Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band

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Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band
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Hugo Friedländer

Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band

Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit

Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band

Hugo Friedländer

Darstellung merkwürdiger Strafrechtsfälle aus Gegenwart und Vergangenheit

Impressum

Texte: © Copyright by Hugo Friedländer

Umschlag: © Copyright by Walter Brendel

Verlag: Das historische Buch, 2022

Mail: walterbrendel@mail.de

Druck: epubli - ein Service der neopubli GmbH,

Berlin

Inhalt

Ein Presse-Skandal

Die Vorgänge in der Provinzial-Arbeitsanstalt zu Brauweiler vor Gericht

Manolesco, der König der Diebe vor Gericht

Der Brand der Neustettiner Synagoge vor den Schwurgerichten zu Köslin und Konitz

Massenmörder Hugo Schenk und Genossen vor einem Wiener Ausnahmegerichtshof

Die Ermordung des Justizrats Levy

Der Zopfabschneider vor Gericht

Eine Rittergutsbesitzerin wegen Anstiftung zur Ermordung ihres Gatten vor den Geschworenen

Der König der Spieler Rudolf Stallmann und Genossen auf der Anklagebank

Ein Presse-Skandal

Erpressungsprozeß gegen die Redakteure des »Unabhängigen« vor der I. Strafkammer des Landgerichts Berlin I (Juni 1883).

Die Grundlage aller modernen Kultur ist zweifellos die Buchdruckerkunst. Ohne die großartige Erfindung Johann Gutenbergs wäre es kaum möglich gewesen, die Werke Rousseaus, Goethes, Schillers und aller anderen geistigen Heroen der Nachwelt zu überliefern. Selbst die Reformation wäre ohne die Buchdruckerkunst kaum durchführbar gewesen. Wie wäre es ohne die Buchdruckerkunst um die medizinische Wissenschaft, ja um die Wissenschaft überhaupt bestellt? Allerdings gab es lange vor Gutenberg, selbst im grauen Altertum, eine ziemlich hochentwickelte Kultur. Es soll sogar vor Erfindung der Buchdruckerkunst in Deutschland geschriebene Zeitungen gegeben haben. Man kann es sich aber heute kaum vorstellen, daß es vor 500 Jahren noch keine Buchdruckerkunst und folgerichtig auch keine Presse gegeben hat. Ich behaupte jedenfalls nicht zuviel, wenn ich die Presse als den ersten Kulturfaktor bezeichne. Ohne Presse wäre es wohl kaum möglich gewesen, den Aberglauben und die damit verbundene Barbarei des Mittelalters zu überwinden. Die Presse wird die siebente Großmacht genannt. Das trifft heute kaum noch zu. Die Presse hat eine Bedeutung erlangt, daß sie fast als erste Großmacht bezeichnet werden kann. Im November 1879 hielt der verstorbene Hofprediger Stöcker einen Vortrag über die Presse und bezeichnete sie als erste Großmacht. Selbst die Mächtigen dieser Erde verkennen nicht die Macht der Presse. Der mächtigste Kanzler des Deutschen Reiches, Fürst Otto von Bismarck, der fast drei Jahrzehnte die Geschicke Europas geleitet hat, war aufs emsigste bemüht, Einfluß auf die Presse zu gewinnen. Ferdinand Lassalle äußerte sich im Jahre 1863 in seiner »göttlichen Grobheit« etwas sehr abfällig über die Presse. Er sagte von den »Zeitungsschreibern«: »Zu unfähig zum Elementarschullehrer, zu faul zum Postschreiber, zu keiner anderen bürgerlichen Hantierung fähig, fühlt er sich berufen, Volksbildung und Volkserziehung zu treiben.« Wer wollte bestreiten, daß diese Worte noch heute auf verschiedene »Journalisten« zutreffen. Fürst Bismarck sagte einmal; »Die Journalisten sind fast sämtlich Leute, die ihren Beruf verfehlt haben.« Bismarck hatte insofern recht, als es noch heute keinen akademischen Lehrstuhl für Journalistik gibt. Trotzdem sind die Anforderungen, die an einen wirklichen Journalisten gestellt werden, sehr hohe und vielseitige. Ich glaube auch nicht, daß durch Schaffung akademischer Lehrstühle für Journalistik die Zahl der tüchtigen Journalisten eine größere werden würde. Die Ausübung der Journalistik läßt sich nicht erlernen. Es gehört dazu in erster Reihe Talent und Befähigung. Wer nicht Talent und Befähigung zum Journalisten besitzt, sollte es nicht werden. Ich halte deshalb die Journalistenschulen, auch die »journalistischen Hochschulen« für gänzlich wertlos. Bis zum Inkrafttreten des Reichspreßgesetzes (1. Juli 1874) mußte für Herausgabe einer Zeitung eine ziemlich hohe Kaution in mündelsicheren Papieren bei der Ortspolizei hinterlegt und eine hohe Stempelsteuer, die nach der Auflage der Zeitung bemessen wurde, allvierteljährlich gezahlt werden. Seit Aufhebung dieser Bestimmungen hat sich das Zeitungswesen ganz unendlich entwickelt. Es ist begreiflich, daß damit Auswüchse verbunden gewesen sind. Jeder Provinzbuchdrucker ist in der Lage, eine Zeitung herauszugeben. In der Hauptsache gehört dazu eine Schere, ein Kleistertopf und ein Pinsel. Die Mitarbeiter der größeren Zeitungen sind gleichzeitig seine unfreiwilligen und selbstverständlich unbezahlten Mitarbeiter. »Geistiges Eigentum« sind vielen Zeitungsherausgebern unbekannte Dinge. Die Richter in der Provinz und auch die sogenannten Sachverständigenkommissionen bekunden bei Klagen wegen unerlaubten Nachdrucks oftmals eine geradezu erstaunliche Weltfremdheit, zumal die Sachverständigenkommissionen zumeist nicht aus Fachleuten bestehen. Daher kommt es, daß viele, selbst sehr befähigte Journalisten und Schriftsteller, die doch zweifellos zu den Pionieren der Kulturbewegung gehören, trotz großen Fleißes mit großen Nahrungssorgen zu kämpfen haben. Es ist geradezu ungeheuerlich, daß sogenannte Sachverständigenkommissionen spaltenlange Berichte über Gerichtsverhandlungen, Kongresse und Versammlungen als vogelfreies Zeitungsmaterial bezeichnen. Wenn im großen Publikum die Ansicht herrscht, ein Bericht über eine Gerichtsverhandlung, Kongreß oder Versammlung sei keine geistige Arbeit, da doch der Berichterstatter nur sein Stenogramm den Zeitungen gesandt hat, so kann man über diese Naivität lächeln, es vielleicht auch bedauern, daß in unserem fortgeschrittenen Zeitalter noch derartige Anschauungen herrschen. Wenn aber eine aus Gelehrten zusammengesetzte »Sachverständigenkommission« dieser Ansicht Ausdruck gibt, also ein Urteil abgibt, das als Grundlage eines richterlichen Urteils zu gelten hat, so ist das sehr bedauerlich. Wissen die gelehrten Sachverständigen wirklich nicht, daß die erwähnten Berichte nicht Stenogramme, sondern mit Blitzgeschwindigkeit gemachte Aufzeichnungen der interessantesten und wichtigsten Vorgänge sind? Ein wörtliches Stenogramm wäre schon, aus Anlaß der Länge und des Mangels an jeder Lebendigkeit, als Zeitungsbericht nicht zu verwenden. Wäre die Ansicht der Sachverständigen richtig, dann brauchten die Zeitungen keine geschulten Berichterstatter. Der erste beste junge Mann aus der Expedition, der gut stenographieren kann, genügte, um über die wichtigsten Prozesse, Kongresse und Versammlungen zu berichten. Daß zur Berichterstattung ein sehr umfassendes, gründliches Wissen erforderlich ist, um einmal die Themata zu beherrschen und andererseits das Wichtige vom Unwichtigen sondern zu können, und daß auch die Beherrschung der deutschen Sprache in vollendetster Form notwendig ist, sollten auch gelehrte Sachverständige und auch gelehrte Richter begreifen. Prinz Heinrich von Preußen, Bruder des Kaisers Wilhelm II., hat vor einigen Jahren auf einem Festmahl in Amerika die Vertreter der Presse mit »kommandierenden Generalen« verglichen. Es wird mehrfach behauptet, der Prinz habe mit diesem Ausspruch nur die amerikanischen Journalisten im Auge gehabt. Ich teile diese Ansicht, zumal die Journalisten in Deutschland und vornehmlich in Berlin noch vielfach mit Geringschätzung behandelt werden. Dank dem Fortschritt der Kultur ist es allerdings auch in dieser Beziehung besser geworden. Vor dreißig bis vierzig Jahren wurden die Vertreter der Presse, insbesondere die Berichterstatter in Versammlungen, bisweilen en canaille behandelt. In antisemitische Versammlungen konnte man sich in Berlin in den 1880er Jahren nur mit Lebensgefahr wagen. Aber nicht nur die Berichterstatter jüdischer Religion oder jüdischer Abkunft, auch die arischer Abkunft wurden beschimpft und zum Teil tätlich beleidigt. Im Januar 1881 war ich in einer in der Großen Frankfurter Straße stattgefundenen antisemitischen Versammlung. Ich wagte nicht, mich an den Pressetisch zu setzen, sondern stand unerkannt unter den Zuhörern, »eingekeilt in drangvoll fürchterlicher Enge«. Da plötzlich, inmitten der Rede des Dr. Ernst Henrici ertönte von der Galerie der Ruf: »Hier schreibt eener.« unter den Rufen: »Jude raus, Preßlümmel raus« und unter ungeheurem Tumult wurde ein junger Mann, der keineswegs den Eindruck eines Juden machte und von dem nicht feststand, daß er Berichterstatter war, die Treppe hinunter und aus dem Saale hinausgeprügelt. Das meiste Entgegenkommen haben die Berichterstatter von jeher auf den deutschen Katholikentagen, auf den Generalversammlungen des Bundes der Landwirte, früher auf den Generalversammlungen der nationalsozialen Partei und seit einiger Zeit auch auf den sozialdemokratischen Parteitagen gefunden. Die Behandlung der Berichterstatter seitens der Gerichtsvorsitzenden ist allmählich besser geworden. Der Korpsgeist unter den Journalisten läßt, trotz der vielen Fachvereine, noch viel zu wünschen übrig.

 

Vor Inkrafttreten des Reichspreßgesetzes gab es mehrfach sogenannte Sitzredakteure. Die von dem verstorbenen »roten Krämer« Anfang der 1870er Jahre redigierte »Deutsche Freie Zeitung« setzte dem Unfug geradezu die Krone auf. An der Spitze dieser Zeitung stand: Verantwortlicher Redakteur J.C. Fraas, Dienstmann Nr. 107. Das deutsche Reichspreßgesetz gestattet bekanntlich keine Sitzredakteure.1) Jedenfalls ist nicht zu verkennen, daß die Presse eine geradezu unheimliche Macht besitzt. Um so mehr ist es Pflicht aller anständigen Journalisten, darauf Bedacht zu nehmen, daß mit dieser Macht nicht Mißbrauch getrieben und daß etwaigen Schmarotzern ihr schmutziges Handwerk gelegt wird. Vor einigen Jahren ist es leider zwei Preßbanditen gelungen, den Kommerzienrat Israel, aus Anlaß einer von ihm begangenen sittlichen Verfehlung, zum Selbstmord zu treiben. Zweifellos war Gelderpressung die Triebfeder dieses Schurkenstreichs. Sehr im argen liegt noch die lokale Gerichtsberichterstattung. Der Schweigegelderunfug steht noch immer in Blüte. Andererseits ist zu tadeln, daß Gerichts- und Polizeiberichterstatter oftmals ganz unnötigerweise anständige Leute an den Pranger stellen und dadurch den Ruf und die Existenz ganzer Familien aufs ärgste schädigen. In den letzten Jahren haben mehrere Erpressungsprozesse gegen Journalisten stattgefunden. Ich erinnere nur an den Prozeß Dahsel, der mit der Verurteilung des Angeklagten zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis endete. Den Prozeß Bruhn will ich nicht berühren, da die Angeklagten in diesem Prozeß sämtlich freigesprochen wurden und der Vorsitzende des Gerichtshofs, Landgerichtsrat Lampe, in der Urteilsbegründung ausdrücklich hervorhob: »Der Gerichtshof hat die Überzeugung gewonnen, daß dem Angeklagten Bruhn kein moralischer Makel anhaftet.« Der in diesem Prozeß amtierende Vertreter der Anklage, Staatsanwaltschaftsrat Dr. Leyseringk, hat diese Ansicht nicht geteilt. Jedenfalls reichen alle diese Prozesse nicht im entferntesten an die Bedeutung des Prozesses gegen die Redakteure des »Unabhängigen« heran, der im Juni 1883 die erste Strafkammer des Landgerichts Berlin I beschäftigte. Im Jahre 1874, nachdem weder Kaution noch Stempelsteuer mehr zu zahlen war, gründete der vor einigen Jahren verstorbene Journalist Heinrich Joachim Gehlsen die »Eisenbahnzeitung«. In dieser wurden sogenannte Gründer, Börsenspekulanten u.a. vielfach angegriffen. Gehlsen wurde einige Male wegen Beleidigung angeklagt. Es wurde schon damals behauptet, daß das Blatt ein Revolverblatt sei. Im Jahre 1875 wurde der Titel »Eisenbahnzeitung« in »Reichsglocke« umgewandelt. Die »Reichsglocke« wurde das Leiborgan des im Oktober 1874 auf seinem Gute Nassenheide verhafteten Botschafters des Deutschen Reiches, Grafen Harry von Arnim, der bekanntlich im Dezember 1874 von der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts wegen Hinterziehung amtlicher Aktenstücke zu einem Monat Gefängnis verurteilt wurde. Der erste Strafsenat des Kammergerichts erkannte in contumaciam – Graf Arnim war inzwischen nach der Schweiz gegangen – auf 9 Monate Gefängnis. Die »Reichsglocke« nahm sehr tapfer für den Grafen Arnim Partei und richtete heftige Angriffe gegen den grimmigsten Feind des ehemaligen Botschafters, den Fürsten Bismarck, sowie gegen den damaligen Ersten Staatsanwalt am Berliner Stadtgericht, späteren Oberreichsanwalt Tessendorff und gegen die Richter, die den Grafen Arnim verurteilt hatten. Eines Sonnabends, Anfang Dezember 1876, erschien in der »Reichsglocke« ein längerer Artikel, in dem der Vorsitzende der siebenten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts, Stadtgerichtsdirektor Reich, der Verübung ehrenrühriger Dinge schlimmster Art beschuldigt wurde. Gegen 6 Uhr morgens wurde die Zeitung ausgegeben. Gegen 8 Uhr morgens war bereits der Befehl zur Verhaftung Gehlsens und seines verantwortlichen Redakteurs Schellenberg erteilt. Es gelang aber nur, Schellenberg festzunehmen. Gehlsen war bereits auf dem Wege nach London. Sechs Tage später fand die Verhandlung gegen Gehlsen und Schellenberg wegen verleumderischer Beleidigung, auf Grund der §§ 185, 186 und 187 des Strafgesetzbuches statt. Die Angeklagten wurden, Gehlsen in contumaciam, zu je zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Beide wurden einige Zeit später wegen verleumderischer Beleidigung des Fürsten Bismarck zu längeren Gefängnisstrafen verurteilt. Gegen den Fürsten Bismarck wurde der Vorwurf erhoben: er habe sich für Beschaffung der Konzession zur Gründung der Preußischen Bodenkreditbank mit einer Million Mark beteiligen lassen. Die »Reichsglocke« hatte nach der Flucht Gehlsens aufgehört, zu erscheinen. Ihre Beschuldigung wurde jedoch von dem Redakteur der konservativen »Berliner Revue«, Dr. Rudolf Meyer und dem Landrat a.D. von Diest-Daber weiterverbreitet. Beide wurden deshalb angeklagt. Geh. Kommerzienrat Gerson von Bleichroeder (Berlin) und Geh. Kommerzienrat Freiherr Carl Meyer von Rothschild (Frankfurt am Main) erklärten in beiden Prozessen zeugeneidlich, daß an der Beschuldigung gegen den Fürsten Bismarck kein wahres Wort sei. Dr. Rudolf Meyer wurde im Februar 1877 von der Kriminaldeputation des Berliner Kreisgerichts zu 9 Monaten, von Diest-Daber im Juni 1877 von der dritten Kriminaldeputation des Berliner Stadtgerichts zu 4 Monaten Gefängnis verurteilt.

Gehlsen saß während dieser Zeit längst heiter und wohlgemut an den Gestaden der Themse und korrespondierte unter dem Namen Gottfried Keller für die freikonservative »Post« in Berlin, die zu den größten Verehrerinnen des Fürsten Bismarck zählte. Die Redakteure der »Post« hatten selbstverständlich keine Ahnung, daß ihr Londoner Korrespondent Gottfried Keller der ausgerissene »Reichsglöckner« Heinrich Joachim Gehlsen war. Nach einigen Jahren fuhr der damalige Chefredakteur der »Post«, Dr. Leopold Kayßler, nach London. Dort suchte er selbstverständlich auch seinen langjährigen Korrespondenten Gottfried Keller auf. Wie groß das Erstaunen des Dr. Kayßler war, als ihm der Reichsglöckner Gehlsen als Gottfried Keller entgegentrat, kann man sich ausmalen. Ob Gehlsen alsdann noch weiter für die »Post« korrespondierte, ist mir nicht bekannt. Als Kaiser Friedrich im März 1888 bei seinem Regierungsantritt eine Amnestie für politische und Preßvergehen erließ, kehrte Gehlsen nach Deutschland zurück und schlug in Charlottenburg seinen Wohnsitz auf. Er gab hier die »Charlottenburger Stadtlaterne« heraus. Die Einwohner Charlottenburgs schienen von dem Inhalt dieses Blattes wenig erbaut zu sein. Gehlsen wurde eines Abends in der Berliner Passage von einem Einwohner Charlottenburgs öffentlich geschlagen, weil er in der »Stadtlaterne« bloßgestellt war. Sehr bald darauf wurde Gehlsen verhaftet und wegen Erpressung angeklagt. Die Strafkammer des Landgerichts Berlin II verurteilte ihn Ende Dezember 1899 nach mehrtägiger Verhandlung zu einer längeren Gefängnisstrafe.

Einige Jahre später, nachdem Gehlsen die Strafe längst verbüßt hatte, wurde er im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen. Er hat alsdann weiter die »Stadtlaterne« herausgegeben. Er erschien auch als Zeuge in dem 1907 vor der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin II verhandelten Prozeß wider den Journalisten Adolf Brand, der bekanntlich wegen verleumderischer Beleidigung des Reichskanzlers Fürsten v. Bülow angeklagt war. Brand wurde damals zu 1 Jahr 6 Monaten Gefängnis verurteilt. Er wurde von Rechtsanwalt Dr. Barnau verteidigt. Die Anklage in diesem Prozeß vertrat der Erste Staatsanwalt am Landgericht Berlin II, Preuß, später Oberstaatsanwalt und Chef der Staatsanwaltschaft am Landgericht Berlin I, jetzt Oberstaatsanwalt am Oberlandesgericht zu Königsberg in Preußen. Derselbe Oberstaatsanwalt vertrat in dem Skurczer Ritualmordprozeß (April 1885) vor dem Schwurgericht zu Danzig als Gerichtsassessor die Anklage. Vor einigen Jahren starb Gehlsen in größter Armut in einem Charlottenburger Krankenhause.

Gehlsen hatte, als er noch in Berlin die »Reichsglocke« redigierte, einen »Leibdiener«, namens Wilhelm Grünewald. Dieser, ein ehemaliger Kellner, der, als er noch bei Gehlsen war, gleichzeitig bei der Polizei Spitzeldienste geleistet haben soll, ging, als Gehlsen nach London abgedampft war, zu seinem früheren Metier zurück. Er war auch vorübergehend Hotelbesitzer in Flensburg und schließlich wiederum Kellner in einem großen Restaurant in Hamburg. Schließlich plagte ihn die Eitelkeit, in erster Reihe aber wohl die Geldgier. Er wollte, gleich seinem früheren Herrn und Gebieter, ein berühmter Schriftsteller und gleichzeitig ein reicher Mann werden. Daß ihm alles und jedes Wissen abging, was tat das zur Sache. Er hatte sich als Kellner etwas gespart, er war also manchem routinierten Journalisten über, denn er hatte Geld und die nötige Portion Frechheit, zwei Dinge, die so mancher Journalist nicht besitzt. Grünewald hängte also die Serviette an den Nagel, siedelte nach Berlin über und erstand hier ein unter Ausschluß der Öffentlichkeit erschienenes Wochenblättchen, das den Titel »Der Unabhängige« führte. Was der frühere Besitzer des »Unabhängigen«, ein Herr v. Flotow, mit dem Blättchen bezweckt hatte, ist nicht bekannt geworden. Grünewalds Zweck wurde dagegen sehr bald erkennbar. Sein Zweck war skrupellose Gelderpressung. Die erforderlichen Mitarbeiter waren schnell gefunden, es waren alles geistesverwandte Seelen des zum Zeitungsverleger und Chefredakteur avancierten ehemaligen Kellners und Gehlsenschen Leibdieners. Zu den Hauptmitarbeitern Grünewalds gehörte ein preußischer Hauptmann a.D., Freiherr v. Schleinitz. Selbstverständlich ist wegen Entgleisung eines einzelnen dem preußischen Adel oder gar dem preußischen Offizierkorps nicht der geringste Vorwurf zu machen. Der »Unabhängige« hatte kaum dreihundert zahlende Abonnenten. Darauf kam es Herrn Grünewald aber nicht an. Er bzw. seine Mitarbeiter verstanden es, sich Kenntnis von dunklen Punkten reicher Leute aus dem Adels- und Kaufmannsstande zu verschaffen. Diese dunkeln Punkte wurden im »Redaktionsbriefkasten« des »Unabhängigen« angedeutet und das betreffende Blatt, blau angestrichen, an den betreffenden Mann gesandt. Gleichzeitig erhielt der Adressat einen Brief, in dem ihm mitgeteilt wurde: das erstandene Material habe viel Geld gekostet, eigne sich aber vortrefflich zu einem sensationellen Artikel. Letzterer werde in der nächsten Nummer des »Unabhängigen«, evtl. in Fortsetzungen, erscheinen. Das Material könne aber auch abgekauft werden. Alsdann werde selbstverständlich das Erscheinen des Artikels unterbleiben. Derartige Schreiben hatten fast immer den gewünschten Erfolg. Man wollte sich doch nicht öffentlich blamieren und seine Geschäftsmanipulationen an den Pranger stellen lassen. Die Gründungen des Direktors der Vereinsbank, August Sternberg, wurden in mehreren Schmähartikeln des »Unabhängigen« als schwindelhaft bezeichnet. Die betreffenden Zeitungsexemplare wurden an die Kunden Sternbergs gesandt und außerdem in den Waggons der Kasseler Straßenbahn, einer Gründung Sternbergs, ausgelegt. Sternberg zahlte zunächst durch Vermittelung des Redakteurs Moser 500 Mark an Grünewald, in welcher Folge die Angriffe, die stets mit dem Vermerk »Fortsetzung folgt« erschienen, aufhörten. Einige Zeit darauf erschienen Grünewald und Moser bei Sternberg mit der Mitteilung: es seien wieder recht interessante Geschichten bei der Redaktion über die Vereinsbank eingelaufen. Sternberg möge Berichtigungen geben, andererseits wäre es bedauerlich, daß dem »Unabhängigen« ein solch interessanter Stoff entzogen würde. Sternberg zahlte 4500 M., darauf unterblieben alle Angriffe. Ostern 1882 bestellte Grünewald den Kaufmann Mochmann in sein Redaktionsbureau. Dort zeigte er ihm den Fahnenabzug eines für den »Unabhängigen« bestimmten Artikels, in welchem dem Mochmann u.a. der Vorwurf des Betruges zum Nachteile des Ingenieurs Freund gemacht und gegen die Kaufleute Fischer und Seelig Schmähungen enthalten waren. Grünewald erklärte sich bereit, den Artikel zu unterdrücken, wenn die drei Angegriffenen bis 5 Uhr nachmittags 6000 Mark zahlten. Sollte dies nicht bis zur bestimmten Stunde geschehen sein, so würde es am anderen Tage 10000, dann 15000, dann 20000 Mark kosten; schließlich müsse, wenn kein Arrangement erfolgt sei, das ganze Blatt angekauft werden. Da die Unterhandlungen keinen Erfolg hatten, so erschienen etwa drei Vierteljahre lang in dem »Unabhängigen« Schmähartikel gegen Fischer, Mochmann und Seelig mit dem steten Vermerk: »Fortsetzung folgt«. Als Fischer 300 Mark zahlte, unterblieben die Schmähartikel und es erfolgte der Widerruf eines Artikels, der eine Entführungsgeschichte des Fischer behandelte. Am 17. Juni 1882 teilte Redakteur Dr. Vogelsang dem Rentier Jaroczynski mit, daß dieser und Fischer in der noch an demselben Tage erscheinenden Nummer 24 angegriffen würden. Auf Anraten des Vogelsang kauften J. und F. die Exemplare bei den Zeitungshändlern auf. Infolgedessen wurden am nächsten Tage einzelne Exemplare mit 10 Mark verkauft. Auf Anraten des Dr. Vogelsang hatte Grünewald eine neue Auflage von der Nummer 24 drucken lassen Da fernere Schmähartikel gegen Jaroczynski angedroht waren, so wandte sich dieser an Moser. Letzterer riet ab, den Grünewald zu bitten, »denn G. kenne nur Geld«; er möge den reichen Bankier Seelig, der doch ebenfalls in dem Artikel genannt sei, veranlassen, Geld zu geben. Seelig wollte sich jedoch trotz aller Angriffe auf nichts einlassen. Da endlich erschienen einige Artikel, die das Privatleben Seeligs mit Schmutz bewarfen. Als auch ein solches Exemplar, in welchem die betreffenden Stellen blau angestrichen waren, an Frau Seelig geschickt wurde, ging Seelig zu Moser, woselbst er Grünewald antraf. Nach längerer Unterredung erklärte G.: Er sehe ein, daß dem Seelig Unrecht geschehen sei; er wolle die Verleumdung gegen ihn aus der Welt schaffen. Auf die Frage des S., was der langen Rede kurzer Sinn sei, erwiderte G.: Er verlange für die Unterdrückung der Artikel 1000 Mark. S. übersandte dem G. zunächst 500 Mark; diese schickte G. jedoch zurück. Als Jaroczynski aber mitteilte, er solle sich die 500 Mark nur holen, die anderen 500 Mark werde er später erhalten, tat dies G. und erhielt 500 Mark später noch einmal. Auch der Geh. Kommerzienrat Conrad wurde in mehreren Artikeln angegriffen. Nachdem er dem G. 1200 Mark zahlte, hörten die Angriffe auf. Im September 1882 erhielt Kaufmann Gosewisch in Dresden von Moser einen Brief, worin ihm letzterer mitteilte, er werde im »Unabhängigen« eine Reihe von Artikeln veröffentlichen. Dem Brief lag ein gegen den Bankier Julius Seemann in Hannover gerichteter Schmähartikel mit dem Vermerk: »Fortsetzung folgt« bei. Moser und Gosewisch hatten zusammen bei Seemann konditioniert. Seemann, von Gosewisch benachrichtigt, reiste sofort mit seinem Sohne nach Berlin. Auf die Frage des Gosewisch an Moser: Welchen Zweck er mit den Artikeln verfolge, erklärte M., daß er verschiedene, dem Seemann nachteilige Dinge aus dessen Privat-und Geschäftsleben im öffentlichen Interesse und auch auf höheren Wunsch in die Öffentlichkeit bringen wolle. Auf Gosewischs Bemerken, daß Seemann einen Ausgleich wünsche, antwortete Moser, er habe keine Verfügung mehr über die Artikel, sie befänden sich bereits in den Händen der Redaktion. Wenn aber S. einen Ausgleich wünsche, dann möge er ihm zunächst zwei ältere Forderungen in Höhe von 10000 Mark bezahlen. Seemann begab sich zu Grünewald und hier erfolgte ein Ausgleich, indem er an Redakteur Sponholz, der im Auftrage Mosers handelte, 1500 Mark und an Grünewald für angeblich gehabte Unkosten 100 Mark zahlte.

 

Im November 1882 teilte Redakteur Sawatzky in dem in der Friedrichstraße 83 belegenen Restaurant Olbrich einem Kaufmann Eccardt mit, daß nach einer Notiz im Briefkasten des »Unabhängigen« ein Schmähartikel gegen ihn erscheinen würde. Freiherr von Schleinitz sei erbötig, gegen Zahlung von 500 Mark das Erscheinen des Artikels zu verhüten. Da Eccardt sich ablehnend verhielt, erschien der Artikel. Einige Tage später veranlaßte Sawatzky zwischen Eccardt und von Schleinitz eine Zusammenkunft. Letzterer teilte dem E. mit, daß ein weiterer Artikel unter voller Namens- und Wohnungsangabe gegen ihn erscheinen werde, wenn er nicht 150 Mark zahlte. Eccardt gab das Geld und der Artikel erschien nicht.

Ende 1882 bedeutete von Schleinitz dem Kaufmann Lewin, er werde nächstens im »Unabhängigen« gleich anderen besprochen werden, weil er zu der bei Dressel und Olbrich verkehrenden Wuchergesellschaft gehöre. Als Lewin die Zugehörigkeit bestritt, erwiderte Sch.: Auf die Richtigkeit käme es gar nicht an, es handle sich hauptsächlich darum, den Leuten des »Unabhängigen« eine Einnahme zuzuwenden. In letzterem Falle werde von dem Erscheinen des Artikels Abstand genommen werden. Da Lewin sich ablehnend verhielt, erhielt er nach einigen Tagen ein Exemplar des »Unabhängigen« zugeschickt, in dessen Briefkasten, mit Blaustift angestrichen, unter dem unterstrichenen Anfangsbuchstaben seines Namens, das Erscheinen des Artikels in Aussicht gestellt wurde. Lewin erbot sich nun dem v. Sch. gegenüber, dem »Unabhängigen« Inserate bis zur Höhe von 100 Mark zuzuwenden. Er erhielt jedoch von Grünewald, indem er v. Sch. als seinen Vertreter bezeichnete, einen ablehnenden Bescheid, »weil von Personen, die im ›Unabhängigen‹ besprochen werden sollen, keine Inserate aufgenommen werden können«. Nach längeren Unterhandlungen zahlte Lewin 100 Mark mit dem Versprechen, für 500 Mark inserieren zu lassen.

Ein Baron von Prittwitz vermochte sich gegen die Schmähartikel des »Unabhängigen« nur zu retten, daß er einen Wechsel über 1400 Mark an Moser gab.

Durch Dr. Vogelsang, der für den Grafen Götzendorf-Grabowski und C. Scheunert in Dresden im Jahre 1880 den Ankauf gräflich Esterhazyscher Güter in Ungarn vermittelt hatte, war dem Grafen Grabowski v. Schleinitz zugeführt worden. v. Schleinitz kaufte mit seinem Kompagnon Fränkel von dem Grafen Grabowski Kunstsachen und Antiquitäten zum Preise von 5950 Mark. 4450 Mark wurden den Käufern bis zum 9. August 1881 kreditiert. Gleich nach geschehenem Kaufabschlusse hielt sich Graf Grabowski für benachteiligt, und als am Fälligkeitstermin Zahlung nicht erfolgte, erhob er gegen Fränkel und Schleinitz Klage. Diese Angelegenheit wurde andeutungsweise im »Unabhängigen« besprochen. Bald darauf ging Grünewald zu dem Grafen Grabowski, welcher in Berlin im Tiergarten-Hotel wohnte. Grünewald verlangte zum Zwecke der Publikation die den Prozeß betreffenden Akten einsehen zu dürfen. Graf Grabowski lehnte dies Ansinnen ab. Es erschien infolgedessen im Briefkasten des »Unabhängigen« folgende Notiz: »Von Zobeltitz hier: Hiermit erklären Ihnen, daß wir von den uns auf Ihre Veranlassung von dem Grafen v. Grabowski gemachten Mitteilungen auf keinen Fall Gebrauch machen werden. Wir erwarten zumal von Edelleuten, daß sie uns gemachte Zusagen (auf Ergänzung des Materials) strikte innehalten. Dagegen werden Ihnen nächstens in unserem Blatte die Geschichte des Herrn S. in Dresden, die Angelegenheit des Graf Esterhazy betreffend, erzählen. Zu Kunststückchen läßt sich der ›Unabhängige‹ nicht gebrauchen.« Ein Exemplar dieser Nummer, in der Grabowski außerdem angegriffen war, sandte v. Schleinitz mit dem Vermerk: »Die schmutzige Geschichte heißt Grabowski contra Scheunert« an die Gräfin Grabowski und stellte in einem der Sendung beigelegten Briefe das Verlangen, ihre Forderung an ihn mit einer Forderung an ihren Ehemann zu kompensieren. »Ich richte diese Anfrage an Sie, um einen Vergleich zu schaffen, da viele unliebsame Erörterungen noch in diesem Prozesse vorkommen werden.« Obwohl nun die unerhörtesten Angriffe und Drohungen gegen Grabowski im »Unabhängigen« erschienen und in den Briefkastennotizen ihm wiederholt angedeutet war, daß er die Sache mit Geld totmachen könne und obwohl v. Schleinitz den Grafen in unerhörtester Weise beleidigte, mit dem Bemerken, wenn er Courage hätte, so würde er ihn längst gefordert haben, so antwortete Graf Grabowski auf alle diese Angriffe nicht mit einer Silbe. Auf Veranlassung seiner Ehefrau zahlte schließlich Graf Grabowski an Moser 600 Mark, wovon M. an Grünewald 500 Mark zahlen sollte. Darauf hörten die Angriffe auf.

Der in der Friedrichstraße 83 wohnende Hoftraiteur Olbrich wußte sich gegen die Angriffe des »Unabhängigen« nur durch Zahlung von 1000 Mark zu retten. Hierbei spielten v. Schleinitz und Sawatzki die Hauptrolle.

Diese und viele ähnliche Erpressungen dauerten ziemlich lange. Die Erpreßten erstatteten schließlich Anzeige. Ende Dezember 1882, wenige Tage vor Weihnachten, wurden Grünewald und seine Kumpane, mit Ausnahme des Freiherrn v. Schleinitz, der rechtzeitig geflüchtet war, von dem Kriminalkommissar, späteren Polizeiinspektor Höft verhaftet. Die Verhafteten waren: 1. Chefredakteur und Verleger Ernst August Wilhelm Grünewald, 2. Kaufmann und Redakteur Josef Moser, 3. Kaufmann und Redakteur Anton Sponholz, 4. Weinreisender Alexander Lodomez, 5. Dr. jur. Werner Vogelsang, 6. Buchhändler Karl Sawatzki.