Demokratietheorien

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Interpretation

Der Beitrag des Marsilius von Padua (ca. 1275/80 bis ca. 1342) zur Genealogie der Demokratie ist umstritten. Gegen die ältere Interpretation, die ihn zum Klassiker der modernen Demokratietheorie, zum Radikaldemokraten und Vorläufer Rousseaus stilisiert hatte (Otto von Gierke u.a.), wurde von der jüngeren Forschung zu Recht eingewandt, dass die von ihm begründete Theorie der Volkssouveränität noch nicht zur heutigen, auf Freiheit und Gleichheit aller einheimischen Männer und Frauen basierenden Idee der Volksherrschaft führte, sondern der mittelalterlichen Ständeordnung verhaftet blieb, in der allein die oberen Stände herrschten und Anteil an der Regierung hatten. Dieser Einwand bleibt jedoch fadenscheinig. Auch in der antiken Demokratie waren Frauen, Sklaven und Metöken von der politischen Teilhabe ausgeschlossen. Und noch im 18. und 19. Jahrhundert galt als selbstverständlich, dass nicht alle in einem staatlichen Territorium lebenden Menschen Stimmrecht haben, also „Staatsbürger“ und nicht bloße „Staatsgenossen“ sind. Vorausgesetzt war Bildung und Besitz. Sowohl Gesellen, Dienstboten, Unmündige, „alles Frauenzimmer, und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betriebe, sondern nach der Verfügung anderer (außer des Staats) genötigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit“, bemerkte Immanuel Kant, dessen republikanische Gesinnung von niemandem in Zweifel gezogen wird, lapidar und apodiktisch [Metaphysik der Sitten (1797), I. Teil, § 46, Anm.]. Die Leistung des Marsilius wird deshalb durch ihre mittelalterlichen Schranken kaum geschmälert. Obgleich er kein allgemeines, freies und gleiches Wahlrecht für alle erwachsenen Menschen begründet hat, bleibt der Defensor pacis (1324) ein Meilenstein in der Entwicklung des europäischen Politikdenkens, ohne den die moderne Demokratietheorie schwerlich in Gang gekommen wäre.

Die spätmittelalterliche Gesellschaft war zerrissen. Seit dem hohen Mittelalter tobte der Kampf zwischen Imperium und Sacerdotium, Kaiser- und Papsttum, Reich und Kirche sowie zwischen den beiden universalen Mächten und den partikularen Kräften (westeuropäische Monarchien, aufstrebende Städte), die sich selbst zu regieren und verwalten gedachten, keinen Höheren in weltlichen Dingen anerkannten (superiorem in temporalibus non recognoscens) und sich selbst als „Kaiser“ in ihren Reichen verstanden (rex in regno suo imperator est). Das Kaisertum wurde nicht nur vom Papsttum, sondern auch von den Königen, Fürsten und vom städtischen Bürgertum attackiert. Gegen die ungeheuere Besitz- und Machtanhäufung der geistlichen Würdenträger, die Verfilzung von Religion und Politik und die Verkrustung der feudalen Herrschaftsverhältnisse wandten sich religiöse Protest- und Erneuerungsbewegungen, die sich auf die urchristlichen Werte zurückbesannen, ein Leben in Frieden und Gerechtigkeit, Bescheidenheit und Armut, in Gottes- und Nächstenliebe propagierten und durch ihre nachhaltige Wirkung auf breite Bevölkerungskreise heftige Konflikte provozierten, die im sog. Armutsstreit (1316-34) kulminierten. Zu den politischen gesellten sich theoretische Spannungen. Durch die Kreuzzüge waren die Europäer mit der fortgeschrittenen und weit überlegenen arabischen Kultur konfrontiert worden, die das Bemühen um Nachahmung und Einholung stimulierte. Vermittelt über arabische Quellen (Avicenna und Averroës) wurde dem Westen erstmals das Gesamtwerk des Aristoteles – einschließlich der praktischen Philosophie – erschlossen, das die seitherigen Gewissheiten und Selbstverständlichkeiten infrage stellte und die Welt mit neuen Augen zu sehen lehrte. Die Aristoteles-Rezeption, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts einsetzte, brachte das christliche Weltbild ins Wanken und erzwang eine Neubestimmung des Verhältnisses von Glauben und Wissen sowie neue Reflexionen über die Welt und die Stellung des Menschen in ihr.

Ein neues Selbstverständnis brach sich Bahn, ein weltimmanentes Denken rivalisierte mit dem Gedanken der Transzendenz und sollte ihn schließlich verdrängen. Der Aristotelismus schien ohne den Glauben an den einen und einzigen Gott auszukommen und setzte eine neue Gelassenheit an die Stelle der christlichen Furcht. Der Mensch galt nicht mehr unbesehen als sündhaft, sondern als ein mit Verstand und natürlichen Bedürfnissen ausgestattetes Lebewesen, als animal rationale et sociale. Die natürliche Ordnung erlangte Eigenbedeutung innerhalb der Gnadenordnung, die irdische Herrschaft wurde künftig nicht nur durch Bezug auf Gott, sondern auch auf die Beherrschten legitimiert. Die menschlichen Gemeinschaften – von der Familie über die Nachbarschaft, das Dorf und die Stadt bis hin zur Provinz und zum König- oder Kaiserreich – wurden nun – neben der Kirche – als „natürliche“ Einheiten eigenen Rechts konzipiert. Kein Wunder, dass sich die Theologen vehement gegen den Einbruch der Philosophie in ihr eigenes Territorium und gegen die Brechung ihres Deutungsmonopols wehrten. Doch blieb ihr Abwehrkampf letztlich vergebens. Verketzerungen und Verbote nützten wenig. Das politische Denken emanzipierte sich nach und nach aus den Fesseln der christlichen Theologie.

Eine Synthese zwischen christlichem und aristotelischem Denken war Thomas von Aquin (1225-74) gelungen, der damit zum Ausgangspunkt des weiteren Politikdenkens wurde. Auf den von ihm gelegten Fundamenten baute Marsilius von Padua auf, der die theologisch-politischen Ausgleichsbemühungen des Aquinaten nicht akzeptieren konnte. Anlässlich des neuerlichen Konflikts zwischen Kaiser- und Papsttum, den Ludwig der Bayer (1314-46) mit Johannes XXII. (1316-34) auszufechten hatte und der die abendländische Welt weiter spaltete und in Unruhe versetzte, erforschte Marsilius die Ursachen des Streitens unter den Menschen, um so die Voraussetzungen für einen künftigen Frieden zu ermitteln (Defensor pacis I,1,7). Mit aristotelischen und christlichen Mitteln, rationalistischer Argumentation und Bibel-Zitaten begründete er die Notwendigkeit einer strikten Scheidung der geistlichen und weltlichen Sphäre und beschrieb das Streben der römischen Bischöfe nach Suprematie und Weltherrschaft (plenitudo potestatis) als Ursache des Unfriedens und des ewigen Streits (I,19; II). Sollen Frieden und Gerechtigkeit unter den Menschen obwalten, so ist die Herrschaft des Gesetzes nötig, das vom Volk (populus seu civium universitas) bzw. seinem bedeutenderen Teil (pars valencior) erlassen wird und auch die weltlichen Machthaber und die Inhaber der geistlichen Ämter bindet (I,18,3). Marsilius wurde so zum Vordenker des neuzeitlichen Staates, indem er die Politik aus der religiösen Umklammerung löste, die Regenten auf das Gemeinwohl verpflichtete und die Legitimität der Herrschaft in ihrer Rückbindung an den Willen der Bürgerschaft suchte. Er wurde zugleich zum Vorläufer des späteren Konstitutionalismus, indem er zwar noch keine Bürgerfreiheiten gegen einen despotischen Staat postulierte, aber doch den Machthabern positiv-rechtliche Schranken setzen und sie der Kontrolle durch den Gesetzgeber bzw. einen von ihm bestellten Ausschuss unterwerfen wollte. Er begründete darüber hinaus den Gedanken der Volkssouveränität, der ins Zentrum der modernen Demokratietheorie rückte.

Den Ausgangspunkt seiner theoretischen Ableitung bilden nicht mehr die göttlichen Ver- und Gebote, sondern die Erfordernisse des menschlichen Zusammenlebens. Ihren Zielpunkt markieren nicht länger die Bestimmungen der Glückseligkeit und des ewigen Heils, sondern die Bedingungen und Formen, Mittel und Wege zur (Wieder-)Herstellung des irdischen Friedens. Mit Aristoteles erblickt Marsilius den Ursprung der Gemeinschaft (I,3) im menschlichen Streben nach Selbsterhaltung, d.h. im bloßen Überlebenwollen, ihren Endzweck (I,4) hingegen im „guten Leben“, d.h. in einem befriedeten und geglückten Dasein. Da aber schon das bloße Überleben infrage gestellt war, verlagerte sich der Akzent von der Zweck- (causa finalis) auf die Wirkursache (causa efficiens). Erforderlich zur Sicherung des Friedens ist nach Marsilius ein Regiment, in dem der weltliche Herrscher die geistlichen Würdenträger kontrolliert und über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens wacht. Anstatt die Politik zu dominieren und ihre Richtlinien zu bestimmen, hat die Religion in ihren Dienst zu treten und sich dem Ziel der Friedenssicherung unterzuordnen. Die Priester und Pastoren haben unverzichtbare pädagogische und zivilisatorische Funktionen („Seelenpflege“), von den politischen Angelegenheiten haben sie sich aber fernzuhalten. Damit war die traditionelle christliche Lehre von den zwei Gewalten, dem Mitund Gegeneinander des geistlichen und weltlichen Schwertes, zugunsten einer einheitlichen weltlichen Gewalt preisgegeben, die zugleich über den Klerus gebietet (II,18,9).

Weder Gott noch die Natur hat festgelegt, welche politische Organisation das Zusammenleben regelt. Es ist Aufgabe der Bürgerschaft oder ihres „bedeutenderen Teils“, sich eine Verfassung zu geben. Liegt es einerseits im freien Ermessen der Bürger, ob sie sich in autonomen Städten (civitates) selbst verwalten oder aber zu übergreifenden Reichen (regna) zusammenschließen (I,2,2; I,17,11), so hängt es andererseits auch allein an ihnen, welche konkrete Ordnung sie in dem von ihnen konstituierten Gemeinwesen etablieren. Marsilius übernimmt die Verfassungslehre des Aristoteles und unterscheidet mit ihm „gute“ und „schlechte“ Formen (I,8). Als „gut“ gelten alle Regierungen, die in Übereinstimmung mit dem Willen der Bürger und Untertanen handeln, als „schlecht“ hingegen jene, die ihn missachten und gegen ihn verstoßen (I,9). Es ist folglich gleichgültig und den Bürgern überlassen, ob sie die Alleinherrschaft eines Mannes (Monarchie) oder eine kollektive Regierung der „valentior pars“ (Aristokratie) oder gar die politische Selbstbestimmung und -verwaltung des gesamten Volkes (Politie) institutionalisieren. Entscheidend ist, dass die jeweilige Regierung nicht zur Tyrannis, Oligarchie oder Demokratie „entartet“. Das Recht zur Gesetzgebung liegt beim Volk (humanus legislator), das Recht selbst entspringt nicht länger einer transzendenten Quelle oder der „Natur“, sondern der jeweiligen Macht (potestas) des Herrschers, der seine Legitimität vom Volk herleitet. Allerdings wird das gesetzgebende „Volk“ bei Marsilius nicht durch die Gesamtheit aller Individuen konstituiert und repräsentiert, sondern durch die einander zugeordneten und aufeinander bezogenen mittelalterlichen Stände. Ungeklärt und strittig bleibt, ob der Defensor pacis eine „gemäßigte“ (Wahl-) Monarchie, eine Aristokratie oder vielmehr die Selbstverwaltung der bürgerlichen Führungsschicht in den oberitalienischen Städten als die beste und für die Friedenssicherung geeignetste Ordnung begründet hat. Dieser Streit lässt sich nicht schlichten, weil der Paduaner nicht näher bestimmt hat, wer jeweils zur valentior pars zu rechnen ist, d.h. zum immer wieder beschworenen (im vorstehenden Textauszug missverständlich mit „Mehrheit“ übersetzten) „bedeutenderen Teil“ der Bürgerschaft.

 

Als Bürger gilt – wie schon bei Aristoteles – jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, „je nach seinem sozialen Rang. Diese Beschreibung schließt von den Bürgern die Knaben, die Sklaven, die Fremden und die Frauen aus“ (I,12,4). Die Civitas und/oder das Regnum wird folglich als Männerbund verstanden, als eine „Gemeinschaft freier Männer“ (§ 6). Während in den Stadtkommunen auch aristokratische oder bürgerlich-elitäre Formen der Willensbildung und Entscheidungsfindung denkbar sind, werden die übergreifenden Reiche wohl eher „gemäßigte“, d.h. rechtlich begrenzte Wahlmonarchien sein, in denen die oberen Stände tatkräftig mitwirken und vor allem beratende Funktionen ausüben. Dass die Angehörigen der Unterschichten an den drei Gewalten partizipieren und dadurch Bürgerstatus erlangen, ist eher unwahrscheinlich, wenngleich nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die vollwertigen Bürger aber sollen nach Möglichkeit zugleich Urheber und Objekte des Gesetzes sein, da ein Mensch am liebsten solche Gesetze befolgt, von denen er glaubt, dass er sie sich selbst auferlegt hat (§ 6). Der beste Gesetzgeber ist demnach „die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit (eius valenciorem partem), die die Gesamtheit vertritt“ (§ 5).

Mit seinen eindringlichen Analysen hat Marsilius die Grundsätze der künftigen Politik formuliert. Mithilfe seiner begrifflichen und theoretischen Klärungen ließ sich nicht nur die Politik Ludwigs des Bayern gegenüber der Papstkirche in Avignon rechtfertigen, auch die westlichen Monarchien und die lombardischen Städte konnten sich in ihrem Streben nach Selbstständigkeit und Autonomie auf den Defensor pacis berufen. Dieser konnte so zum Ausgangspunkt des künftigen Staatsdenkens werden. Die späteren Reichsapologeten hingegen taten sich schwer mit dem Gedanken der Volkssouveränität, durch den die Entscheidung über die Verfassung und die konkrete Form der Regierung in die Hände der Bürgerschaft gelegt wurde und die Idee der Universalmonarchie als disponibel und letztlich als überflüssig erschien. Auf dem von Marsilius geebneten Weg konnten spätere Staatstheoretiker – von Machiavelli bis Hobbes, von Locke und Rousseau bis hin zu Hegel – weiterschreiten. Ziel der Politik ist nicht mehr die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Friedenssicherung und die Ermöglichung eines einträchtigen Zusammenlebens. Dazu ist weder eine Universalmonarchie noch eine vom Papsttum beherrschte Anstaltskirche nötig. Es genügt, wenn sich die Städte und Provinzen ordentlich verwalten und – bei Bedarf – zu größeren Reichen oder zu Staaten zusammenschließen, in denen die Gesamtheit oder ihr „bedeutenderer Teil“ die Geschicke des Gemeinwesens bestimmt.

→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2040

Niccolò Machiavelli: Republikanische Freiheit

Ausgewählt und interpretiert von Rudolf Speth

Die Auseinandersetzung zwischen römischem Volk und Senat macht die Republik frei und mächtig (1532)

Wenn man die Kämpfe zwischen Adel und Volk verdammt, so tadelt man, meiner Meinung nach, die erste Ursache der römischen Freiheit. Man beachtet dann mehr den Lärm und das Geschrei bei solchen Kämpfen als die guten Wirkungen, die daraus hervorgingen, und bedenkt nicht, daß in jeder Republik das Denken und Streben der Großen und des Volkes verschieden sind und daß aus dieser Zwietracht alle Gesetze zugunsten der Freiheit hervorgehen. Auch in Rom ging es so. Von den Tarquiniern bis zu den Gracchen, in einem Zeitraum von mehr als dreihundert Jahren, hatten die Unruhen Roms selten Verbannung zur Folge, viel seltener noch floß Blut. Man kann daher diese Kämpfe weder für schädlich halten noch glauben, daß die Republik durch Spaltungen zerrissen war, wenn sie in so langer Zeit ihrer Streitigkeiten wegen nicht mehr als acht bis zehn Bürger verbannte, sehr wenige hinrichten ließ und nicht gar viele zu Geldstrafen verurteilte. Ebensowenig kann man mit Grund eine Republik schlecht eingerichtet nennen, wenn sie so viele Beispiele von Tugend aufzuweisen hat, denn gute Beispiele entstehen durch gute Erziehung, gute Erziehung durch gute Gesetze und gute Gesetze durch jene Unruhen, die von vielen unüberlegt verdammt werden. In der Tat wird niemand, der den Ausgang derselben wohl untersucht, finden, daß eine Verbannung, eine Gewalttat zum Nachteil des allgemeinen Wohles daraus hervorging, sondern Gesetze und Einrichtungen zur Förderung der öffentlichen Freiheit.

Man könnte zwar einwenden, es seien ganz außerordentliche, ja furchtbare Wege zum Guten gewesen, wenn das zusammengerottete Volk gegen den Senat, der Senat gegen das Volk schrie, wenn alles lärmend durch die Straßen rannte, wenn die Kaufläden geschlossen wurden, wenn das ganze Volk aus Rom auszog; lauter Dinge, die freilich beim Lesen in Erstaunen setzen, allein jede Stadt muß auf ihre eigene Art die Möglichkeiten haben, dem Ehrgeiz des Volkes Luft zu machen; besonders aber Staaten, welche sich in wichtigen Angelegenheiten des Volkes bedienen wollen. Rom hatte die Art, daß das Volk, wenn es ein Gesetz durchsetzen wollte, entweder eines der angeführten Dinge tat oder sich in den Krieg zu ziehen weigerte, so daß man, um es zu besänftigen, in einigen Stücken nachgeben mußte. Was aber freie Völker verlangen, ist selten für die Freiheit verderblich, weil ihr Verlangen entweder durch Unterdrückung entsteht oder durch die Furcht, unterdrückt zu werden. Hätte ein Volk darin eine falsche Meinung gefaßt, so findet sich dagegen ein Mittel in den Volksversammlungen, wo sich dann ein wohlmeinender Mann erhebt und ihm in einer Rede seinen Irrtum zeigt. Cicero sagt, die Völker seien, wenn auch unwissend, doch für die Wahrheit empfänglich, und leicht geben sie nach, wenn ihnen von einem glaubwürdigen Mann die Wahrheit gesagt wird. Man muß daher mit dem Tadel der römischen Regierungsweise sparsamer sein und erwägen, daß die vielen guten Wirkungen, welche aus dieser Republik hervorgingen, nur aus den besten Ursachen entstehen konnten. Die Unruhen aber verdienen das größte Lob, wenn sie Ursache der Einführung der Volkstribunen waren, denn außer daß dadurch das Volk seinen Anteil an der Verwaltung erhielt, wurden die Tribunen auch zu Wächtern der römischen Freiheit eingesetzt, wie uns das nächste Kapitel zeigen soll. […]

1. Damit eine Religionsgemeinschaft oder eine Republik lange bestehen kann, ist es nötig, sie häufig zu ihren Anfängen zurückzuführen

Es ist eine ausgemachte Wahrheit, daß alle Dinge auf der Welt ihre Lebensgrenze haben. Allein diejenigen durchleben den ganzen ihnen vom Himmel im allgemeinen vorgezeichneten Lauf, die ihren Körper nicht in Unordnung bringen, sondern ihn so in Ordnung halten, daß er nicht krank wird oder, wenn er krank wird, dafür sorgen, daß ihm dies zum Heile, nicht zum Verderben gereicht. Da ich nun hier von zusammengesetzten Körpern spreche, wie es Republiken und Religionsgemeinschaften sind, so sage ich: diejenigen Krankheiten gereichen ihnen zum Heil, die sie zu ihren Anfängen zurückführen. Es sind daher diejenigen Religionen und Republiken am besten geordnet und haben das längste Leben, die vermittels ihrer Einrichtungen sich häufig erneuern können oder aber durch einen äußeren Zufall zu dieser Erneuerung geführt werden. Es ist klarer als der Tag, daß diese Körper, wenn sie sich nicht erneuern, keine Dauer haben. Das Mittel, sie zu erneuern, ist, wie gesagt, sie zu ihren Anfängen zurückzuführen; denn alle Anfänge der Religionsgemeinschaften, Republiken und Königreiche müssen notwendig etwas Gutes haben, mit Hilfe dessen sie ihr ursprüngliches Ansehen und ihr ursprüngliches Wachstum wieder aufnehmen. Dieses Gut verdirbt im Lauf der Zeit; wenn daher nichts dazwischentritt, das es wiederherstellt, so muß der Körper notwendigerweise sterben. […]

Das Zurückführen zu den Anfängen geschieht bei den Republiken durch ein äußeres Unglück oder durch innere Klugheit. Was das erstere betrifft, so sieht man, wie nötig es war, daß Rom durch die Gallier genommen wurde, wenn es wiedergeboren werden sollte, wenn es durch die Wiedergeburt neues Leben und neue Kraft erhalten, wenn die Beachtung von Religion und Gerechtigkeit, die beide entweiht zu werden begannen, wieder aufgenommen werden sollte. […]

Es ist also erforderlich, daß die Menschen, gleichviel unter welchen Formen sie miteinander leben, häufig entweder durch solche äußeren oder durch innere Ereignisse zu Selbsterkenntnis gebracht werden. Letzteres muß entweder durch ein Gesetz bewirkt werden, das die Menschen, die Glieder des politischen Körpers sind, kontrolliert, oder durch einen vorzüglichen Mann, der durch sein Beispiel und seine tugendhaften Handlungen dieselben Wirkungen hervorbringt wie das Gesetz. Es entspringt also für die Republiken dieses Gute entweder aus dem Verdienst (virtù) eines Mannes oder aus der Kraft (virtù) der inneren Ordnung. Was letzteres betrifft, so gehörten zu den Einrichtungen, die die römische Republik zu ihren Anfängen zurückführten, die Volkstribunen, die Zensur und alle übrigen Gesetze, die nach und nach gegen den Ehrgeiz und den Übermut der Bürger gemacht wurden. Diese Gesetze bedürfen, um in Geltung zu bleiben, der Bürgertugend eines Mannes, der den Mut hat, sie gegen die Macht der Übertreter zu vollstrecken.

Niccolò Machiavelli: Discorsi. In: Ders., Politische Schriften. Herausgegeben von Herfried Münkler.Aus dem Italienischen übersetzt von Johannes Ziegler und Franz Nikolaus Baur.Frankfurt/M. 1990, Discorsi, 1. Buch, S. 138-139; 3. Buch, S. 234-235

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