Vom Jakobsweg zum Tierfriedhof

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b) Das Christentum – Eine Religion des Weges

Etwa 16.500 Deutsche machten sich im Jahr 2011 gemäß einer Umfrage der Arbeitsgemeinschaft deutscher Jakobus-Vereinigungen auf, um den Jakobsweg zu gehen – 2000 mehr als im Jahr zuvor, etwa 10.000 mehr als noch im Jahr 2005. Pilgerreisen und Wallfahrten gelten eben auf breiter Basis – und weit über die vorgestellten Pilgerberichte hinaus – nicht länger als „mittelalterliche Phänomene par excellence“, denen der Geschmack des Gestrigen und Überholten anhaftet. Im Gegenteil, so unterstreicht ein Tourismusforscher: „Auf der ganzen Welt werden die ungebrochene Popularität und sogar eine Zunahme von Wallfahrten beobachtet.“47

Auch ohne dass verlässliche Angaben zur jährlichen Zahl der Pilger und Wallfahrer in allen Religionen vorliegen, ist das Jahresaufkommen an katholischen Pilgern beeindruckend. Unter den römisch-katholischen Wallfahrtsorten ist das mexikanische Marienheiligtum Guadalupe mit rund 14 Millionen Pilgern jährlich der meistbesuchte Wallfahrtsort der Welt. Mit 7,5 Millionen Besuchern folgt das süditalienische San Giovanni Rotondo, der Wohn- und Sterbeort des in Italien äußerst populären Pater Pio († 1968). An dritter Stelle in der Statistik der Wallfahrtsorte rangiert das brasilianische Marienheiligtum in Aparecida mit jährlich 7,3 Millionen Pilgern. Es folgen mit jeweils etwa fünf Millionen Besuchern der Marienwallfahrtsort Lourdes und der Montmartre von Paris in Frankreich, Tschenstochau in Polen, Fátima in Portugal, Luján in der Nähe von Buenos Aires in Argentinien und Padua in Italien. Gleich dahinter finden sich mit etwa 4,5 Millionen Besuchern jährlich die Wallfahrt zum heiligen Jakobus in Santiago de Compostela in Spanien sowie die Pilgerfahrt nach Assisi und Loreto in Italien. Dagegen pilgern an die Stätten Jesu im heutigen Israel jährlich nur ungefähr zwei Millionen Menschen, etwa ebenso viele wie zum afrikanischen „Petersdom“ in Yamoussoukro an der Elfenbeinküste.48

Ein seltsamer Kontrast: Zwar schätzen die Pilger in jüngerer Zeit eher die persönlichen Erfahrungen des Weges als den Zielort mit den heiligen Reliquien. Doch ist es offenbar weiterhin die Faszination des Zielortes, der die Menschen überhaupt erst zu ihrem Vorhaben der Pilgerschaft und den damit verbundenen Wegerfahrungen motiviert. – Umso mehr stellt sich die Frage, wie es im Christentum – innerhalb wie außerhalb Europas – überhaupt zu einem solchen Netz von heiligen Orten kommen konnte, das so viel religiös begründete Mobilität ausgelöst hat. Diese Überlegungen sehen sich zudem dadurch provoziert, dass das Neue Testament die Anlage solcher Orte weder kennt noch anmahnt.

Christliche Sakralorte und Pilgerschaft

Bekanntermaßen berichten die Evangelien, dass Jesus in seinem Erdenleben vielfältig umherzog und dass seine Anhänger ihn begleiteten. Unvorstellbar aber ist, dass Jesus eine christliche Wallfahrt angestoßen oder gar einen christlichen Pilgerweg initiiert hätte. Auch seine Jünger und Apostel richteten solche Gedenkstätten nicht ein.

In der Spur des Alten Testaments leiteten die frühen Christen jede Heiligkeit von der alles überstrahlenden Heiligkeit Gottes ab (Habakuk 1,12; Habakuk 3,3). Gemäß alttestamentlicher Überzeugung kann Gott auch „Menschen und Dingen, Orten und Zeiten“ Anteil an seiner Heiligkeit geben, sodass sie dadurch fortan aus der profanen Umgebung ausgesondert sind.49 Sogar eine Vermischung aus personen- und ortsgebundener Heiligkeit bezeugen die jüdischen Traditionen. Insofern seit der makkabäischen Verfolgung im 2. Jahrhundert v. Chr. die Blutzeugen und Märtyrer als besondere Freunde Gottes galten, wurden auch ihre Gräber geehrt und als Kraftquellen wertgeschätzt: „Die Wirkkraft des verstorbenen Gerechten geht von seinem Grabe aus, und deshalb werden die Heiligengräber von den Juden der jesuanischen Zeit hoch in Ehren gehalten.“50

In Abgrenzung vom Alten Testament überliefert das Neue Testament eine ortsunabhängige Vorstellung von Sakralität. Heiligkeit manifestiert sich in der Begegnung zwischen Gott und den Menschen ebenso wie im zwischenmenschlichen Kontakt: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18,20) Von Gebäuden und ihren Einzelkomponenten sprechen die frühen Christen allenfalls metaphorisch, um das Miteinander zwischen Gott und den Menschen zu verdeutlichen: Christus als Eckstein, die Gläubigen als lebendige Steine, die Gemeinde als geistiges Haus (Epheser 2,20; 1 Petrus 2,5). Auch die Rede vom Christen als „Tempel des Heiligen Geistes“ gehört in diesen Bereich der bildhaften Rede (1 Korinther 6,19).

Tatsächlich machte das frühe Christentum als eine mobile Religion auf sich aufmerksam. Anstatt dass sich ihre Anhänger zu einem Haus Gottes begaben, vertrauten sie auf das Kommen Gottes in ihre Mitte: „In jedem Raum durfte und konnte sich die Gemeinde zur Eucharistie und zum Gebet versammeln.“51 So zählt es zu den Besonderheiten der frühen christlichen Tradition, dass sie im Unterschied zur gesamten antiken Welt „keine christliche Sakralarchitektur“ hervorgebracht hat.52 Ebenso wenig kannte das früheste Christentum irgendwelche Kultgegenstände, weder heilige Bilder noch heilige Statuen. Die „christliche Ortlosigkeit“53 wurzelte in der Überzeugung von Gottes „Allanwesenheit“54 und machte nicht zuletzt jedwedes Wallfahrtswesen überflüssig.

Schon ab dem 2. Jahrhundert sollte sich das christliche Anfangsplädoyer zugunsten der Ortlosigkeit relativieren. So erhielt die Wertschätzung des Heiligengrabes ihren größten Schub durch die Verehrung der blutig gestorbenen christlichen Märtyrer. Aufgrund ihrer Überzeugungsstärke zu Lebzeiten galten sie auch über ihren Tod hinaus als „Orte“ göttlicher Präsenz.

Wie stellten sich die Christen die Anwesenheit Gottes im begrabenen Märtyrer und Heiligen genau vor? Maßgeblich war die bis weit über das Mittelalter hinaus leitende Vorstellung einer „Doppelexistenz des Heiligen im Himmel und auf Erden“. Man sieht den begrabenen Leib und die in den Himmel aufgefahrene Seele in einem „bleibenden Verbund“55. So gelten die Heiligen in ihren Gräbern als äußerst gotterfüllt und wirkmächtig, theologisch gesprochen: als „realpräsent“56. Die Annäherung an den heiligen Leib – mehr noch: die Berührung der Gebeine – vermittelt dem Menschen göttliche Kraft. Entsprechend dieser Vorstellung verwandeln sich alle Personen und Gegenstände, die mit einem solchen Grab in Kontakt kommen, indem sie diese göttliche Kraft in sich aufnehmen.

Auf die Dauer sollte sich im Christentum eine Mischung aus ortsbezogener und personaler Heiligkeit durchsetzen. Genau genommen beruhte die Wertschätzung der Pilger- oder Wallfahrtsorte darauf, dass man sich den dort in seinem Grab ruhenden Heiligen als einen mit göttlicher Kraft erfüllten Fortlebenden vorstellte.57 In diesen himmlisch garantierten Wirkmöglichkeiten und im Wunsch nach der unmittelbaren Begegnung mit dem Heiligen liegt der Ursprung all jener Wallfahrtsorte, die auf die Pilger bis heute ihre Anziehungskraft ausüben.

Pilgern als Geschäft?

Von Anfang an galt die christliche Pilgerschaft als eine irdische Investition, von der sich der Pilger irdische Wohlfahrt und eine himmlische Gegenleistung versprach. Wer eine Pilgerschaft in Auftrag gab, setzte gleichfalls den beschriebenen Mechanismus in Gang: Er investierte von seinen materiellen Ressourcen in den „Mietpilger“, um sich mit dessen stellvertretender Pilgerschaft ein Anrecht auf Gottes Hilfe in Zeit und Ewigkeit zu sichern. Grundsätzlich orientierte sich der mittelalterliche Pilger an der „Gleichung“: Das Aufsuchen der Heiligengräber verspricht Heilung und Hilfe in aller Not, gewährt zudem Bußerlass und Verdienst vor Gott.

Die Wirkung des Heiligen konnte sich sowohl für den Pilger als auch für den Mietpilger vervielfachen, wenn er sich am (Begräbnis-)Ort des Heiligen genau an dessen Todes- oder Gedenktag aufhielt: „Im ganzen Mittelalter gestaltete die Person des Heiligen den ihr gehörigen Tag und strahlte eine besondere Heilskraft aus. Was immer an einem solchen Tag geschah, stand im Zeichen des Tagesheiligen.“58 Im Hintergrund ist hier die religionsgeschichtliche Vorstellung maßgeblich, dass die Zeit in aller Regel nicht als gleichmäßig weiterfließend angesehen wird, sondern vielmehr als punktuell verdichtet und besetzt – entweder mit Heil oder mit Unheil.59

Welche Gegenleistung suchten Pilger und Mietpilger am Grab des Heiligen? Als Erstes erbaten die Menschen des Mittelalters am heiligen Zielort ihrer Pilgerschaft ein Wunder: Von 1102 Wundern aus dem nordfranzösischen Bereich des hohen Mittelalters geschahen gut 40 Prozent direkt bei der Anrufung im Heiligtum bzw. nach Berührung der Reliquien. Beinahe ebenso viele ereigneten sich noch am gleichen Tag oder an den beiden folgenden Tagen.60 Angesichts des materiellen Mangels und der fehlenden medizinischen Versorgung, unter der die Bevölkerung zwischen 500 und 1500 litt, bezogen sich das gesamte Mittelalter hindurch die meisten Wunder am Pilgerort auf die Heilung körperlicher Gebrechen. – Als Zweites nahmen Menschen die Pilgerschaft persönlich oder durch einen Stellvertreter als Ausgleichsleistung für begangene Verfehlungen auf sich. Ebenso wie die irischen Bußbücher die Verbannung von der heimatlichen Insel als Sühneleistung für schwere Vergehen verlangt hatten, konnte hinter der zeitlich befristeten Übernahme der Heimatlosigkeit um der Pilgerschaft willen eine Sühnewallfahrt stehen. Zugleich verband man mit der Sühnewallfahrt die Hoffnung, dass der Heilige am Zielort dem Pilger weiter helfen möge, die ihm aufgetragene Bußleistung wirklich zu erfüllen. Im Verlauf des Mittelalters verbreitete sich sogar zunehmend die Sitte, schwere Delikte mit einer Wallfahrt zu den großen Heiligtümern zu bestrafen und so Haftstrafen zu ersetzen.61

 

Das Pilgerandenken, das ein Pilger am Zielort erhielt – beispielsweise die Jakobsmuschel in Santiago de Compostela –, hatte im Mittelalter zeichenhaften Rechtscharakter. Im Diesseits schützte es den Pilger, wenn er es an der Krempe seines Pilgerhutes trug. Mit Blick auf das Jenseits gingen mittelalterliche Menschen davon aus, dass das Pilgerandenken im ewigen Gericht zu ihren Gunsten in die Waagschale fällt. Viele zeitgenössische Gerichtsdarstellungen belegen diesen Zusammenhang von Diesseitsinvestition und Jenseitsleistung. Entsprechend gab man das Pilgerzeichen einem Menschen bei seiner Bestattung mit ins Grab, damit er es im Jenseits als Beleg für seine gute Tat vorzeigen konnte.62

Das „Rechnen“ innerhalb des spirituellen Handelns mag heutzutage befremdlich wirken. Religiöses Leben und Geschäftemacherei gelten gegenwärtig eher als unvereinbar. Vielleicht kann Paulo Coelhos Pilgerbericht hier eine Brücke in fremde Welten bauen, denn er verknüpft seine Pilgerschaft ausdrücklich mit dem mittelalterlich selbstverständlichen Gedanken der geistlichen Leistung. – Vertrauter als das Verständnis des Pilgerns im Sinne einer frommen Leistung wird vielen Pilgern des dritten Jahrtausends die Bewältigung des Pilgerweges als sportliche Leistung sein. Von ihrer auch sportlich motivierten Pilgerschaft versprechen sie sich im Gegenzug ein freilich auf das Diesseits begrenztes Mehr an Ganzheitlichkeit: körperliche Fitness oder seelische Grenzerfahrungen.

Eine in den vorgestellten Pilgerberichten nicht angesprochene Frage bezieht sich auf jene Menschen, die pilgern wollen, aber daran durch innere oder äußere Umstände gehindert sind. Haben sie, wenn sie einen Mietpilger an ihrer Stelle auf die Wallfahrt schicken, erstrangig den Zielort der Wallfahrt im Blick, weil eben dort die größtmögliche Nähe zum „Zielpatron“ der Wallfahrt möglich ist? Oder richten auch sie ihr religiöses Sehnen erstrangig auf die persönliche Sinnsuche aus?

Das Angebot an Mietpilgern ist vielfältig und im Internet leicht aufzurufen. Mietpilger sind ein interreligiöses Phänomen und kommen bis heute auch in anderen Weltreligionen vor. Sie bieten ihren Zeitgenossen an, sich für sie stellvertretend und gegen Bezahlung an einen heiligen Ort zu begeben.63

„Ihr Ziel ist mein Weg. Ich pilgere für Sie z. B. nach Santiago de Compostela, Finisterre, Rom, Assisi, Lourdes, Fatima …“, heißt es in einem Inserat.64 Und ein anderer Mietpilger wirbt: „Wenn Sie möchten, gehe ich sogar ein Stück des Weges für Sie und bringe Ihre guten Wünsche und Hoffnungen an die heiligsten Pilgerorte Europas.“65 Tatsächlich wird das Mietpilgertum hier als stellvertretendes Pilgern verstanden: „Ich gehe also für all diejenigen den Weg, die aus zeitlichen oder gesundheitlichen Gründen nicht selbst in der Lage sind, die Pilgerreise antreten zu können. An den entsprechenden Etappenzielen bete ich für Sie und platziere auf Wunsch dort auch ganz persönliche Gegenstände, mit denen Sie Ihre Hoffnungen und Wünsche in Verbindung bringen. Gerne mache ich auch Fotos von der Reise und Ihren Devotionalien vor Ort. So können Sie später in Ruhe Ihre ganz persönliche Pilgerreise noch einmal erleben, als wären Sie dabei gewesen. Am Ziel der Reise wird die Compostela für den Jakobsweg oder der Pilgerausweis mit seinen Stempeln als Nachweis für die zurückgelegte Strecke mit Ihrem Namen an Sie überreicht.“66

Im überbietenden Sinne wirbt ein anderes Angebot mit der rituellen Einfassung des Mietpilgerauftrages: „Durch Rituale, die zu Hause oder an besonderen Orten vor dem Beginn vollzogen werden können, und durch deren Ritualisierung auf dem Weg bleiben Sie auf der ganzen Pilgerschaft bis zum Ziel involviert. Gerne kann ich Ihnen zur Gestaltung einer solch herausgehobenen Zeit Vorschläge unterbreiten.“67

Die vorgestellten Inserate deuten darauf hin, dass den Auftraggeber eines Mietpilgers tatsächlich die durch den Heiligen am Zielort der Wallfahrt versinnbildlichte Mischung aus ortsbezogener und personaler Heiligkeit dazu motiviert, einen Mittelsmann in seinem Namen loszuschicken („Ihr Ziel ist mein Weg“). So stehen hinter seinem Anliegen zwei Überzeugungen. Erstens: Den Zielort der Wallfahrt zeichnet ein „Mehr“ an heiliger Kraft aus im Vergleich zu den sonstigen Orten des Alltags. Zweitens: Um dieses „Mehr“ willen nimmt der Auftraggeber eines Mietpilgers zahlreiche Anstrengungen auf sich.

Nochmals gefragt: Trifft es also zu, dass es den Wallfahrern, die den Weg persönlich auf sich nehmen, um die Unterwegs-Erfahrungen der persönlichen Sinnsuche geht, wohingegen der Auftraggeber eines Mietpilgers allein wünscht, dass sein „Mittelsmann“ den heiligen Zielort erreicht? Gilt im einen Fall „Der Weg ist das Ziel?“ und im anderen Fall „Der heilige Ort ist das Ziel?“ Diese scharfe Kontrastierung erscheint fraglich. Auch wenn bislang keine gegenwartsbezogenen Untersuchungen zum Mietpilgertum vorliegen, deuten zumindest die Inserate der Mietpilger darauf hin, dass ihre Auftraggeber ebenfalls Spuren persönlicher Begegnungen auf dem Pilgerweg hinterlassen wollen. Vielen von ihnen ist es ein Anliegen, einerseits durch stellvertretend vollzogene Gebete oder Gesten in die Geschichte dieses Weges einzugehen und andererseits mithilfe von Fotos und anderen Medien an den heiligen Kräften auch der kleinen Orte des Camino zu partizipieren. Somit erlebt sowohl der Pilger als auch der Auftraggeber eines Mietpilgers die Wallfahrt als eine Begegnungsgeschichte: mit sich selbst und mit den traditionsreich-kraftgeladenen Orten am Weg. Freilich verbleibt die Differenz, dass der Auftraggeber einer Wallfahrt im Vergleich zu einem Pilger die Erfahrungen am Weg und am Zielort immer nur auf indirekte Weise mit vollziehen kann, sodass eine Höherbewertung des Zielortes bei ihm naheliegt.

Die von einem Mietpilger übernommene Wallfahrt erfolgt im Sinne einer religiösen Leistung gegen Bezahlung. Umso mehr fällt auf, dass die Werbeinserate der Mietpilger die geschäftliche Seite ihres Tuns weit in den Hintergrund drängen. Stattdessen bieten sie sich als „Vertrauensmenschen“ an, die sich mit Haut und Haar, mit Riten und Zeichen für ihren Auftraggeber engagieren. Tatsächlich inszenieren sie sich eher als religiöse Virtuosen und kaum als Geschäftsleute. Diese Differenz macht neugierig auf eine christentumsgeschichtliche Orientierung, die sich der Pilgerschaft im Spannungsfeld von Leistung und Gegenleistung widmet.

c) Fazit

Der Reiz einer Pilgerschaft liegt heutzutage offenbar darin, dass ein Pilger auf Vorgaben aus der christlichen Tradition stößt, auf die er in seiner Individualität reagieren kann, indem er sie sich zu eigen macht, sich davon absetzt oder sie im Blick auf seine eigene Situation variiert. So bleibt es der Entscheidung des Pilgers überlassen, inwieweit er seinen Weg als Möglichkeit der Begegnung mit sich selbst und anderen Weggefährten sieht oder ob er seine Pilgerschaft auf den Wallfahrtsort und die Begegnung mit der göttlichen Kraft in den Reliquien an seinem Zielort ausrichtet. Die Mehrheit der Pilger sieht die Pilgerschaft offenbar als große Chance zur vertieften Begegnung mit sich selbst – entweder in persönlicher Einsamkeit oder in der sozialen Eingebundenheit einer Gruppe. So spiegelt das Pilgerwesen den gegenwärtigen Trend zum Subjektiven klar wider. Unter dieser Prämisse leben und veranschaulichen die Pilger das Ideal der christlichen Ortlosigkeit auf dem Pilgerweg.

Auch das Thema „Ganzheitlichkeit“ durchklingt die Pilgerberichte vernehmlich und verbindet sich mit persönlich ausgewählten Teilen der christlichen Tradition: Pilgern als leiblich-seelische Erfahrung, Pilgern als Eingebundenheit in die Gemeinschaft der Pilger und in die Geschichte des Pilgerweges, Pilgern nicht zuletzt als Einswerden mit dem Kosmos.68

Eine kirchlich-institutionelle Rückbindung der Pilgerschaft reflektieren die Pilgerberichte und die Mietpilger-Inserate kaum. So nutzen die Pilger zwar die von Christentum und Kirche geschaffene Infrastruktur des Pilgerweges. Doch eine Begegnung mit den dogmatischen oder ethischen Vorgaben des Christentums unterbleibt weithin.69 Damit erfreut sich die Pilgerschaft aktuell tatsächlich auch deshalb eines solch großen Zuspruchs, weil sie „ein geeignetes Forum für die Inszenierung spät- oder postmoderner, posttraditioneller Formen von Religiosität“ bietet.70

2. Aktuelle partnerschaftliche Selbstinszenierungen – Liebesschlösser


© Superbass – Wikipedia

In der ersten Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am Sonntag des Jahres 2010 kommt unter dem Titel „Der ganz normale Heiratswahnsinn“71 die erfahrene Hochzeitsorganisatorin Kathleen Stutz zu Wort: „Die Paare planen [heutzutage] immer detailreicher, die Feiern sind immer individueller. […] Denn die größte Angst haben Brautpaare vor einer Hochzeit von der Stange.“ Früher hätten die Paare einfach ein Kuchenbuffet bestellt; heute übersendeten sie aus Zeitschriften gerissene Tortenfotos oder sogar Powerpoint-Präsentationen, die zeigen, wie die Brautleute den Spargel angerichtet sehen wollen – mit einem roten Balken quer durch die unerwünschte Optik: „So auf keinen Fall!“ Kathleen Stutz stellt heraus, dass effektvolle Arrangements für die partnerschaftliche Selbstinszenierung seit Jahren an Bedeutung zunehmen.

Zu den partnerschaftlichen Selbstinszenierungen gehören auch die in Illustrierten und Zeitungen oftmals dokumentierten Event-Hochzeiten. Die Angebotspalette reicht hier von virtuellen Hochzeiten bis hin zu Wildnis-Hochzeiten. Inwieweit spiegeln sie die Individualität, das Ganzheitlichkeitsstreben und die Institutionenferne der Beteiligten wider?

Öffentlicher und dauerhafter sichtbar inszenieren die mittlerweile in vielen Städten anzutreffenden Vorhängeschlösser mit den darauf geschriebenen Namen der beiden Verliebten eine Partnerschaft. Warum – und das ist der Schwerpunkt dieses Kapitels – hängen immer mehr Menschen ein solches Liebesschloss auf? Sind hier wiederum die genannten drei modernen Trends (Streben nach Individualisierung, Mühen um Ganzheitlichkeit, Abkehr von Institutionen) maßgeblich?