirklich ein total übergeschnappter Kerl. Hoffentlich haben Sie eine Kreditkarte dabei, sonst werden Sie in Berlin nicht weit kommen. Warum tun sie das alles überhaupt, Mr. Crazy?“

Erik blickte einen kurzen Moment zum Fenster hinaus, um über seine Antwort nachzudenken. Draußen schien die Landschaft an ihm vorbeizufliegen. „Mag sein, dass ich einen reichlich schrägen Eindruck auf Sie mache“, gab er schließlich zu, „aber die Wahrheit ist, dass ich Sie nicht noch einmal aus den Augen verlieren will, nachdem ich Sie wiedergefunden habe.“

„Was meinen Sie mit ‚wiedergefunden‘? Sie kennen mich doch gar nicht.“

Statt auf die Frage einzugehen, zog Erik es vor, das Thema zu wechseln. „Verraten Sie mir, wie Sie heißen?“

Sie zögerte kurz, ehe sie antwortete. „Romina Bonero. Meine Freunde nennen mich Romy.“

„Hübscher Name. Gefällt mir.“

„Eigentlich heiße ich Rosa-Maria Müller. Banal und scheußlich altmodisch, finden Sie nicht? Romina Bonero ist mein Künstlername.“

„Oh, und was machen Sie?“

„Was ich mache? Ich sitze in einem Zug und lasse mich auf eine Unterhaltung mit einem durchgeknallten Waggonhopper ohne Gepäck ein, der versucht, mich anzubaggern.“

Erik musste über ihre Schlagfertigkeit lachen. „Der Punkt geht an Sie, Romy Bonero. Also nochmal meine Frage: Was machen Sie künstlerisch, um Ihre Brötchen zu verdienen?“

„Verschiedene Dinge. Modell stehen für Versandhaus-Mode, fotografieren für Zeitschriften. Manchmal bekomme ich auch Aufträge, für Reportagen zu recherchieren. Ich mache alles Mögliche, sozusagen querbeet, solange es sich für mich spannend anhört.“

„Eine ‚Hanna-Dampf in allen Gassen‘ also, die für den Job eines Vorzimmerdrachen nicht zu begeistern wäre.“

„Ich bin gerne unabhängig. Routine und Bürostaub würden mich umbringen.“

„Was haben Sie in Hanau gemacht? Das ist nicht gerade eine der interessantesten Städte in Deutschland. Nicht einmal in Hessen.“

„Sagen Sie das nicht, Mr. Crazy. Wie heißen Sie eigentlich?“

„Erik. Erik Durante. Ich bin siebenundzwanzig Jahre alt, ein verkrachter Student der Soziologie, ohne Berufsausbildung und arbeitslos. Was möchten Sie noch wissen?“

„Das genügt, den Rest sehe ich selbst“, antwortete Romy mit wohlwollendem Blick, der Erik nicht entging. Obwohl er nicht die Jugendausgabe eines Harrison Ford war, fanden ihn die meisten Frauen attraktiv, besonders wegen des Kontrasts seines breiten Kinns und der kräftigen, etwas zu langen Nase mit seinen ansonsten weichen Gesichtszügen. Dazu war er groß und gut gebaut, ein Jogging-Typ.

„Also, Mr. Crazy“, schickte sich Romy an, seine Frage zu beantworten, „ich war hier, um für eine Reportage über die demokratischen Bewegungen in Hanau von 1830 bis zur Revolution von 1848 zu recherchieren. Auch über die damals entstandene erste Eisenbahnstrecke von Hanau nach Frankfurt.“