Sinnsuche und Krise

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Horst S. Daemmrich / Ingrid G. Daemmrich

Sinnsuche und Krise

Thematische Grundkonzeptionen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur

Narr Francke Attempto Verlag Tübingen


© 2020 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG

Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen

www.narr.de • info@narr.de

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-7720-8721-9 (Print)

ISBN 978-3-7720-0110-9 (ePub)

Inhalt

  In memoriam

  1. Einführung

 2. Blick auf die Gegenwart2.1. Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen2.2. Chronisten des politischen Zeitgeschehens2.3. Darstellungen des menschlichen Zusammenlebens im prosaischen Alltag

  3. Die existenzielle Situation: Wirklichkeitserfahrung, Entwicklung, Krise und Verunsicherung

  4. Einkreisung: Anpassung und Suche nach Orientierung

  5. Kritik der politischen und gesellschaftlichen Verfassung

  6. Selbstverwirklichung

  7. Selbsterkenntnis: Bewusstsein des historischen Augenblicks

  8. Spiraltendenz, Horizonterweiterung

  9. Sinndeutung

 Literaturverzeichnis1. Literarische Werke2. Kritik

  Register

In memoriam

Ingrid

1. Einführung

‚Bewundert viel und viel gescholten‘, diese Selbstdeutung Helenas in GoethesGoethe, Johann Wolfgang Faust II trifft sicherlich auf die deutschsprachige Gegenwartsliteratur zu. Sie steht anderen Literaturen gleichrangig zur Seite, hat Weltniveau und ist wegweisend in einzelnen Werken. Dieses Urteil prägt zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen und Darstellungen einzelner Autor(inn)en. Demgegenüber beklagt eine beachtliche Zahl von Kritikern die Entwicklung der deutschen Literatur seit den fünfziger Jahren und attestiert ihr ein Versagen vor den wesentlichen Anliegen unserer Zeit. Die Vorbehalte sind widersprüchlich. Sie beanstanden, dass Texte einzelner Schriftsteller und Schriftstellerinnen ein einseitiges politisches Engagement zeigen. Außerdem bedauern sie die ermüdende Kritik der Konsumgesellschaft und die fehlende europäische Perspektiveeuropäische Perspektive in einzelnen Erzählungen und Bühnenstücken. Einige Kritiker loben, andere tadeln das ausgeprägte politische oder philosophische Engagement spezifischer Texte. Einzelne Rezensionen in der Presse messen die Werke an Übersetzungen amerikanischer Bestseller und sprechen von Kursverlust, schwer zugänglichen experimentellen Erzählungen, der Bindung an die Apokalypse in der VergangenheitVergangenheit und einer zweiten ‚Stunde Null‘.

Die deutschsprachige Literatur im Spannungsfeld der Zeit ist mehr als ein Land, eine Nation oder die biographisch deutbare Verwurzelung einzelner Autoren und Autorinnen in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Sie schließt vieles und Widersprüchliches ein: etablierte Schriftsteller, die bereits in den Nachkriegsjahren Anerkennung fanden; Neuerscheinungen von älteren Autoren, die erhärtete Urteile und Vorurteile widerlegen; neue Auflagen von Wolfgang Borchert, Bertold BrechtBrecht, Bertold, Alfred DöblinDöblin, Alfred, Hermann HesseHesse, Hermann und Thomas MannMann, Thomas; einzelne Veröffentlichungen von Autoren und Autorinnen wie etwa Birgit VanderbekeVanderbeke, Birgit, Manfred Bieler, Horst BienekBienek, Horst, Ulla HahnHahn, Ulla und Stefan HermlinHermlin, Stephan, deren Stil zuweilen an das frühe 20. Jahrhundert erinnert; Texte, die auf Bestsellerlisten im In- und Ausland aufgeführt werden; avantgardistische und traditionsverpflichtete Werke; und schließlich die jüngste Generation, die sich durchaus selbstbewusst von der vorausgegangenen abhebt.

Allgemein besteht die Tendenz, von Autor(inn)en ein wie auch immer geartetes gesellschaftliches, politisches oder historisches Engagement zu erwarten. Selbst in durchaus positiven Bewertungen der Gegenwartsliteratur klingt der Wunsch an, die Literatur solle deuten und dem Leben eine neue Sinnstiftung vermitteln. So entsteht der Eindruck, die Literatur werde an ihrer „Stellungnahme“ gemessen. Beispielsweise kritisiert Fritz J. Raddatz die Konzentration der „westdeutschen“ Literatur auf subjektive Nuancen in der Figurengestaltung, die Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung und die Nichtbeachtung des politischen Horizonts. Im Gegensatz zu diesen Tendenzen findet er in den Schriften übergesiedelter DDRDDR-Autoren und Autorinnen die bewusste Auseinandersetzung mit den wesentlichen Fragen der Zeit. „Es gibt eine dritte deutsche Literatur. Nach Jahren, in denen von einer ‚zweiten deutschen Literatur‘ – also der DDR-Literatur – gesprochen und in denen die Abgrenzungen der beiden Literaturen wie ihre gegenseitige Durchdringung, auch Befruchtung diagnostiziert wurde, kann über den aktuellen Stand der literarischen Szene gesagt werden: Die zeitgenössische westdeutsche Literatur sieht den Menschen als genetischen Code, die Welt als ein System ohne Zukunft, die Kunst als Rätsel. Beide deutsche Literaturen bestimmen wesentlich Verkrochenheit, Ich-Bezogenheit und Aufarbeiten von Mythen und Träumen. Zwischen ihnen hat sich als besondere Kraft ‚eine dritte deutsche Literatur‘ etabliert – es ist die jener Autoren, die aus der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelt sind … es sind Schriftsteller, die ihre historische Erfahrung, ihre politische Bildung und ihre moralische Interventionslust nicht als Gepäck an der Mauer abgegeben haben“.1

Die durchaus selbstbewusste Rolle der Literatur tritt in Reflexionen, Hinweisen und Aussagen über Texte in den Vordergrund. Sie ist maßgebend in der politisch-sozial bestimmten Gruppenidentität von Autoren im Westen und Osten. Sie ist richtungsweisend im Anspruch, entweder direkt politisch engagiert zu sein oder indirekt die empfundenen Fehlentwicklungen steuern zu können. Selbstsicher sind die zunehmenden Autorenlesungen, die literarische Kanonisierung der Gruppe 47Gruppe 47, die an die tradierte Literaturgeschichtsvorstellung anschloss und darüber hinaus die gegenwärtigen Literaturtheorien berücksichtigte und einbezog. Hinweise und Beobachtungen in Veröffentlichungen nach den sechziger Jahren veranschaulichen die fortgesetzte Auseinandersetzung mit den literaturtheoretischen Erörterungen. Im Osten liegt die Betonung der Diskussionen auf der gesellschaftlichen Verantwortung der Autoren und der adäquaten Wirklichkeitsgestaltung, im Westen auf der gesellschaftskritischen Aufgabe der Literatur und der durch die zunehmend empfundene Verunsicherung in der Wahrnehmung der WirklichkeitWirklichkeit ausgelösten Suche nach immer neuen Darstellungsformen.2 Kurzgeschichten und Erzählungen übernehmen Elemente aus den Medien und dem Internet in die Substanzschichten der Texte. Die Vorherrschaft der Literatur wird von der Gesellschaft sanktioniert: Die Zahl der Literaturpreise geht schwunghaft in die Höhe; Übersetzungen ausländischer Bestseller erzielen beachtliche Auflagen; Zeitschriften veröffentlichen kritische Diskussionen von Autoren und Autorinnen und Lesungen werden selbst Gegenstand einiger Erzählungen.

Die GegenwartGegenwart schließt ein die Nachkriegsjahre, ein geteiltes und wiedervereintes Deutschland, politische Proteste, gesellschaftliches Engagement, das Ende des ‚Kalten Krieges‘, die Auseinandersetzung mit literaturtheoretischen Überlegungen und immer im Schnittpunkt die Frage der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung in der Gegenwart. Günter KunertKunert, Günter referiert 1990: „Noch ist unbemerkt geblieben, dass ein wesentliches Ereignis, an dem doch alle teilnahmen, allen Schriftstellern, hier wie da, die Plattform entzogen hat, auf der sie noch zu stehen glaubten. Gemeint ist das Ende des ‚Kalten Krieges‘, das Ende der Teilung Europas, das Ende der Spaltung Deutschlands. Kurz gesagt: Der Bedarf nach politischer Aktivität von Schriftstellern ist unvermittelt erloschen … Nun ist die Literatur nichts anderes mehr als Literatur – kein Zeugnis für oder gegen etwas, kein Mittel für irgendwelche undurchsichtigen Zwecke.“3

Zustimmung und Beanstandungen betreffen allgemein die ErzählverfahrenErzählverfahren und Themenstellungen der Gegenwartsliteratur. Sie illustrieren einen kontinuierlichen Dialog mit der Literatur. Die Literatur stellt Fragen, sie kann nicht immer Probleme lösen. Die Themenforschung beleuchtet Gemeinsamkeiten im Rahmen kompositorischer Differenzen. Die vorliegende Untersuchung ist der zweite Band der Bestandsaufnahme: „Sechs Jahrzehnte Grundkonzeptionen und wegweisende thematische Entwürfe in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur unserer Zeit“. Der erste Band behandelte das zentrale Thema der VergangenheitVergangenheit und die mit ihm eng verknüpften Motive.4 Der zweite Band verdeutlicht, dass die Literatur heute, selbst im Zustand der Krise, an die literarische Tradition anschließt. Die Literatur unserer Tage schildert, was die Literatur zu allen Zeiten beschäftigte: menschliche Erfahrungen, Alltags- und Ausnahmesituationen, Liebe und gestundete Zeit, Jugend und Altern. Im Mittelpunkt der Darstellungen stehen des Öfteren Auseinandersetzungen mit drei Themen: SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung, Liebesfähigkeit und Erkenntnis. Diese Themen veranschaulichen dem Lesepublikum einen begehbaren Weg zur Bejahung des Lebens.

 

Die vorliegende Darstellung verfolgt besonders wiederkehrende Kontraste und thematische Grundkonstellationen: Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung / Kontaktlosigkeit, AnpassungAnpassung / Auflehnung, Liebe / Liebesverlust, politisches Engagement / Flucht ins Abseits, Jugend und Zukunftsvertrauen / Altern und Leiden, aber auch Bejahung eines erfüllten Lebens, Dialog mit der VergangenheitVergangenheit, Selbstbejahung und Welterkenntnis.

Im Vordergrund unserer Betrachtung stehen Werke, in denen sich kein Missverhältnis nachweisen lässt zwischen dem, was sich die Autoren und Autorinnen vorgenommen und dem, was sie erreicht haben. Die Qualitäten ihrer Prosa, ein Deutsch von größter Präzision und höchster Suggestibilität, lassen die Fülle vorüberfliegender Eindrücke der Massenmedien verstummen. Aus der Sicht der Themengeschichte stehen die Erzählungen unter dem Dreigestirn VergangenheitVergangenheit, GegenwartGegenwart und Zukunft. Urs WidmerWidmer, Urs stellt fest: „Ohne Geschichte entsteht keine Literatur“.5 Dem ist hinzuzufügen, ohne genaues Sehen, formgebendes Gestalten, in dem die Erinnerung zu Wort kommt, entstehen keine Erzählungen. In GoethesGoethe, Johann Wolfgang unverwechselbarer Diktion der Römischen Elegien hört man den Wunsch, die Vergangenheit zum Sprechen zu bringen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu deuten.

Deutlich ersichtlich ist, dass die jungen deutschsprachigen Autoren und Autorinnen den Verlust sinnstiftender Ideale und den Zusammenbruch festgefügter Weltbilder erfahren haben. Ihr Verfahren, das Unbestimmte, Unübersichtliche und ständig Wechselnde im heutigen Geistesleben, in der Wissenschaft und Politik zu erfassen, bedingt thematisch die Orientierungssuche, die Ortung und Bestandsaufnahme. Es zeigt sich im Stil, in der Struktur und in der Tendenz, labyrinthische Erzählschichten mit Zitaten, mit Selbstreflexion, theoretischen Überlegungen zur gesellschaftlichen Verantwortung und adäquaten Wirklichkeitsgestaltung sowie Analysen des künstlerischen Schaffensvorgangs anzureichern. Unmissverständlich in der Vielfalt der Texte bleibt das zentrale Anliegen der Sinnsuche im Rahmen der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung, deren vielfältigen Ausprägungen im Zentrum der folgenden Darstellung stehen.6

2. Blick auf die GegenwartGegenwart
2.1. Nachdenken, Leitgedanken, Anregungen

Die Gegenwartsliteratur verhandelt dieselben Themen wie die Literatur aller Zeiten und Räume: Liebe und Verlust, Leben und Tod, Jugend und Alter, das Alltägliche und das Außerordentliche. Sie schließt kritische Auseinandersetzungen mit politischen Ereignissen, der gesellschaftlichen Verfassung und den vorherrschenden Lebensbedingungen ein. Die Gegenwartsliteratur ist mit gattungstheoretischen Kategorien nur bedingt entschlüsselbar. Die Lyrik, die Bühnenstücke, Dokumentarberichte und Erzählungen werfen Fragen auf, die dem Wunsch entspringen, das Verhältnis Einzelner zu anderen, zur Gesellschaft, zur Umwelt und zum Zeitgeschehen zu klären. Sprechende, beobachtende und handelnde Figuren bemühen sich, dem Geschehen Sinn abzugewinnen und ihr Ich zu erkennen. Die fiktionale Stilisierung der Beziehungen der Figuren zur Welt lässt keine einfachen Rückschlüsse auf die WirklichkeitWirklichkeit zu. Trotzdem spielt die thematisierte Wirklichkeit eine wesentliche Rolle in der Dokumentarliteratur, im klinischen RealismusRealismus und in Darstellungen, in denen sich Realität und Phantomwelten in der Erfahrung der Figuren vermischen. Der Substanzverlust der Wirklichkeit wird angesprochen in Erzählungen, in denen Figuren nicht mehr zwischen Realität und Bildern auf Monitoren oder Realität und erlebten Computerspielen unterscheiden können. Die Raumperspektive gibt Aufschluss über die existenzielle Situationexistenzielle Situation. Die Figuren befinden sich in Räumen, in denen andere Personen Funktionen erfüllen und in denen Lebensprozesse als Funktionen ablaufen. Die Figuren suchen Halt und versuchen, ihre besondere, individuelle Eigenart festzulegen. Sie suchen jedoch nicht nur Orientierung, sondern wollen auch aus dem Prozess ausscheren. Die Darstellungen schildern übereinstimmende und diverse Einstellungen, die von unterschiedlichen Formen der AnpassungAnpassung bis zur freudigen Bejahung des Lebens und SelbsterkenntnisSelbsterkenntnis reichen.

Bereits in den Nachkriegsjahren klingt in der Literatur das Entsetzen darüber an, dass eine vorbildliche Kulturgeschichte in Kriegsgeschichte und Verbrechen gegen die Menschheit einmündete. Die Erkenntnis dieser Situation ist wahrscheinlich eine der Voraussetzungen für das „Schweigen“ einer Generation über ihre Erlebnisse. Das in zahlreichen Erzählungen diskutierte Verstummen bedingt beispielsweise die Ermüdung des fiktiven Autors („der Alte“) in der Novelle Im Krebsgang (2002) von Günter GrassGrass, Günter. „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue vordringlich gewesen sei, schweigen … dürfen.“1 Die Erzählung erkundet widersprüchliche und oft unvereinbare Auffassungen der VergangenheitVergangenheit und der Politik der GegenwartGegenwart, aber enthält unverkennbar die Aufforderung zur aktiven Teilnahme an der sittlichen Grundlegung der Gesellschaft. Auch Christa WolfWolf, Christa, die selbst Jahre nach dem Mauerfall die positiven Aspekte der kommunistischen Utopie betonte, stellt im Überblick ihrer Kindheit in Kindheitsmuster (1976) wiederholt den allgemeinen Orientierungsverlust der Bevölkerung fest. Die Menschen wurden gleichgültig, konnten niemals die „richtigen Fragen“ stellen und entwickelten das Gefühl, einem unerkennbaren Prozess ausgeliefert zu sein. Wolf ist überzeugt, dass die Situation mit dem Verlust fester Normen einsetzte. Die Suche nach sinnvollen Normen verbunden mit der scharfen Kritik des passiven Einordnens in die gegebenen gesellschaftlichen Zustände charakterisiert ausnahmslos die Schriften von Hans Joachim SchädlichSchädlich, Hans Joachim. Er beanstandet das utopische Denken, das mit Hilfe wissenschaftlich-technischer Entwicklungen eine friedliche, materiell und sozial leistungsorientierte Gesellschaft anstrebte. Schädlich, ähnlich wie Wolfgang HilbigHilbig, Wolfgang, Monika MaronMaron, Monika und Christoph HeinHein, Christoph, verurteilt die Auswirkungen der bestehenden Machtverhältnisse auf Menschen, die zu Identitätskrisen führen. Personen, die sich nicht dem gesellschaftlichen „Interesse“ fügen, erfahren nicht nur die Bedrohung durch das Staatswesen, sondern erleben die einmalige, eigenartige Situation, dass die Grenzen zwischen eigenen Vorstellungen und dem Wollen der Gesellschaft durchlässig werden. Diese Erfahrung, die von Wolfgang Hilbig in Ich (1993), Monika Maron in Pawels Briefe (1999) und Günter de Bruynde Bruyn, Günter in Zwischenbilanz (1992) erörtert wird, kann Vorstellungen hervorrufen, in denen Realität, Wahn und Traum verschwimmen. Die Figuren sind verunsichert, erfahren Identitätsverlust, werden mit den sie überwachenden Agenten austauschbar, fühlen sich schuldig, selbst wenn sie schuldlos sind, und erwägen letztlich die Möglichkeit, sie hätten Handlungen begangen, an die sie sich nicht erinnern können. Der Orientierungsverlust erzeugt schwere Krisen in der Sinngebung und Deutung des Lebens, die in Darstellungen der Ich-SucheIch-Suche, Ich-Erkundung markant hervortreten.

Zwei 1995 veröffentlichte Erzählungen SchädlichsSchädlich, Hans Joachim geißeln den totalen Verlust jeder Sinngebung im Leben. Mal hören, was noch kommt schildert die letzten Stunden eines Sterbenden, dessen ganzes Denken einschließlich kurzer Rückblicke um sein Ich kreist. Die konsequente Engführung der Erzählperspektive auf die physische Existenz (Triebleben, Fäkalien, langsames Verfaulen auf der Matratze) vermittelt den Eindruck des völligen Verlusts der Orientierung. Der Bericht, in der Tonlage kühl und verhalten, konstatiert menschliche Defizite, den Untergang von Utopien und das Ende von jeder Sinnstiftung im Dasein. Das Schließen des Sarges entlarvt auch die im letzten Satz anklingende scheinbare Neugierde („Mal hören, was noch kommt“) als Illusion. Es kommt nichts.2

Andere Figuren finden vermeintlichen Sinn und Halt in der unbedingten Hingabe an den Staat oder eine Ideologie. SchädlichSchädlich, Hans Joachim trifft den Kern des Daseins aller Agenten in der von Günter GrassGrass, Günter gelobten Erzählung Tallhover (1986) und im Trivialroman (1998). Der Erfahrungshorizont der Figuren wird beherrscht von dem Verlauf bedrückender, an KafkasKafka, Franz Prozeß erinnernder Ereignisse: Agenten, Chefs, das Archiv, anonyme Briefe, Telefonate, AggressionAggression, Schuldgefühle, wütendes Aufbegehren und LebensangstLebensangst. Wenn Madai ahnungslos ist, „muß Tallhover es in Herrn von Madais Kopf denken, damit der es weiß“.3 Die Beobachtung von Personen „hat das Folgende ergeben, sagt Tallhover.“ „Ich bin Arzt, sagt Tallhover im Tonfall von Professor Borchardt. Arzt sagt Tallhover.“ (178) Tallhover „träumt“, will die „Wahrheit“ über sich sagen und denkt über seinen Hass und seine Sympathien: „Sand, der den gleichen Vornamen wie ich trug, stach Herrn von Kotzebue in der Stunde meiner Geburt ins Herz, in den Mund und in den Leib, weil er meine Liebe zum reinen, unbedingten Staat, die Liebe seines Gegenbildes, treffen wollte; weil er meine Stimme, die ich für dieses Ziel gebrauchen sollte, ersticken wollte; weil er mich ehe ich geboren war, im Leib meines Vaters zu töten trachtete.“ (270) Patriarchalisch verbohrt und besessen vom Staatinteresse schließt sich Tallhover am Ende in seinen Keller ein, konfrontiert ein imaginäres Oberstes Gericht und wartet auf sein Ende: „Kommt! Helft mir! Tötet mich!“ (283)

So fügen sich die Figuren bis zum Schluss in ihr Schicksal, das zu bestimmen sie anderen überlassen. Das Gefühl der Hilflosigkeit und des Ausgeliefertseins in einer ausweglosen Situation bringt die Erzählung Schwer leserlicher Brief auf den Punkt, in der ein Arbeiter das Gesuch stellt, aus dem Staat entlassen zu werden, weil ihm die Genehmigung verweigert wurde, seinen schwer erkrankten Vater im „westlichen Teil der Stadt“ zu besuchen: „Ich kenn mich nicht aus den Akten.“4 Gleichermaßen aufschlussreich ist der Schluss des Trivialromans, als sich der Verbrecher Feder überlegt, seine Aufzeichnungen über die Taten seiner Bande zu veröffentlichen. „Heute, genau 3 Tage nach dem Telefonat mit Biber, lag ein anonymer Brief unter meiner Tür: Feder, mach Dein Maul nicht auf, sonst schieben wir Dir Deinen Schuh rein! Du lebst nicht allein auf der Welt! Sag Dir immer: ‚Ich will nichts! Das ist es, was ich will!‘“5 Feder gibt nach und besorgt sich eine Schachtel Zigaretten.

Demgegenüber entwirft Ernst JüngerJünger, Ernst trotz scharfer Kritik eine positive Vorstellung der GegenwartGegenwart mit Ausblick auf die kommende Zeit in seiner Betrachtung der grundlegenden Erneuerungen der Technik, den sozialen Veränderungen und dem Wandel in den Künsten am Ende des 20. Jahrhunderts. Er hält sachlich in der Schere (1990) die Höchstleistungen auf den Gebieten der technischen Kommunikation, Medizin und Pharmaindustrie fest, findet jedoch, dass die moralischen Konsequenzen nicht eingehend genug untersucht werden.6 Die Technik schafft jetzt, was im Vorausgriff die Mythologie, die MärchenMärchen und literarische Zukunftsphantasien festhielten. Ohne Rücksicht auf Maß oder Sicherheit nehmen Experimente ständig zu. Der allgemeine Zugang zu technischen Erneuerungen macht die Technik heute zur Weltsprache, die deutliche Spuren in den Künsten hinterlässt. Die eindringliche, unmittelbare Übermittlung von Bildern im Fernsehen und auf Monitoren erleichtert ein neues Verhältnis zur Sprache. „Das Auffluten von Bildern begünstigt ein neues Analphabetentum. Die Schrift wird durch Zeichen ersetzt, ein Verfall der Rechtschreibung ist zu beobachten. Vulgarisierung der Grammatik ist die Konsequenz.“ (117-118) Jünger betont, dass die Symptome der Zeit deutliche Spuren in der Sprache hinterlassen, übersieht jedoch die zahlreichen literarischen Werke, in denen wie etwa in Jochen BeysesBeyse, Jochen Ultraviolett (1990) und Larries Welt (1992) die Computer- und Fernsehwelt thematisch im Mittelpunkt der Darstellung steht. In diesen Erzählungen wird das in Computerspielen nachempfundene Leben zur Chiffre für den Identitätsverlust. Jünger hebt mehrmals die „Vereinzelung“ der Menschen hervor, hat jedoch festes Vertrauen, dass das Universum im Prinzip „harmonisch“ ist und sich unendlich in der Zeit in einer SpiraltendenzSpiraltendenz entfaltet. „Die erste Bewegung, etwa pulsierend vom Punkte zum Kreis und vom Kreis zum Punkte, oder windend vom Punkt zur Linie und Sprache, erzeugt nicht das Universum, sondern schließt es ein. Noch ist die Zeit ein Meer ohne Ufer, geräumig für alles, was je erscheinen und auch für das, was verborgen bleiben wird.“ (184)

 

Einzelne Schriftsteller sind politisch engagiert, manche sind überzeugt, dass sie den Staat nicht lenken können und andere gehen auf zurückliegende Kontroversen über die Aufgaben der engagierten oder unpolitischen Literatur und literarische Positionsbestimmungen ein. Autor(inn)en sind jedoch nahezu ausnahmslos von der gesellschaftlichen Verantwortung der Schriftsteller überzeugt. Die Literatur soll unterhalten, aber auch das Leben deuten, scheinbar undurchschaubare historische Prozesse dechiffrieren und nicht kommentarlos widerspiegeln. Die Kritik des Wirtschaftswunders wird ersetzt durch die Selbstbesinnung auf das Leben im Informationszeitalter, die Kritik des politischen Systemzwangs tritt in den Hintergrund und Deutungen der Anpassungssymptome nehmen zu. In Texten, in denen die Einvernahme in die heutige von den Medien maßgebend bestimmte Gesellschaft abgelehnt wird, folgt der Rückzug auf das Ich und die damit verknüpfte Ich-ErkundungIch-Suche, Ich-Erkundung. Wenn sich das Ich als gefährdet erweist, entstehen einerseits Versuche, das Dasein ersatzweise mythologisch zu befestigen, andererseits konzentrieren sich die Texte auf alle mit der SelbstverwirklichungSelbstverwirklichung verknüpften Themen.

Die Konzentration auf das Leben heute, die alltäglichen Freuden und Sorgen, die jüngste VergangenheitVergangenheit in den deutschsprachigen Ländern und das Schicksal des unbehausten Menschen im Bild einzelner Emigranten, Immigranten oder Vertriebener verbindet die Literatur. Bei allen Unterschieden – Radek KnappKnapp, Radek erzählt Geschichten wie Isaac Bashevis Singer, Peter HandkeHandke, Peter orientiert sich an GoethesGoethe, Johann Wolfgang Naturbeobachtungen und Jochen BeyseBeyse, Jochen übertrifft William GibsonGibson, William – zeichnen sich bemerkenswerte Parallelerscheinungen in Themen ab. Die thematische Orientierung und die Motivkreise schaffen Gemeinsamkeiten, die trotz großer stilistischer Unterschiede die Gegenwartsliteratur prägen.