Demokratietheorien

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Hubertus Buchstein, Kerstin Pohl, Rieke Trimçev

Vorwort zur 10. Auflage

Das Buch ‚Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart‘ ist erstmals 2001 unter der Herausgeberschaft von Peter Massing und Gotthard Breit erschienen. Seitdem gab es mehrere Neu- und Nachauflagen, zuletzt in einer 2012 revidierten Neuausgabe mit Hubertus Buchstein als drittem Herausgeber. Das Buch stößt weiterhin auf eine rege Nachfrage, weshalb der Verlag und die Herausgeber sich zu einer erneuten überarbeiteten Neuauflage entschlossen haben. Keine Änderung hat es bei der bewährten didaktischen Grundidee des Buches gegeben: Auf einen prägnanten Quellentextauszug folgt eine erläuternde Interpretation. Änderungen gab es hingegen zum einen bei der Herausgeberschaft – an die Stelle der beiden Gründungsherausgeber sind nun Kerstin Pohl und Rieke Trimçev getreten. Zum anderen wurden für die 10. Auflage auch inhaltliche Änderungen vorgenommen. Alle Interpretationen sind dort, wo es nötig war, aktualisiert worden. Darüber hinaus wurden gegenüber vorherigen Ausgaben einige Quellentexte samt Interpretationen herausgenommen und andere neu hinzugefügt – neu ist insbesondere das fünfte Kapitel des Buches zu „Gegenwartsproblemen der Demokratie“, das jüngere Entwicklungen im Feld der Demokratietheorie nachzeichnet. Der in den bisherigen Auflagen abgedruckte Anhang mit Auszügen aus wichtigen Verfassungstexten ist mit dieser Auflage in den digitalen Raum gewandert und auf der Internetseite des Wochenschau Verlages abrufbar.

In bewährter Manier bietet das vorliegende Buch Bachelor-Studierenden der Politik- und Geschichtswissenschaft, Schüler*innen der Sekundarstufe II und Lehrenden in der politischen Bildung eine Einführung in die Demokratietheorien. Es spannt den Bogen von der Antike (Kapitel I), dem Mittelalter und der Neuzeit (Kapitel II) über die mit der Amerikanischen und der Französischen Revolution beginnende Moderne (Kapitel III) und die vielfältigen demokratietheoretischen Konzeptionen des 20. Jahrhunderts (Kapitel IV) bis zur Gegenwart (Kapitel V). Alle fünf Kapitel sind mit Einleitungen versehen, in welchen die demokratietheoretischen Entwicklungen in den jeweiligen Epochen knapp skizziert werden. Die dann jeweils folgenden Quellentexte setzen sich im Wesentlichen mit den folgenden drei Fragen auseinander: Welche Gründe sprechen für die Demokratie? Wie soll politische Herrschaft in der Demokratie organisiert sein? Welche Rolle sollen oder können die Bürger*innen in der Demokratie ausüben? Jeder der insgesamt 35 Quellenauszüge wird durch eine Interpretation ergänzt. Die von unterschiedlichen Autor*innen verfassten Interpretationen bieten erstens eine historische Einordnung der Quellenauszüge, erläutern zweitens ideengeschichtliche Zusammenhänge und legen drittens die Bedeutung der demokratietheoretischen Argumente für die Gegenwart dar.

Bei der Auswahl der Quellentexte durch die Herausgeber*innen war – wie immer bei Auswahlentscheidungen – eine gewisse Willkür nicht zu vermeiden, so dass jede*r Leser*in den einen oder anderen Text vermissen wird. Soweit es möglich war, haben die Autor*innen deshalb versucht, in ihren Interpretationstexten auch auf einige der in diesem Buch fehlenden demokratietheoretischen Ansätze Bezug zu nehmen. Bei der Zusammenstellung der Quellentexte haben wir uns bemüht, zusammenhängende Textabschnitte auszuwählen. War dies nicht möglich, wurden Ausschnitte aus größeren Textpassagen so zusammengestellt, dass das Typische und Relevante erkennbar wird. Auf die Anmerkungen, die in den Originaltexten vorhanden sind, haben wir dabei verzichtet; auch in den Interpretationen wurden die Anmerkungen und Literaturhinweise so knapp wie möglich gehalten.

Die für die Quellentexte ausgewählten Autor*innen haben das Nachdenken über Demokratie auf vier unterschiedliche Weisen bereichert: Die meisten Autor*innen der hier versammelten Quellentexte haben mit ihrem Werk explizit zur Demokratietheorie beigetragen, indem sie versuchten oder heute weiterhin versuchen, Grundsätze der Demokratie zu begründen, einen kritischen Blick auf real existierende Demokratien zu bewahren und/oder Chancen der Weiterentwicklung der Demokratie auszuloten (z. B. Jean-Jacques Rousseau, Max Weber, Ernst Fraenkel, Jürgen Habermas, Pierre Rosanvallon). Einer zweiten Gruppe von Autor*innen ging es in erster Linie darum, unter ausdrücklicher Berufung auf die ‚Demokratie‘ weitreichende politische Reformen oder gar radikale gesellschaftliche Veränderungen anzustoßen (z. B. Baruch de Spinoza, Karl Marx, Abraham Lincoln, Achille Mbembe, Chantal Mouffe). Autoren einer dritten Gruppe beschäftigten sich mit Fragen und Problemen der Demokratie, ohne die Demokratie zu befürworten (z. B. Platon, Aristoteles, Thomas Hobbes) oder sprechen sich für eine Diktatur aus (z. B. Carl Schmitt). Die Autor*innen einer vierten Gruppe sind zwar nicht als Demokratietheoretiker*innen im engen Sinne zu bezeichnen, diskutierten aber in ihren Schriften Grundsätze und -kategorien, die für die moderne Demokratietheorie eine zentrale Bedeutung gewonnen haben, wie z. B. die Ideen der Mischverfassung (z. B. Cicero), der Gewaltenteilung (z. B. Charles-Louis de Montesquieu), des Großflächenstaates (z. B. die Federalists), der Repräsentation (z. B. Burke), der Frauenrechte (z. B. John Stuart Mill), der Rechtsstaatlichkeit (z. B. John Locke), des Parlamentarismus (z. B. Max Weber), der sozialen Gerechtigkeit (z. B. John Rawls) oder der Geschlechtergerechtigkeit (z. B. Judith Butler). Mit dieser Auswahl werden neben den Verfechter*innen der Demokratie daher auch solche Klassiker der politischen Ideengeschichte berücksichtigt, die der Demokratie im Verständnis ihrer jeweiligen Zeit zwar kritisch gegenüberstanden oder deren politische Theorie nur am Rande auch Fragen der Demokratie thematisiert, die aber dennoch zu Wegbereiter*innen der modernen Demokratie oder gegenwärtigen Demokratietheorie gezählt werden können.

Von anderen Einführungen in die Demokratietheorie unterscheidet sich das vorliegende Buch, indem es bewusst eine Brücke zwischen Politikwissenschaft und politischer Bildung, zwischen Demokratietheorie und Demokratiepädagogik schlägt und sich an Schüler*innen, Studierende und Praktizierende der politischen Bildung gleichermaßen richtet. Ein solcher Brückenschlag ist für die Politikwissenschaft der Bundesrepublik gute disziplinäre Tradition. Doch warum sollte die ideengeschichtliche Entwicklung der Theorien über die Demokratie überhaupt ein Thema für die politische Bildung sein? Die Antwort lautet, dass demokratietheoretisches Geschichtsbewusstsein in der Gegenwart zu Möglichkeitsbewusstsein wird: Wer eine gewisse Kenntnis der Traditionen und Vielfalt des politischen Denkens besitzt, wer die zentralen Kategorien demokratietheoretischen Denkens identifizieren und Unterschiede in der normativen Bewertung erkennen kann, wird viele aktuelle politische Ereignisse und Positionen nicht nur besser verstehen und einordnen können, sondern auch demokratiepolitische Alternativen formulieren können.

Die Stabilität einer Demokratie hängt nicht zuletzt davon ab, dass die Bürger*innen die Demokratie sowie ihre eigene Rolle darin angemessen verstehen. Für die deutschen Politikwissenschaftler der ersten Stunde, die nach 1945 die politische Bildung in Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung und das Fach Politikwissenschaft an den deutschen Universitäten aufbauten, stand die Einsicht in diese Bestandsvoraussetzung der Demokratie im Zentrum ihrer Bemühungen. Sie wird in einer Aussage von Ernst Fraenkel, einem dieser Gründungsväter der bundesdeutschen Politikwissenschaft, deutlich: „Die Demokratie ist nicht nur die komplizierteste, sie ist auch die gefährdetste aller Regierungsmethoden. Ihr Funktionieren setzt voraus […] die Einsicht in das Funktionieren der Bewegungsgesetze des demokratischen Willensbildungsprozesses, damit nicht die Demokratie an einer Todesursache zugrunde geht, die sie mehr als jede andere Regierungsmethode bedroht: dem Selbstmord.“1 Mit Referenz auf seinen italienischen Kollegen Giovanni Sartori hat der 2012 verstorbene Hamburger Politikwissenschaftler Michael Th. Greven diese Einsicht als ‚Sartori-Kriterium‘ bündig auf den Punkt gebracht: Die Demokratie könne „nicht fortbestehen, wenn ihre Grundsätze und Mechanismen den geistigen Horizont des Normalbürgers übersteigen“2. Von diesem bildungspolitischen Impuls getragen, verstand sich die Politikwissenschaft der frühen Bundesrepublik im Wesentlichen als eine Demokratiewissenschaft mit der dreifachen Aufgabe der Demokratiebegründung (normative Dimension), der Demokratieforschung (empirische Dimension) und der Demokratielehre (pädagogische Dimension).3 Die Politikwissenschaft als Demokratiewissenschaft war sich bewusst, dass Unverständnis und Unkenntnis gegenüber der Demokratie auf diese negativ zurückwirken und zu Veränderungen führen können, die sich unkontrolliert vollziehen und nicht gewollt sind.

Häufig existieren utopische und idealisierte Vorstellungen von Demokratie und überzogene Erwartungen und Anforderungen bezüglich der Leistungsfähigkeit eines demokratischen Systems, die sich weit von der Realität entfernt haben und vor denen die alltägliche Praxis demokratischer Wirklichkeit unscheinbar, wenn nicht sogar abstoßend wirkt. Auch wenn diese Wirklichkeit vielfach auch aus Sicht angemessener Standards kritikwürdig erscheint, produzieren unangemessene utopische und idealisierte Vorstellungen Enttäuschungen über Teilaspekte real existierender Demokratien, die eine emotionale Ablehnung auslösen und zu einer generellen Demokratieskepsis und -verdrossenheit führen können. Die hohe Kunst der demokratischen Urteilsfähigkeit besteht aber gerade darin, zwischen den beiden Polen eines demokratischen Utopismus und eines undemokratischen Zynismus klug hindurch zu navigieren. Das heißt, Missstände der Demokratie offen und schonungslos zu benennen und zugleich die Demokratie und die in ihr handelnden Personen nicht an unangemessenen Maßstäben zu messen und so vermeintlich scheitern zu lassen. Eine Auseinandersetzung mit der Geschichte der über, für und gegen die Demokratie vorgebrachten Argumente kann den Weg zu einer solchen Balance unterstützen. Denn sie zeigt, dass die Wahl niemals jene zwischen ‚entweder‘ und ‚oder‘, zwischen Ideal und Ernüchterung ist. Nicht nur gab und gibt es konkurrierende Ideale demokratischer Regierung, deren Halbwertszeit sich offensichtlich nicht an ihrer vollumfänglichen Umsetzung bemessen hat – gerade von den „Idealist*innen“ unter den Demokratietheoretiker*innen bleibt viel für eine produktive und differenzierte Kritik an zeitgenössischen Missständen zu lernen. Es zeigt sich auch, dass selbst dezidierte Demokratiekritik nicht neu ist, und sich stets an ihrer argumentativen Begründung wird messen lassen müssen.

 

In formaler Hinsicht war eine besondere Herausforderung in der Arbeit an dieser Neuauflage, den Ansprüchen geschlechtergerechter Sprache und der ideengeschichtlichen Authentizität gleichermaßen gerecht zu werden. Während die Quellentexte diesbezüglich selbstverständlich unangetastet geblieben sind, haben wir bei den Interpretationen das Prinzip eines ‚historischen Indexes‘ angewandt. Damit ist gemeint, dass auch in den Interpretationen darauf geachtet wurde, dem jeweiligen Denkhorizont der Originalautor*innen und ihrer Zeit gerecht zu werden und anachronistische Formulierungen zu vermeiden. Das bedeutet, dass in den Interpretationstexten zur griechischen Antike oder dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit allein deshalb nur von Bürgern und nicht auch von Bürgerinnen die Rede ist, weil explizit auch nur Männer als Inhaber politischer Rechte gemeint waren. Dies ändert sich im 19. Jahrhundert bei einigen Autoren, wie zum Beispiel John Stuart Mill und Karl Marx, weshalb wir spätestens für den Zeitpunkt, zu dem Frauen politische Rechte erlangt hatten, die männliche und weibliche Form gewählt haben. Als Konsequenz der intensivierten Genderdebatten seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts wird diese strikte Unterscheidung zunehmend in Frage gestellt, weshalb wir im fünften Kapitel auch das Gendersternchen verwenden.

Die Herausgeber*innen verdanken den beteiligten Autor*innen der Interpretationstexte viele wertvolle Hinweise; auch einige der ausgewählten Quellentexte und -auszüge sind erst über Vorschläge der beteiligten Autor*innen aufgenommen worden. Für ihre vielfältige redaktionelle Unterstützung danken wir Fabian Fleßner und Steffi Krohn. Auf Seiten des Wochenschau Verlages danken wir Dr. Tessa Debus und Dr. Birgit Wolter, die auch diese 10. Auflage engagiert begleitet haben, für die bewährte Zusammenarbeit.

Greifswald und Mainzim August 2021

Anmerkungen

1 Ernst Fraenkel: Akademische Erziehung und politische Berufe (1955). In: Ders.: Gesammelte Schriften Band 6. Baden-Baden 2011, S. 341-372, Zitat S. 348.

2 Vgl. Michael Th. Greven: Zukunft oder Erosion der Demokratie? (2010) In: Ders.: Die Erosion der Demokratie. Wiesbaden 2020, S. 155-178, Zitat S. 168.

3 Vgl. Hubertus Buchstein: Demokratiepolitik. Theoriebiographische Studien zu deutschen Nachkriegspolitologen. Baden-Baden 2012, S. 11-14.

I. Antike

Klaus Roth

Einleitung Antike

Die Fundamente unseres Politikdenkens wurden von den alten Griechen gelegt, die im Rahmen der antiken Polis erstmals in der Weltgeschichte die Selbstbestimmung und -verwaltung autarker Bürgerschaften unter Mitwirkung breiter Schichten der Bevölkerung praktizierten und im fünften und vierten vorchristlichen Jahrhundert direkte oder unmittelbare Demokratien realisierten.1 Die von ihnen erfundene Politik basierte auf der Trennung des Öffentlichen vom Privaten, auf der Abdrängung der wirtschaftlichen Angelegenheiten in die Privatsphäre der Familien und auf der Verselbstständigung und Auslagerung eines spezifischen Handlungsfeldes aus dem natürlichen Lebenszusammenhang. Ihr Ziel und Zweck (telos) war die – als Selbstzweck gedachte – Interaktion der freien Bürger, das Miteinander-Reden und Handeln, der geregelte Streit, die Verfolgung gemeinsamer Ziele durch kollektives Handeln, die Konstitution und Organisation familienübergreifender Kollektive und ihrer Beziehungen zueinander. Ihr Resultat war die historisch einmalige Organisation von Bürgergemeinden (Poleis), von staatsfreien Verbands- und Handlungseinheiten, die über den Familien und den natürlichen Abstammungs- und Kultgemeinschaften, den Phylen und Phratrien, angesiedelt waren, wirtschaftlich und politisch unabhängig waren und von der Gesamtheit aller freien Bürger (männlichen Geschlechts) konstituiert und verwaltet wurden. Folge der Entstehung der Polis und des Politischen war die Durchbrechung der altaristokratischen Kette von Schuld und Sühne, Hass und Gewalt, Rache und Gegenrache, die Eindämmung der Fehden und die Zivilisierung der Menschen, die in der Politik einen friedlichen und rationalen Umgang miteinander erlernten.2

Infolge der Erfindung des Politischen bildete sich für die freien Bürger eine Art Doppelleben aus: Neben oder oberhalb des „häuslichen“ Lebens entwickelte sich das „politische“ Leben. Im Haus, im eigenen Oikos, sorgte jeder für sich und seine Familie, in der Polis hingegen für das Wohl der Stadt und für die Interessen der Gesamtheit. Mit den wirtschaftlichen Belangen wurde zugleich die Herrschaft in den Oikos verlagert. Die Politik ereignete sich im Zusammentreffen Freier und Gleicher, die durch keinerlei Befehls-Gehorsams-Beziehungen miteinander verbunden waren. Diese hatten ihren Ort in der vorpolitischen Sphäre der Familie, im Oikos, der alles umfasste, was zum antiken „Haushalt“ gehörte. Hier herrschten die Hausvorsteher als Despoten über ihre Frauen, Kinder und Sklaven.3 Der politische Bereich hingegen wurde von freien und rechtlich gleichgestellten Bürgern konstituiert. Voraussetzung dafür und für das Engagement breiter Bürgerschichten war die Existenz von Sklaven, die für die Subsistenz zu sorgen hatten. Funktionsbedingung der Polis und der Politik war ferner der Ausschluss von ortsansässigen Fremden (Metöken) sowie von Frauen, denen jegliches Bürgerrecht verweigert wurde. Frauen hatten – als Mädchen, Gattinnen und Mütter – ihre Pflichten im Oikos zu erfüllen. Sie wurden von allen öffentlichen Plätzen und Angelegenheiten ferngehalten.

Mit den Reformen des Kleisthenes (508/7 v. Chr.) wurde in Athen – und in der Folge in zahlreichen weiteren griechischen Gemeinwesen – die Aristokratie entmachtet, allgemeine Rechtsgleichheit (Isonomie) als Vorstufe der Demokratie und eine auf der Partizipation aller freien Bürger basierende politische Ordnung institutionalisiert. Der alte Adel verlor seine Vorherrschaft und musste sich fortan mit den unteren Volksschichten auseinandersetzen und arrangieren. Die politische Macht (kratos) geriet in die Hände des „gemeinen Volkes“ (demos), das seine erlangte Freiheit zur politischen Selbstbestimmung, zur öffentlich-diskursiven Willensbildung, zur strengen Kontrolle und zeitlichen Begrenzung der durch Los besetzten Ämter und zur kollektiven Verwirklichung gemeinwohldienlicher Projekte nutzte.4 Zwar existierte die alte, vom Adel dominierte Ordnung zunächst neben der neuen fort, doch wurden ihr wichtige Funktionen entzogen. Der Areopag, der alte Adelsrat, blieb zuständig für die Blutgerichtsbarkeit und für die Aufsicht über die Beamten, doch verlor er auch diese Rolle noch, als ihn die Bürgerschaft unter Führung des Ephialtes 462/61 v. Chr. gänzlich entmachtete, zahlreiche Areopagiten ermordete oder verjagte und in der Folge alle Ämter demokratisch besetzte und kontrollierte. Künftig wurden alle Entscheidungen in der Volksversammlung getroffen, die nun alleine die Oberhoheit ausübte. Durch den Sturz des Areopags wurde der Weg frei zu einer radikalen Demokratie, die in der Zeit des Perikles ihre größten Triumphe feierte und eine kulturelle Blüte ermöglichte, die späteren Zeiten als nie wieder erreichtes Vorbild erschien. Die Gestaltung des Gemeinschaftslebens wurde zur Aufgabe und Pflicht aller Bürger, die ferner an der Selbstverwaltung partizipieren mussten und ihren Beitrag zur Schaffung von Ordnung zu leisten hatten. Durch das Losprinzip und durch die Begrenzung der Amtsdauer wurde gesichert, dass möglichst viele Bürger mindestens einmal im Leben ein politisches Amt übernehmen konnten oder mussten.5

War die Polis einerseits ein Ort der Entspannung und des Zeitvertreibs, der Eintracht und des „ewigen Gespräches“, so war sie andererseits eine Stätte des Streits und der erzwungenen Dienstleistung. Anstatt dem Bürger Freiheits- und Rückzugsrechte zu gewähren, verpflichtete sie ihn zu den unterschiedlichsten Aktivitäten und nahm ihn vollauf in Dienst.6 Wer sich dem politischen Leben verweigerte, verlor seine Bürgerrechte, wurde als „Idiot“, als Eigenbrötler betrachtet und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.7 Trotz (oder wegen?) dieser Militanz wurde das politische Engagement im fünften vorchristlichen Jahrhundert in Athen zum Lebensmittelpunkt der freien Bürger männlichen Geschlechts.8 Infolge des Ionischen Aufstandes (500-494 v. Chr.) und der Perserkriege (490-479 v. Chr.) festigte sich die Bürgeridentität. Die Politik avancierte zu einem eigenständigen und autonomen Betätigungsfeld, dem eine höhere Dignität zugesprochen wurde als der Sphäre der materiellen Produktion und Reproduktion, der Akkumulation und Konsumtion von Reichtum und Besitz. Allerdings entwickelten die Athener zugleich einen ungezügelten, von keiner humanistischen Moral gebremsten Machtinstinkt, der sie zu einer rücksichtslosen Politik gegenüber ihren Partnern im Attischen Seebund verleitete. Dadurch kam es zum Bruch mit Sparta, der den mörderischen Bruderkrieg zwischen beiden Städten auslöste und den Niedergang der demokratischen Polis einleitete.

Im Verlauf des Peloponnesischen Krieges (431-404 v. Chr.) verbreitete sich eine allgemeine Unsicherheit über die Umgangsformen und die Institutionen der athenischen Polis. Die seitherigen Gepflogenheiten des politischen Lebens, die lange Zeit nicht weiter hinterfragten Selbstverständlichkeiten, die eingespielten Gewohnheiten, selbst die geltenden Gesetze (nomoi) wurden infrage gestellt und relativiert. Um 430 v. Chr. grassierte in Athen die Pest, der auch Perikles (ca. 500-429 v. Chr.) zum Opfer fiel. Seine Rolle als „Volksführer“ übernahmen Epigonen – von Kleon über Kritias bis Alkibiades –, die weniger das Wohl der Bürgerschaft als ihre eigenen Machtinteressen im Auge hatten. Ergebnis war die Zerrüttung der Polis und die schließliche Niederlage Athens gegen Sparta. Das Vertrauen in die integrierende und ausgleichende Kraft des demokratisch herbeigeführten Gesetzes schwand. Die frühere Geltung und Bedeutung der Polis war erschüttert. Eine allgemeine „Politikverdrossenheit“ breitete sich aus. Die Bürger zweifelten am Sinn und Zweck der politischen Beteiligung. Innerhalb von nur acht Jahren erlebte Athen eine viermalige Verfassungsänderung, die den ohnehin bereits virulenten Zweifeln an der „Natürlichkeit“ des Gesetzes (nomos) Auftrieb und neue Nahrung gab. 411/10 v. Chr. wurde die Demokratie beseitigt und mit dem Rat der Vierhundert eine Oligarchie errichtet. Dieser folgte zwar die Restitution der Demokratie, die aber mit der Kapitulation Athens (404 v. Chr.) der Tyrannis der Dreißig und der Zehn wich, bis schließlich 403 v. Chr. das Volk wieder die Macht ergriff und alles durch von ihm dominierte Abstimmungen und Gerichtshöfe verwaltete. Zwar wurde die Demokratie damit wiederhergestellt, doch wollte alsbald keiner mehr in die Volksversammlung gehen, weshalb man nach dem Zeugnis des Aristoteles „alle möglichen Listen“ ersann, „um die Menge zur beschließenden Abstimmung zu locken“.9 So führte man wieder Diäten für die Übernahme von Mandaten und 392 v. Chr. endlich ein Tagegeld für den Besuch der Volksversammlung ein, das zunächst einen Obolus betrug, alsbald aber auf zwei und schließlich auf drei Obolen erhöht wurde.

 

Damit waren aber die Ursachen der Krise und des schwindenden Engagements nicht beseitigt, sondern nur die Symptome angegangen worden. Die Philosophie konnte sich mit solch oberflächlichen Heilmethoden nicht begnügen. Sie musste gründlichere Untersuchungen anstellen, sich über den Sinn und Zweck des individuellen und politischen Lebens verständigen, die Ursachen des Unfriedens und des Sittenverfalls analysieren und die potenziellen Gegenmittel thematisieren. Welche Tugenden und Institutionen waren nötig, um das städtische Leben in vernünftige Bahnen zurückzulenken? Welche Lebensweise, welche Umgangsformen, welche Sitten und Normen waren erforderlich, um zu Frieden und Eintracht zurückzufinden? Wie konnte man sie hervor- und den Menschen nahebringen? Sind Werte und Normen überhaupt lehrbar? Kann man die Bürger zu einem tugendhaften und vernünftigen Leben erziehen? Was ist der Mensch, was ist seine Bestimmung? Welches sind die Institutionen einer wohlgeordneten Polis? Wie werden sie hervorgebracht und vor dem Zerfall geschützt? – Mit diesen Fragen hatten sich nunmehr die Weisen auseinanderzusetzen. Sie stehen im Zentrum der politischen Philosophie der Sophisten sowie ihrer Gegner und Kritiker Sokrates, Platon und Aristoteles. Unzufrieden mit den Verhältnissen in der Stadt, zweifelnd an den überkommenen Sitten, machten sich die Intellektuellen auf die Suche nach dem Bild einer besseren Polis, nach einem neuen Paradigma für die Politik. Dabei entwickelten sie politikphilosophische Einsichten, die für die Folgezeit mustergültig wurden und auch heute noch die Demokratietheorie stimulieren.

Drei Fragenkomplexe schälten sich als besonders dringlich heraus: 1. Wie konnte man einen Maßstab finden, mit dessen Hilfe sich die Wissensbestände (epistéme) ordnen und stabilisieren, mit dem sich wahre Erkenntnisse von bloßen Meinungen (dóxa) unterscheiden ließen? 2. Welche pädagogischen Vorkehrungen konnte man treffen, um die Menschen zu einem tugendhaften Handeln und zur politischen Beteiligung zu motivieren, sie zu Sittlichkeit und Anstand zu erziehen und zu einem glücklichen und zufriedenen Leben zu befähigen? 3. Welche Institutionen waren erforderlich, um den Frieden zu sichern, die Polis zu restituieren und vor dem Zerfall zu schützen?

Die griechische Philosophie, die zu Beginn des 6. Jahrhunderts in Ionien entstand, hatte sich ursprünglich mit dem Kosmos und der Natur und nur indirekt mit den Problemen des menschlichen Zusammenlebens beschäftigt. Kritische Reflexionen auf die soziale und politische Lage blieben zunächst der Lyrik und der Tragödie vorbehalten.10 Die ersten Philosophen, die sich eingehend mit den menschlichen und den politischen Angelegenheiten befassten, waren die Sophisten (Protagoras, Gorgias u.a.), denen die Kontingenz und Veränderbarkeit der Verfassungen und Gesetze bereits früh bewusst und zum zentralen theoretischen Problem wurde. Sie waren in der Regel Anhänger der Demokratie und überzeugt davon, dass sich „Tugend“ oder „Tüchtigkeit“ (areté) lehren lasse. Sie zogen deshalb als Lehrer durch die Lande, um den Kindern wohlhabender Familien gegen Entgelt die Prinzipien eines gelingenden, eines ehrenhaften und erfolgreichen Lebens beizubringen, sie in Rhetorik und praktischer Klugheit (phronesis) auszubilden, damit sie sich sowohl in den eigenen Angelegenheiten als auch im öffentlichen Leben bewähren, ihr Haus möglichst gut verwalten und in den Belangen der Stadt mithandeln und mitreden konnten (vgl. Platon: Protagoras 319 a). Ihr Ziel war es, ihren Schülern angesichts der Unwägbarkeiten der politischen Praxis einen neuen Lebenssinn und eine neue Orientierung zu vermitteln. Leider sind ihre Schriften verschollen und nur wenige Fragmente (vor allem durch ihren Kritiker Platon) überliefert.

Als ihr philosophischer Gegner profilierte sich Sokrates (469-399 v. Chr.), der den Wahrheits- und Werterelativismus der Sophisten attackierte und sich bemühte, die sophistische Kunst und Rhetorik als Dilettantismus, als sinnloses und leerlaufendes Können zu entlarven. Auch er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, die jungen Leute zum Nachdenken über die Prinzipien des guten Lebens zu inspirieren. Anders als seine philosophischen Rivalen ließ er sich dafür aber nicht entlohnen und erhob keinen Anspruch, sie zu erfolgreichen Praktikern zu erziehen. Vielmehr wollte er sie den Alltäglichkeiten gerade entfremden, indem er sie zu kritischen Reflexionen über die Grundsätze der Ethik und der Politik und über die Voraussetzungen und Formen einer rationalen Lebensführung anhielt. Er pflegte auf dem Marktplatz zu disputieren und seine Mitbürger zum Nachdenken über ihre Pflichten in den unterschiedlichsten Situationen anzuregen. Von ihm lernten sie, ihre vorgefassten Meinungen zu hinterfragen und alle eingespielten Selbstverständlichkeiten des praktischen Lebens in Zweifel zu ziehen. Von ihm erfuhren sie, dass Tugend und Anstand, dass Sittlichkeit nicht lehrbar sei, dass jeder Einzelne sie für sich selbst erringen müsse durch die bedingungslose Hingabe an die Liebe zum Wissen (philo sophia), durch eigene Erfahrung und durch die unermüdliche Suche nach dem Guten, Wahren, Richtigen und Schönen. Am Ende wurde er jedoch gerade von der demokratischen Polis wegen Missachtung der Götter und Verführung der Jugend angeklagt und 399 v. Chr. zum Tode verurteilt.

Während sich Sokrates mit mündlichen Diskussionen begnügte, brachten seine Schüler die Gedanken ihres Lehrers und ihre eigenen zu Pergament. Der bedeutendste unter ihnen war Platon (427/29-347 v. Chr.), dem wir das erste umfassende philosophische System und die entscheidenden Anstöße für die künftige Philosophie verdanken. Ihm gelang es, das gesamte Wissen seiner Zeit und die Erkenntnisse seiner Vorgänger zu synthetisieren bzw. zu kritisieren. Dies leistete er nicht nur für die theoretische, sondern auch für die praktische Philosophie, in der sich die Erfahrungen der antiken Demokratie und ihre einstigen Kämpfe, Erfolge und Missgeschicke reflektierten. Er wurde zum Anreger und Ideengeber aller nachfolgenden Philosophen, die – nach einem Wort von Alfred Whitehead – nur einen großen Appendix zum Corpus Platonicum geschrieben haben. Sein bedeutendster Schüler war Aristoteles (384-322 v. Chr.), der auf dem von ihm geebneten Weg weiter ging und die Einsichten seines Lehrers präzisierte und gegebenenfalls korrigierte.11

Im Gegensatz zu den Sophisten waren Sokrates, Platon und Aristoteles keine Anhänger der Demokratie, wie sie in Attika praktiziert wurde. Diese erschien ihnen vielmehr als Verfalls- und Entartungsform des Politischen, die sie für die politische Katastrophe, die Niederlage Athens und den Verfall der Polis, verantwortlich machten. Bereits Sokrates hielt sich von den politischen Tagesgeschäften fern, weil in ihnen die strenge Respektierung der moralischen Gesetze unmöglich war (vgl. Platon: Die Apologie des Sokrates, 31 C f.). Auch Platon und seine Schüler zogen sich enttäuscht aus der politischen Arena zurück und verlegten sich auf die geistige Arbeit in ihrer Akademie. Da Aristoteles kein Athener, sondern Metöke war, hatte er kein Bürgerrecht und konnte folglich seine ganze Kraft der philosophischen Praxis widmen. Die Distanzierung von den konkreten politischen Vorgängen und Entscheidungen ermöglichte es ihnen, grundsätzliche Reflexionen anzustellen und bleibende Einsichten in das Wesen der Politik zu gewinnen. Zwar partizipierten sie selbst nicht am politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozess, doch wurden sie nicht müde, ihren Landsleuten den Sinn und Zweck und die Notwendigkeit der politischen Beteiligung zu demonstrieren. Ihr großes Ziel war die Wiederaufrichtung der daniederliegenden athenischen Polis auf einer erneuerten sittlichen Basis.