Pitaval des Kaiserreichs, 4. Band

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Sponholz bezeichnete die Angaben des Kommissionsrats Limann als unwahr. Auf Befragen des Vorsitzenden, weshalb er sich Hennig genannt habe, erwiderte Sponholz: Grünewald habe ihm lediglich dem Wasinski gegenüber als Hennig vorgestellt, da dieser mit aller Gewalt die Namen des Bureaupersonals vom »Unabhängigen« wissen wollte.

Kriminalkommissar Höft: Nachdem ich im Auftrage des Chefs der Kriminalpolizei, Regierungsrats Grafen Pückler, Grünewald, Moser und Sponholz verhaftet hatte, hielt ich im Redaktionsbureau des »Unabhängigen« Haussuchung und fand einen von Damenhand geschriebenen Brief, welcher lautete: »Ich bitte Sie dringend, lassen Sie genug sein des grausamen Spiels, und machen Sie mich, meinen Mann und meine Kinder nicht noch unglücklicher, als Sie es durch Ihre Schreibereien schon getan haben.« Das Schreiben trug keine Unterschrift. In dem sogenannten geheimen Fach fand ich ein von dritter Hand geschriebenes, von Grünewald unterschriebenes Schriftstück, in welchem G. an Eidesstatt versicherte, daß er für die Unterdrückung der gegen einen hiesigen Bankier jüdischen Glaubens von dem Redakteur der Ostend-Zeitung, Ruppel, ins Werk gesetzten Artikel durch Zahlung von noch weiteren tausend Mark an Ruppel Sorge tragen werde. Als die Verhaftung der Grünewald, Moser, Sponholz durch die Zeitungen bekannt wurde, machte Pflüg in Lübeck Anzeige, in welcher Folge ich den Auftrag erhielt, auch Lodomez, dessen Freundschaft mit dem Hauptmann a.D.v. Schleinitz mir bekannt war und von dem ich wußte, daß er schon seit Jahren kein sicheres Einkommen hat, zu verhaften.

Rentier Seemann (Hannover) erzählte ebenfalls den gegen ihn verübten Erpressungsfall. Moser habe absolut keine Forderung an ihn gehabt.

Moser behauptete, der Zeuge habe große Glücksspiele in seiner Wohnung entriert und unsaubere Wechselgeschäfte mit jungen Offizieren in Hannover gemacht.

Der Zeuge bezeichnete diese Behauptung als Erfindung.

Angekl.: Seemann ist Anfang der 1870er Jahre der Spielerangelegenheit wegen verhaftet gewesen und nur gegen hohe Kaution entlassen worden.

Seemann: Das ist eine grobe Lüge.

Vors.: Verlangen Sie, daß ich die Sache vertage, Moser, und die Akten mir aus Hannover kommen lassen soll?

Seemann: Wenn Sie das täten, Herr Präsident, dann würden Sie sehen, daß Moser gänzlich die Unwahrheit sagt.

Moser: Die Verhaftung vermute ich bloß, aber die Sache mit der Kaution weiß ich positiv. (Heiterkeit im Zuhörerraum.)

Vors.: Es ist frech von Ihnen, daß Sie sich erlauben, eine bloße Vermutung hier als positive Behauptung aufzustellen.

Bei dem nunmehr folgenden Erpressungsfall Eccardt bemerkte Grünewald: Er kenne den Eccardt gar nicht und habe in keiner Weise einen Erpressungsversuch gegen diesen unternommen. Sawatzki erklärte sich ebenfalls für nichtschuldig; er sei selbst um 500 Mark von dem Freiherrn v. Schleinitz geprellt worden. Er wollte dem Eccardt nur aus persönlicher Freundschaft raten, sich mit Schleinitz behufs Unterdrückung der Angriffe im »Unabhängigen« in Verbindung zu setzen.

Kaufmann Eccardt bestätigte das.

Alsdann gelangte der Erpressungsfall gegen den Grafen v. Grabowski zur Verhandlung. Die Angeklagten Grünewald und Moser bestritten, sich hierbei strafbar gemacht zu haben. Als sie einsahen, daß der angegriffene Graf Grabowski nicht mit dem Grafen v. Götzendorf-Grabowski, sondern mit einem anderen Grafen v. Grabowski in Wien identisch sei, haben sie eine vom ersteren gewünschte Berichtigung aufgenommen.

Graf Grabowski, so erzählte Moser, habe ihm ohne weiteres dafür 500 Mark gegeben; er habe dies Geld, das er an Grünewald abgeführt, nicht von dem Grafen gefordert.

Grünewald: Ich habe die 500 M. von Moser nicht erhalten.

Moser blieb bei seiner Behauptung.

Dr. Vogelsang bestritt, sich in dieser Angelegenheit einer Erpressung schuldig gemacht zu haben.

Graf v. Götzendorf-Grabowski: Er habe lange Zeit die Schmähartikel unbeachtet gelassen, ganz besonders, weil er nicht ganz bestimmt darin bezeichnet war. Als letzteres jedoch geschah, sei er in die Redaktion des »Unabhängigen« gegangen und habe dort Moser gebeten, von weiteren Artikeln Abstand zu nehmen. Er habe 300 Mark geboten, Moser habe ihm jedoch bemerkt, Grünewald verlange 1000 Mark. Als er (Zeuge) antwortete, daß er höchstens 500 Mark geben werde, sei M. zu G. gegangen, um diesen zu befragen. M. kehrte bald darauf zurück mit dem Bemerken, daß G. sich mit den 500 Mark einverstanden erkläre.

Kaufmann Fränkel, der ehemalige Kompagnon des Freiherrn v. Schleinitz, bemerkte: Schleinitz habe ihm nachträglich durch seine Tochter einen eingeschriebenen Brief gesandt, in welchem er ihn aufforderte, ihm 500 Mark zu geben, widrigenfalls er ihn denunzieren würde. Er glaube, dies dem Gerichtshofe mitteilen zu müssen.

Vors.: Schleinitz gehört zum Militärverbande; wenn Sie gegen Schl. etwas haben, so müssen Sie es der Militärbehörde anzeigen. Geheimer Kommerzienrat Conrad: Er habe zur Unterdrückung von Angriffen gegen die Handelsgesellschaft 1200 Mark an Grünewald gezahlt.

Kaufmann Jaroczynski bekundete noch: Er habe immer mit Angst dem Freitag, an welchem Tage der »Unabhängige« erschien, entgegengesehen; denn obwohl er an Moser Zahlung geleistet hatte, habe dieser immer gesagt: »Heute stehen Sie noch nicht drin, Sie kommen erst nächsten Freitag dran.«

Am dritten Verhandlungstage erschien als Zeuge Generalagent Manfred Lewin. Er bekundete auf Befragen des Vorsitzenden: Eines Tages kam Hauptmann a.D. Frhr. v. Schleinitz zu mir mit der Mitteilung, ich werde nächstens im »Unabhängigen« besprochen werden, da ich zu der bei Dressel verkehrenden Wucher- und Spielergesellschaft gehöre. Als ich erwiderte, daß das eine grobe Lüge sei, bemerkte Schleinitz, das ist ja gleichgültig; es handelt sich ja nur darum, den Leuten des »Unabhängigen« etwas zuzuwenden und blamiert sind Sie dann doch. Ich entgegnete dem Schleinitz: Ich werde mich mit der Redaktion direkt in Verbindung setzen. Schleinitz erwiderte: Ich kann Ihnen nur raten, daß Sie sich vergleichen, sonst sind Sie blamiert. Es hat sich bereits eine sehr große Anzahl hochgestellter Leute losgekauft, zu diesen gehört auch Herr v. Bleichröder. Ich bemerkte dem Schleinitz: Ich werde der Redaktion Inserate in der Höhe von 100 Mark geben und diese 100 Mark im voraus bezahlen. Diese Proposition machte ich auch schriftlich der Redaktion, daraufhin erschien Schleinitz wieder bei mir und sagte mir: Grünewald könne meinen Vorschlag nicht akzeptieren, da von Personen, die besprochen werden sollen, Inserate nicht aufgenommen würden. Ich muß hierbei bemerken, daß ich nicht willens war, im »Unabhängigen« inserieren zu lassen, denn dadurch wäre ich bloß blamiert worden. Was würde also die Unterdrückung der Artikel kosten, fragte ich den Schleinitz. Nun, es kommt darauf an, antwortete dieser. Sie, der Sie ein sehr luxuriöses Leben führen, Champagner trinken usw., dürften unter 1000 Mark nicht davonkommen. 1000 Mark, versetzte ich, das ist sehr viel; 500 Mark würde ich geben. Darauf wird wohl Grünewald nicht eingehen; ich will aber einmal sehen, was sich machen läßt, antwortete Schleinitz. Am folgenden Tage kam Schleinitz wieder zu mir und sagte: Ich habe Sie doch zu niedrig geschätzt; Grünewald verlangt 5000 Mark. Sie irren sich wohl, versetzte ich, Sie meinen wohl 500 Mark. Mein bester Herr Lewin, wenn Sie sich zur Zahlung der 5000 Mark nicht entschließen, dann stehen Sie in der nächsten Nummer des »Unabhängigen«, bemerkte v. Schleinitz. Ich begab mich nunmehr zu Grünewald. Dieser hatte zunächst keine Zeit; er ließ mich sehr lange warten, endlich sagte er zu mir, nachdem ich ihm mein Anliegen vorgetragen: Schleinitz habe von ihm keinen Auftrag. Im übrigen lasse sich die Redaktion des »Unabhängigen« nicht bestechen. (Große allgemeine Heiterkeit, in die selbst die Richter und der Staatsanwalt einstimmten.) Die Artikel werden nicht geschrieben, um Geld zu erhalten, sondern um die Moral in Berlin zu heben. (Große anhaltende Heiterkeit, in die der Gerichtshof, der Staatsanwalt und die Verteidiger einstimmten.)

Vors.: Die Moral hörte auf in dem Moment, wo Geld gezahlt wurde?

Zeuge: Sehr richtig, Herr Präsident; als ich dem G. sagte, daß doch alles, was er gegen mich schreiben wolle, pure Erfindung sei, erwiderte er wiederum: Das wird sich finden, wir wissen ganz genau, daß Sie auch zu der Gesellschaft gehören. Nun sagte ich zu G.: Wenn ich mir nicht anders helfen kann, so werde ich Ihnen die Knochen entzweischlagen. G. erwiderte mir: Er habe mit der Sache eigentlich nichts zu tun, ich solle zu Moser gehen, dieser habe das Material geliefert und auch den bereits im Fahnenabzug fertiggestellten Artikel geschrieben. Ich ging nun zu Moser und dieser sagte mir: Wenn ich 150 Mark zahle, dann sei die Sache tot. Ich zahlte 100 Mark, angeblich behufs Insertion. Bald darauf hörte ich, daß die ganze Angelegenheit zur behördlichen Anzeige gekommen ist. Ich forderte deshalb von Moser die 100 Mark zurück und erhielt sie auch.

Der folgende Erpressungsfall war gegen einen Freiherrn v. Prittwitz gerichtet. Letzterer bekundete als Zeuge. Ich wurde eines Tages von dem mir bekannten Hauptmann a.D. Freiherrn v. Schleinitz darauf aufmerksam gemacht, daß ich nächstens im »Unabhängigen« besprochen werden solle. Da mein Gewissen rein war, sagte ich dem Schleinitz: Das ist mir sehr gleichgültig; Schlechtes können die Leute nicht über mich schreiben. Schleinitz erwiderte: Auf Wahrheit komme es den Redakteuren des »Unabhängigen« wenig an. Wenn ich nicht blamiert werden wolle, so solle ich mich loskaufen. Ich lehnte ein solches Ansinnen entschieden ab, und nun erschien eine Reihe von Schmähartikeln mit dem steten Vermerk »Fortsetzung folgt« gegen mich. Ich wurde des unerlaubten Glücksspiels und aller möglichen Untaten beschuldigt. Die betreffenden Zeitungsexemplare wurden mir, blau angestrichen, per Kreuzband, aber auch in gleicher Weise allen meinen Verwandten, Bekannten usw. zugeschickt. Ich hatte zur Zeit bei dem Amtsgericht zu Breslau einen Zivilprozeß. Anläßlich dessen schickte man die betreffenden Zeitungsexemplare an die Rechtsanwälte meiner Gegner. Da die Angriffe nicht aufhörten, so begab ich mich in die Redaktion des »Unabhängigen«; dort traf ich bloß Moser an. Dieser sagte mir, er habe mit der Sache nichts zu tun, das sei Sache Grünewalds, aber das könne er mir sagen, wenn ich die Artikel unterdrücken wolle, dann gebe es nur ein Mittel, das sei: Zahlen. Ich fragte, wieviel ich denn zahlen solle? Mit 1000 Mark würde sich wohl Grünewald begnügen, antwortete Moser. Aber sagen Sie einmal, wie komme ich denn dazu, 1000 Mark zu zahlen? Die gegen mich erhobenen Beschuldigungen sind ja doch die pure Erfindung. Ja, das ist vollständig gleichgültig, versetzte Moser; da hilft Ihnen auch kein Klagen; Grünewald steht mit der Polizei, Staatsanwaltschaft, ja selbst mit den höchsten Regierungskreisen in Verbindung. Dann bleibt nichts weiter übrig, als solch einem Kerl die Knochen entzweizuschlagen, erwiderte ich. Sie werden sich doch nicht an einer lebenden Leiche vergreifen, sagte Moser, und was haben Sie davon? Sie werden wegen schwerer Körperverletzung bestraft, die Artikel erscheinen weiter und die Sache kommt immer mehr in die Öffentlichkeit. Nach noch längeren Verhandlungen verstand ich mich schließlich zur Ausstellung eines Wechsels von 1400 Mark, den ich jedoch nicht sogleich einlöste. Einige Zeit darauf traf mich Moser in einer Konditorei. Er kam zu mir heran und sagte mir, er habe mit G. den größten Ärger; wenn ich den Wechsel nicht bald einlöse, dann erscheinen die Artikel weiter. Ich versprach, sehr bald zu zahlen. Einige Tage darauf wurde Grünewald und Genossen verhaftet, und ich erhielt meinen Wechsel zurück. Bemerken will ich noch, daß ich gleich nach dem Erscheinen des ersten Artikels zu dem Kriminalkommissar Höft ging. Dieser sagte mir jedoch: Er sei in der Sache bereits tätig gewesen; vorläufig lasse sich aber von Amts wegen noch gar nichts tun.

 

Hoftraiteur Olbrich: Mir wurde eines Tages von Sawatzki Mitteilung gemacht, daß nach einer Notiz im »Unabhängigen« mein und das Dresselsche Lokal nächstens besprochen werden sollen. Sawatzki riet mir, mich behufs Unterdrückung des Artikels mit Schleinitz in Verbindung zu setzen. Ich tat dies. Sch. verlangte für die Unterdrückung 1000 Mark. Nach längerer Verhandlung zahlte ich diese und erhielt auch eine von Sponholz geschriebene Quittung über die 1000 Mark. Auch erfolgte im »Unabhängigen« ein Widerruf. Ich bin überzeugt, daß Sawatzki nur aus freundschaftlichem Interesse mir den erwähnten Rat gegeben hat.

Es wurde alsdann die kommissarische Aussage des erkrankten Weinhändlers Pflüg in Lübeck verlesen. Dieser hatte bekundet, Lodomez sei im Jahre 1880 vier Wochen lang sein Berliner Agent gewesen; er habe jedoch, da Lodomez seine Firma durch seine antisemitische Agitation kompromittierte, ihn wieder entlassen müssen.

Pflüg hatte außerdem bekundet: Lodomez und Hauptmann a.D.v. Schleinitz hätten schamlose Erpressungsversuche gegen ihn unternommen. Da er sich auf nichts eingelassen habe, so sei eine Broschüre erschienen, in der sein Schwager, Böhl v. Faber, zahlreicher strafbarer Handlungen, er selbst der Urkundenfälschung, des Betruges usw. beschuldigt wurde, um seine Schwestern bei der Erbteilung zu übervorteilen. Außerdem wurde sein Privatleben in breitester Weise besprochen, er der Völlerei sowie sonstiger Ausschweifungen usw. bezichtigt.

Im weiteren hatte Pflüg bekundet: Freiherr v. Schleinitz hätte ihm geschrieben: Er sei befreundet mit dem Baron Thielemann, dem Vorsitzenden des Union-Klubs, der großen Einfluß besitze und namentlich auch Hoflieferantentitel verschaffen könne. Er habe dann, angeblich »für Herrn v. Thielemann«, 3000 Mark an Schleinitz einsenden müssen, habe aber später erfahren, daß es sich hier um einen schnöden Mißbrauch des Namens des Barons v. Thielemann handelte.

Leutnant a.D. v. Gerhardt, der zeitweise beim »Unabhängigen« Korrektor gewesen, bekundete: Wenn Grünewald und Moser eine Konferenz hatten, dann wurde Sponholz aufgefordert, das Zimmer zu verlassen.

Hauptmann a.D. v. Brauchitsch: Lodomez habe eine große Entrüstung bekundet, als er hörte, daß Schleinitz von Pflüg 1200 Mark verlangt habe.

Am vierten Verhandlungstage begannen die Plädoyers.

Staatsanwalt Lehmann: Als vor etwa einem halben Jahre die Verhaftung der Angeklagten erfolgte, da gab sich mit Recht ein allgemeines Aufsehen kund. Nicht wegen der verhafteten Personen war das Aufsehen, sondern wegen der Verbrechen, deren sie beschuldigt wurden. Bei dem erstaunlich großen Einfluß, den die Presse auf alle Lebensverhältnisse, bei dem ungeheuren Einfluß, den die Presse auf das Wohl und Wehe des einzelnen und der Gesamtheit haben kann, ist es zu erklären, daß so viele Leute sich veranlaßt fühlten, den Angeklagten Geld zu geben, um im »Unabhängigen« nicht angegriffen zu werden. So nützlich und unentbehrlich die Presse für das öffentliche Leben ist, so verderblich kann sie wirken, wenn sie anstatt der Sachen die Person angreift. Niemand hat das Recht, das Vorleben eines Menschen, wenn dieser nicht eine öffentliche Stellung bekleidet, wenn das Gesetz es nicht geradezu erfordert, an die Öffentlichkeit zu bringen. Es darf niemand in dieser Beziehung von dem Wohlwollen eines anderen abhängig sein. Das Publikum erblickte deshalb in der Verhaftung der Grünewald, Moser und Sponholz eine Genugtuung. Diese Genugtuung war allerdings keine vollständige, da es nicht gelang, des Hauptakteurs, des Hauptmanns a.D. Freiherrn v. Schleinitz, habhaft zu werden. Ich bezweifle allerdings nach dem, was wir über Schleinitz gehört haben, daß wir viel Neues von diesem Manne herausbekommen hätten, denn Schleinitz war, wie wir gesehen haben, ein

vollendeter Meister in der Kunst der Erpressung.

Schleinitz war ein Mann, der seinen sehr opulenten Lebensunterhalt fast ausschließlich aus Erpressungen gewann. Dasselbe ist auch bei den Angeklagten Grünewald, Moser und Sponholz zu konstatieren. Wenn wir den Angaben des Grünewald Glauben schenken, daß er eine Einnahme von monatlich 500 Mark gehabt und davon 150 Mark an Moser, 120 Mark an Sponholz und noch je 60 Mark an 2 andere Mitarbeiter gegeben hat, so vermochte er mit seinen Redakteuren jedenfalls nicht ein solch luxuriöses Leben zu führen, Champagner zu trinken, wie ein früherer Mitredakteur, Herr Dr. Lipka, bekundet hat. Ich will sogar dem Moser Glauben schenken, daß Grünewald subventioniert worden ist; jedenfalls war doch die Subvention keine große. Sehen wir uns die Angeklagten einmal näher an. Moser und Sponholz, ehemalige Kaufleute, fühlten sich zu Redakteuren berufen, obwohl ihnen jede Vorbildung dazu fehlte. Ich will absehen, daß Sponholz nur die Reife für Untertertia in der Schule erlangt und Moser auch nur in ungenügender Weise das Gymnasium besucht hat; ich bin der Meinung, die Tüchtigkeit eines Menschen hängt nicht von der Menge der gemachten Examina ab. Es ist wohl möglich, daß sich auch ein Mensch, ohne die nötige Schulbildung, im späteren Leben etwas aneignen und es bis zu einer gewissen Fertigkeit bringen kann. Was aber den Angeklagten Moser und Sponholz fehlte und für einen Journalisten unentbehrlich ist, das ist der Takt, die Kunst, sich in anständiger Weise auszudrücken. Grünewald, der ehemalige Kellner, spätere Gastwirt, betrat im Jahre 1875 die journalistische Laufbahn oder richtiger gesagt, er trat in das »Zeitungsgeschäft« ein. Er wurde Sekretär der früheren »Eisenbahnzeitung«, späteren »Reichsglocke«, und man geht nicht fehl, wenn man den »Unabhängigen« eine Kopie jener »Reichsglocke« nennt. Nicht nur die äußere Form glich vollständig der »Reichsglocke«, auch das System ähnelt ihr in hohem Maße. Wie die »Reichsglocke« es sich zur Aufgabe machte, die hochgestelltesten Personen, wie den Fürsten v. Bismarck usw. in unflätigster Weise anzugreifen, so war es System des »Unabhängigen«, alle Privatpersonen in derselben Weise mit Kot zu bewerfen, wenn sie sein Schweigen nicht mit klingender Münze bezahlten. Nicht bloß Geschäftsunternehmungen wurden angegriffen, auch die innersten Familienverhältnisse wurden beleuchtet und die betreffenden Zeitungsexemplare an die Angehörigen der Angegriffenen gesandt. Man schreckte eben vor keinem Mittel zurück. Man unterließ es nicht, auch das Familienleben zu stören, um in den Besitz von Geld zu gelangen. Auf die Wahrheit der Angriffe kam es, wie wir gehört haben, den Herren gar nicht an. Es wurde, wenn die Briefkastendrohungen nichts fruchteten, frech darauf losgeschrieben, und zwar so lange, bis das Schweigen bezahlt wurde. Und in welcher Weise verfahren wurde, das haben wir von den Zeugen Mochmann und Jaroczynski am besten gehört. Mochmann wollte dem Grünewald eine Berichtigung bringen, dieser aber erwiderte: »Das kann mir alles nichts nützen, das Material kostet mich Geld, viel Geld, und wenn Sie mir das Material nicht abkaufen wollen, so muß ich es veröffentlichen.« Dem Jaroczynski sagte Moser: bei Grünewald hilft kein Bitten, kein Flehen, Grünewald kennt keinen Vater, keine Mutter, keine Kinder, kein Mitleid, kein Erbarmen, der kennt bloß Geld. Ja, ich gehe gewiß nicht fehl, wenn ich behaupte, der »Unabhängige« hatte lediglich den Zweck, Erpressungen auszuüben. Ich gebe zu, daß auch einige gute Artikel im »Unabhängigen« gestanden haben, diese dienten jedoch lediglich zum Verdecken des Treibens, das im anderen Teile dieser Zeitung vorgenommen wurde. Das Blatt wurde auch von niemandem gelesen der wenigen guten Artikel wegen, sondern lediglich wegen der in der Zeitung enthaltenen Skandalosa. Wir haben gehört, daß Jaroczynski und Fischer die Nr. 24 angekauft wegen der gegen sie enthaltenen Angriffe. Der Staatsanwalt ging alsdann in ausführlicher Weise auf die einzelnen Anklagepunkte ein und schloß: Wenn man erwägt, daß die Angeklagten sich nicht scheuten, selbst die innersten Familienverhältnisse in die Öffentlichkeit zu ziehen, wenn sie nicht Bezahlung erhielten, wenn man das planmäßige, schamlose Treiben der Angeklagten erwägt, wenn man in Betracht zieht, daß die Angeklagten gewerbsmäßig jahrelang die gemeinsten Erpressungen verübt haben, so wird man eine exemplarische Strafe wohl für notwendig erachten. Ich verkenne nicht, daß der schlimmste von der ganzen Gesellschaft Freiherr v. Schleinitz gewesen ist. Dieser, ein Mann, dem es vergönnt war, in den höchsten Kreisen zu verkehren, der außerdem die volle Befähigung besessen hat, sich in anständiger, ehrlicher Weise zu ernähren, dem es also ein leichtes gewesen wäre, sich in ehrenvoller Weise seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, zog es vor, von Betrug, Unterschlagung und Erpressung zu leben. Ein solcher Mann hat es verwirkt, in anständiger Gesellschaft zu verkehren. Hätte Herr v. Schleinitz unserer Kompetenz unterstanden und wären wir seiner habhaft geworden, so hätte ich keinen Anstand genommen, das höchstzulässige Strafmaß gegen ihn zu beantragen. Aber auch die Strafen gegen Grünewald, Moser und Sponholz müssen, nach Lage der Dinge, dem Strafmaximum nahekommen. Ich beantrage gegen Grünewald 8 Jahre Gefängnis, 5 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht auf gleiche Dauer, gegen Moser, zusätzlich zu der im April d.J. vom Kgl. Landschwurgericht Berlin I erkannten Strafe von 1 1/2 Jahren Gefängnis wegen Notzucht, 6 Jahre Gefängnis, 4 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht von gleicher Dauer, gegen Sponholz 6 Jahre Gefängnis, 5 Jahre Ehrverlust und Polizeiaufsicht, gegen Lodomez 1 Jahr 3 Monate Gefängnis und 5 Jahre Ehrverlust. Die Angeklagten Vogelsang und Sawatzki beantrage ich freizusprechen, da die Beweisaufnahme nichts Belastendes gegen diese ergeben hat.

Verteidiger Rechtsanwalt Wronker: Bekanntlich ist es die Aufgabe der Staatsanwaltschaft, die Anklage nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten, während es die Aufgabe der Verteidigung ist, die Anklage zu entkräften. Über das Strafmaß vermag ich nach Lage der Dinge nicht zu sprechen, ich muß das dem hohen Gerichtshofe anheimstellen, indem ich des Spruches, der da oben an der Decke des Saales angeschrieben steht, eingedenk bin: »Das Gesetz straft, nicht der Richter.« Ich bin nicht der Meinung, daß es lediglich zu den Aufgaben des »Unabhängigen« gehörte, Erpressungen auszuüben. Von diesem Standpunkt aus wird der Gerichtshof sein Urteil nicht sprechen können, sondern lediglich die vorliegenden Fälle sachlich zu prüfen haben. Der Verteidiger ging alsdann des Näheren auf die einzelnen Fälle ein und suchte nachzuweisen, daß die meisten Fälle mild aufzufassen seien.

 

Vert. Rechtsanwalt Saul: Daß durch die Verhaftung der Angeklagten im Publikum eine große Genugtuung hervorgerufen sei, möchte ich bestreiten. Das große Publikum hatte an der Verhaftung der Angeklagten ein nur sehr geringes Interesse genommen. Das größte Interesse an der Sache hat naturgemäß die anständige Presse und diese hatte allerdings die Verpflichtung, diese Ausgeburt von Presse in das rechte Licht zu stellen. Durch die Presse, die direkt mit dem Publikum verkehrt, ist das große Publikum hierbei erst in Mitleidenschaft gezogen worden. Bei Beurteilung der Sache wird man in Erwägung ziehen müssen, daß der Hauptbelastete, Herr v. Schleinitz, flüchtig geworden ist und nur die kleinen Schächer hier auf der Anklagebank stehen. Es ist charakteristisch, daß alles meinem Klienten Moser aufgebürdet wird. Ich muß leider hier die antisemitische Bewegung in die Diskussion ziehen. An wen sollten sich die angegriffenen Lewin, Seelig, Jaroczynski usw. wenden, um einen Ausgleich herbeizuführen? Etwa an den christlich-sozialen Agitator Grünewald? oder an den Antisemiten Lodomez? Am geratensten erschien es den genannten Herren, sich an den Juden Moser zu wenden. Und Moser sagte den Leuten: »Hier wird nichts weiter helfen, als zahlen, denn Grünewald kennt bloß Geld.« Damit hat aber Moser nur das getan, was Jaroczynski und Fischer auch getan haben. Eine Erpressung kann lediglich in dem Falle Seemann gefunden werden. Allein wenn diese Anklage auf zwei Augen ruht, so kann ich zu meinem großen Leidwesen nicht umhin, die Aussagen des Herrn Seemann in Zweifel zu ziehen. Der Verteidiger ging alsdann auf die einzelnen Fälle ein und bat, in Rücksicht auf die traurigen Verhältnisse, die Moser, einen ehemaligen, sehr wohlhabenden Bankier in Hannover, genötigt haben, Stellung beim »Unabhängigen« zu nehmen, diesem mildernde Umstände zuzubilligen.

Vert. Justizrat Jenzitzki beantragte für Sponholz, der lediglich im Abhängigkeitsverhältnis bei Grünewald stand, und wie nachgewiesen, keinen Gewinn aus den Erpressungen gezogen hat, ein mildes Strafmaß.

Vert. Rechtsanwalt Dr. Sello (für Lodomez): Bei meinem Antrage auf Freisprechung meines Klienten gehe ich nicht davon aus, für ihn etwa eine Ehrenerklärung zu erzielen. Aus den Verhandlungen haben wir erfahren, daß wir es bei Lodomez mit einem Prototyp eines modernen Hochstaplers zu tun haben. Nicht Uneigennützigkeit, sondern vornehmlich Gewinnsucht haben ihn zu den Schritten bewogen, die er gegangen ist. Aber diese fallen nicht unter irgendeinen strafrechtlichen Gesichtspunkt. Die Tathandlungen in der ersten Periode im Mai und Juni v.J. hat der Herr Staatsanwalt selbst nicht als strafbar erachtet; Lodomez hat sich nur als unberufener Vermittler in die Ottensche Streitangelegenheit eingedrängt, um eine recht hohe Vermittlerprovision zu verdienen. In der zweiten Periode trat lediglich Freiherr v. Schleinitz auf, um unter Bruch seines Ehrenworts, ohne Wissen und hinter dem Rücken des Lodomez, eine Erpressung gegen Pflüg zu verüben. Daß diese Behauptungen des Angeklagten Lodomez nicht ohne Wahrscheinlichkeit sind, beweist ein einfacher Blick auf den Charakter des Hauptschuldigen, Herrn v. Schleinitz, den der Staatsanwalt vollständig zutreffend geschildert hat. In der Tat war Schleinitz der böseste aller bösen Geister, die sich jemals an die Fersen eines Schuldbewußten geklammert haben. Daß Schleinitz in der Tat ein Mann ist, der eines Bruches seines Ehrenwortes fähig ist, zeigt die charakteristische Geschichte mit den von Herrn Pflüg gezahlten 1200 Mark. Es ist zweifellos, daß v. Schleinitz in dieser ganzen Sache ganz auf eigene Rechnung und Gefahr erpreßt hat. Herr v. Schleinitz ist somit eine Persönlichkeit, bei der man sich der Tat versehen kann; Schleinitz hat diese 1200 Mark einfach unterschlagen unter dem frivolen Vorwande, daß die Hälfte dem »Börsen-Kurier« zufließen solle. Es ist unnötig, unter Beweis zu stellen, daß Schleinitz gar keine Berührung mit dem »Börsen-Kurier« gehabt hat und gänzlich ohne Einfluß auf diese Zeitung gewesen ist. Wenn aber dies erwiesen ist, wenn sich Herr v. Schleinitz nicht entblödet, ein geachtetes Blatt in dieser Weise bloßzustellen, so gewinnt es an Wahrscheinlichkeit, daß er in der Tat Herrn Lodomez sein Ehrenwort gebrochen hat. Es bleibt nun derjenige Teil des Pflügschen Falls bestehen, den der Herr Staatsanwalt als den Erpressungsversuch bezeichnet hat. Es ist zweifellos, daß der Angeklagte an der Veröffentlichung der schimpflichen Broschüre teilgenommen hat. Hat denn aber Lodomez diese zum Zweck der Drohung gegen Pflüg benutzt? Nichts ist dafür erbracht, ebensowenig eine Komplottmäßigkeit mit Grünewald und Genossen. An der Veröffentlichung der Broschüre hatte mein Klient ein Interesse, weil durch deren Verkauf in Lübeck und Umgegend viel Geld zu verdienen war. Als Pressionsmittel hat er die Broschüre nicht benutzt, denn dazu konnte sie nur dienen, solange sie als Manuskript im Kasten lag. Dafür, daß dies seitens des Grünewald geschehen ist – denn die Treue haben die Angeklagten sich nicht bewahrt –, kann Lodomez nicht verantwortlich gemacht werden. Die Lüge des Lodomez, daß er geglaubt habe, der Reichsregierung mit der Veröffentlichung der Broschüre einen Dienst zu erweisen, ist nur vorgebracht worden, um die eigene Schlechtigkeit, die niederträchtige Gesinnung seiner verwerflichen Rachsucht nicht eingestehen zu müssen. Man wird ihm das deshalb nacht belastend anrechnen dürfen. Aus all diesen Gründen wird der hohe Gerichtshof sich dem Antrage des Herrn Staatsanwalts nicht anschließen können. Evtl. wird eine recht milde Strafe, unter Anrechnung der langen Untersuchungshaft, am Platze sein, da der Angeklagte im November vorigen Jahres dem Verhungern nahe war. Für meinen Klienten Dr. Vogelsang bitte ich, in dem zu fällenden Urteil auszusprechen, daß ihm nicht der mindeste Makel in dieser Sache anhaftet. Die sorgfältigsten Recherchen der Kriminalbeamten haben nicht ergeben, daß Dr. Vogelsang auch nur im mindesten mit den Männern des »Unabhängigen« in Verbindung gestanden, und daß er nie auch nur eine Zeile für dieses Blatt geschrieben hat. Er ist aus dieser Sache mit unbefleckten Händen hervorgegangen.

Vert. Rechtsanwalt Saul schloß sich betreffs Sawatzki dem Antrage des Staatsanwalts an.

Nach längerer Beratung des Gerichtshofes verkündete der Vorsitzende, Landgerichtsdirektor Bachmann, folgendes Urteil:

Nach den Ergebnissen der Beweisaufnahme unterliegt es keinem Zweifel, daß die Angeklagten sich verbunden haben, um gemeinschaftlich durch Drohungen mit Veröffentlichung von Skandalartikeln Erpressungen auszuüben. Es ist dabei nicht erforderlich, daß der Teilnehmer die Drohung ausspricht, es ist auch gleichgültig, wer das Geld in Empfang nimmt, zur Mittäterschaft genügt eine wissentliche Hilfeleistung bei Ausübung des Verbrechens. Der Gerichtshof ist nun zu der Überzeugung gelangt, daß in dem vollendeten Erpressungsfalle gegen Pflüg in Lübeck Lodomez freizusprechen, dagegen in dem versuchten Erpressungsfalle Lodomez, Grünewald, Moser und Sponholz zu bestrafen seien. Der Gerichtshof hat Grünewald in acht vollendeten und vier versuchten, Moser in sechs vollendeten und drei versuchten, Sponholz in vier vollendeten und zwei versuchten Erpressungsfällen, Lodomez in einem versuchten Erpressungsfalle für schuldig erachtet. Bei der Strafbemessung war zu berücksichtigen, daß die Handlungsweise der Angeklagten eine derartig niedrige und schamlose war, daß man sie für unglaublich finden würde, wenn man es nicht so klar vor Augen hätte. Die Gesetzgebung hat den Pranger als eine unmoralische, mittelalterliche Institution abgeschafft, und nun verbinden sich die drei ersten Angeklagten, die nachweislich keinen richtigen Erwerb haben, um einen modernen Preßpranger zu errichten, an den zahlungsfähige Personen, die den Drohungen auf Geldhergabe nicht Folge leisten, gestellt werden. Es zeugt dies von einer solch niedrigen Gesinnung, daß eine hohe Strafe von vornherein geboten erschien. Gegen einen solchen Preßpranger, wonach jedermann befürchten muß, daß seine innersten Familienverhältnisse täglich in das Licht der Öffentlichkeit gezogen werden können, kann sich schließlich niemand schützen. Aus allen diesen Gründen hat der Gerichtshof für Recht erkannt, daß Grünewald mit 6 Jahren Gefängnis und 5 Jahren Ehrverlust, Moser mit 4 1/2 Jahren Gefängnis und 4 Jahren Ehrverlust, Sponholz mit 4 Jahren Gefängnis und 4 Jahren Ehrverlust, Lodomez mit 1 Jahr Gefängnis und 1 Jahr Ehrverlust zu bestrafen seien. Lodomez sind 3 Monate bereits erlittener Untersuchungshaft angerechnet worden. Gegen Vogelsang und Sawatzki ist auf Freisprechung erkannt.