Wirtschaft, die arm macht

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Doch die Hoffnung, das Wirtschaftssystem werde sich deshalb von alleine in Richtung auf eine Begünstigung der unteren und mittleren Schichten einregulieren, dürfte trügen. Denn die einzelnen im System handelnden Akteure sind als Marktteilnehmer an die strengen Kriterien des Wirtschaftssystems gebunden, zu denen Effizienz und Kostenminimierung zählen – ebenso wie das Prinzip, Steuern zu vermeiden und Verluste der Allgemeinheit aufzuerlegen. Wer würde denn im »Ernstfall« als Manager freiwillig Millionen Euro an das Finanzamt abführen, statt seinen Firmensitz »legal« in eine Steueroase zu verlegen und die gesparten Millionen in seine im harten Existenzkampf steckende Firma zu investieren? Ist der von den Anteilseignern bestellte Manager nicht geradezu verpflichtet, so zu handeln – auch gegenüber den Arbeitnehmern seines Unternehmens? Denn die Konkurrenz tut das ja auch!

Aber so zwingend das System im für Kapital und Waren offenen Weltmarkt auch ist: Wenn schließlich alle so handeln, verhungert zuerst der Staat – und mit ihm die öffentliche Ordnung. Doch ohne öffentliche Ordnung auch keine Wirtschaft, jedenfalls keine liberale.

Die große Umverteilung

Die jetzt seit mehr als zwei Jahrzehnten sich immer weiter öffnende Schere zwischen den Arbeitseinkommen und den Einkommen aus Unternehmen und Vermögen musste zwangsläufig zu einer sehr unterschiedlichen Verteilung der Vermögen führen. Zum einen bringt Vermögen Zinsen, und Zinsen bringen Zinseszinsen. Arbeitserlöse dagegen wachsen nicht im Zinseszins-Rhythmus. Im Gegenteil, sie kamen unter den kombinierten Druck der (natürlichen) Ersetzung von Arbeit durch Kapital und der durch den offenen Welthandel importierten niedrigen Welt-Löhne.73 Und sie verloren noch einmal durch die politischen Entscheidungen, die ihnen allein die Lasten des Sozialsystems und den Löwenanteil der Steuern zuschoben.

Die Friedrich-Ebert-Stiftung veröffentlichte 1998 eine Studie von Claus Schäfer, die folgende Feststellungen traf und belegte:74

 Die Steuerprogression ist bei höheren Einkommen nur noch schwach ausgeprägt

 Arbeitnehmerhaushalte wurden zunehmend stärker belastet als Selbstständigenhaushalte

 Belastung durch Sozialabgaben trifft Niedrigeinkommen besonders stark

 Legale Steuervermeidung begünstigt hohe Einkommen

 Einkünfte zwischen 250 000 und 300 000 DM zahlen z.B. effektiv 13% Steuer

 Zunehmende Steuerhinterziehung

 Steuerlast auf Einkommen im internationalen Vergleich gering

 Beitrag der Lohnsteuer zum Gesamtsteueraufkommen 1960 zwölf Prozent, heute 33%

 Unternehmen tragen heute nur noch 17% zum gesamten Steueraufkommen bei

 Gewinne von Kapitalgesellschaften 1980 mit 34%, 1993 mit 18% belastet

 Duales Steuersystem: wirksame Progression bei Lohnsteuer, Steuervermeidungsmöglichkeiten bei Gewinneinkommen

 Bislang kein volkswirtschaftlicher Nutzen der Steuerentlastungspolitik.

Das Ergebnis kann nicht überraschen: »Die wohlhabendere Bevölkerungshälfte in Westdeutschland [besitzt] etwa sieben Zehntel des Gebrauchsvermögens … Das wohlhabendste Bevölkerungsfünftel nannte sogar mehr als 60 Prozent des Geldvermögens sein Eigen.« Sechs Prozent der Bevölkerung besaßen in den 90er Jahren den größten Teil der Betriebsvermögen.75

Beharren auf dem bisherigen Verteilungspfad würde die in den auseinanderstrebenden (roten und grünen bzw. grauen und Sternchen-) Kurven der Grafik C sichtbar werdende Spaltung unserer Gesellschaft verstärken und in die Zukunft verlängern. Flexibilisierung der Lohnabhängigen-Einkommen der unteren Schichten nach unten, weitere Steuersenkungen für Unternehmen und obere Einkommen, »um durch Wachstum der Wirtschaft Arbeitsplätze zu sichern«, würden diesen zerstörerischen Trend noch verstärken und so Wirtschaft und Gesellschaft bedrohen. Denn eine Gesellschaft zerbricht, wenn die Ungleichheit ihrer Mitglieder zu groß wird. Bei welchem Grad von Ungleichheit dieses Maß erreicht wird, darüber kann man streiten. Viele wirtschaftliche, soziologische und psychologische Faktoren spielen hier eine Rolle. Wachsende Ungleichheit in Gesellschaften, in denen auch die unteren Schichten am wachsenden Wohlstand ein Stück weit mit beteiligt werden, ist weitaus weniger explosiv als wachsende Ungleichheit, bei der die oberen Einkommen mehr und mehr gewinnen, während die mittleren und unteren Schichten immer tiefer absinken. Genau dieser gefährliche Typ entsteht aber zur Zeit im »Sozialstaat Bundesrepublik«.

Je später dieser Streit ausgefochten wird, desto schlechter stehen die Chancen für die Anbieter von Arbeit, einen angemessenen Anteil am erarbeiteten Sozialprodukt gewinnen zu können. Denn je weniger die Arbeit nachgefragt wird, um so geringer ist ihre Marktmacht.

»Angesichts dieser Verhältnisse ist es doch seltsam, daß nie daran gedacht wird, das Fehlen der Erwerbsarbeit zur Grundlage von Zukunftsüberlegungen zu machen, anstatt so viel unfruchtbares und gefährliches Leid hervorzurufen, indem man ihr Fehlen leugnet und als einfaches Zwischenspiel darstellt, das man ignoriert oder auszugleichen, vielleicht sogar zu unterdrücken vorgibt.«76

schrieb Viviane Forrester 1997. Geändert hat sich an dieser Verdrängung eines Kernproblems aber bis heute fast nichts.

Bevölkerungsabnahme – Bedrohung oder Chance?
Abnahme der Bevölkerung ist keine Katastrophe

Meinhard Miegel ist den möglichen Folgen eines Bevölkerungsrückgangs in m.E. sehr überzeugender Weise nachgegangen. Er stellt fest:

»In vierzig Jahren lebten [ohne Zuwanderung] in Deutschland noch etwa ebenso viele Menschen wie kurz vor dem Ersten Weltkrieg, und 2080 wäre Deutschlands Bevölkerung mit vierzig Millionen – auf einem wesentlich kleineren Territorium – so zahlreich wie zur Reichsgründung 1871. Auch wäre es immer noch so dicht besiedelt wie derzeit Frankreich oder Polen.«77

Ich meine, ein solcher Rückgang der Bevölkerungsdichte könnte sogar die Lebensqualität erheblich verbessern. Vorausgesetzt, Staat und Wirtschaft stellen sich rechtzeitig auf diese Entwicklung ein.

Probleme könnte aber der sich verändernde Altersaufbau der Gesellschaft bereiten. In 40 Jahren werden in der BRD (ohne Zuwanderung) voraussichtlich knapp 64 Millionen Menschen leben. Davon werden rund 45% (29 Millionen) im erwerbsfähigen Alter zwischen 20 und 59 Jahren sein. Das sind 16 Millionen Erwerbsfähige weniger als heute.78

Da die sozialen Sicherungssysteme auf den Abgaben für abhängige Beschäftigung beruhen, entsteht so ein Deckungsloch. Das ist für die Sozialsysteme in der heutigen Form, in der alle Lasten den abhängig Beschäftigten zugeschoben werden, eine Katastrophe. Und so wird die Bevölkerungsabnahme auch diskutiert.

Eine bemerkenswerte Allianz aus Industrie und »antirassistischen Linken« sieht eine Lösung dieses Bevölkerungsproblems in der Zuwanderung. Die einen suchen besonders qualifizierte und besonders billige Arbeitskräfte, die anderen sehen in möglichst großer Freizügigkeit einen besonders hohen Wert. Doch wie Miegel zeigt, ist Zuwanderung keine Lösung:

»Die Zuwanderung darf nicht zu einer zusätzlichen Belastung der ohnehin schwächer werdenden einheimischen Bevölkerung führen, das heißt, sie muss den Ansässigen nützlich sein und darf ihre Integrationsfähigkeit nicht überfordern. Zugleich darf sie aber auch nicht die Entwicklungschancen der abgebenden Länder beeinträchtigen. Das würde binnen kurzer Zeit auf die Aufnahmeländer zurückschlagen.«79

Die Immigration wenig ausgebildeter Menschen würde die jetzt schon angespannten Sozialsysteme hoffnungslos überladen und die Integrationsfähigkeit der Gesellschaft auf die Dauer überfordern. Deshalb besteht weitgehend darüber Einigkeit, dass eine Immigration in die Sozialsysteme nicht mehr zugelassen werden darf. Die Immigration hoch ausgebildeter Fachkräfte aber, die gerade in den noch nicht so entwickelten Ländern innerhalb und außerhalb Europas knapp sind, zerstört die Entwicklungschancen dieser Länder.

Denn zu Recht stellt Meinhard Miegel fest:

»Mit Beginn der kolonialen Epoche nahmen die Starken den Schwachen Land. Dann beuteten sie ihre Bodenschätze und Energiequellen aus. Und jetzt beginnen sie, auf die qualifizierten Menschen zuzugreifen … von der Agrar- über die Industrie- zur Wissensgesellschaft; vom Boden über den Rohstoff zum Menschen. … [das] ist und bleibt Ausdruck kolonialen Denkens und Handelns, heute vielleicht sogar in dessen perfidester Form.«80

Norbert Blüm, ehemals Arbeitsminister der BRD, sieht das ganz ähnlich:

»Früher beuteten die Kolonialherren die Rohstoffe ihrer Kolonien aus, heute die Qualifizierung der ärmeren Länder. Früher wurden nur die Sklaven gekauft, wenn der Zustand ihres Gebisses zufriedenstellend war. Heute reicht ein Diplom. Das nenne ich ›zivilisatorischen Fortschritt‹.«81

Das ist übertrieben? Keineswegs. Ein Beispiel:

»Lukrativere Jobs locken jährlich rund 23 000 afrikanische Wissenschaftler nach Übersee …

Nach Berechnungen der regionalen UN-Wirtschaftskommission (ECA) hat Afrika in weniger als zwei Jahrzehnten ein Drittel seiner Geistesarbeiter verloren … Betroffen sind vor allem Ägypten, Südafrika, Nigeria, Kenia und Ghana …

In Senegal wie in ganz Afrika wird der Mangel an Hochschullehrern immer problematischer.«82

Die natürliche Abnahme der Erwerbsbevölkerung
und die derzeitige Finanzierungsweise des Sozialsystems

In den nächsten 40 Jahren wird die Zahl der Jungen unter 20, deren Ausbildung und Unterhalt bezahlt werden muss, von heute rund 17 Millionen auf 9,6 Millionen sinken. Andererseits steigt die Zahl der über 59-Jährigen von heute 19,5 auf 25,6 Millionen. Die Zahl der von der Gesellschaft zu Unterhaltenden liegt in beiden Fällen um insgesamt 35 Millionen, ändert sich also praktisch kaum.83 Und auch die Zahl der heute tatsächlich Beschäftigten ist mit 32,6 Millionen Menschen so viel höher nicht wie die in 40 Jahren erwarteten 29 Millionen Arbeitsfähigen zwischen 20 und 59 Jahren. Doch sind die für einen alten Menschen aufzubringenden Kosten deutlich höher als die für ein Kind oder einen Jugendlichen. Gleichzeitig wird die Nachfrage nach Arbeitskräften durch Rationalisierung weiter abnehmen.84 Durch diesen Rückgang von abhängiger Arbeit werden von den 29 Millionen Arbeitsfähigen sicher einige Millionen keine Arbeit finden, so dass die Zahl der Beschäftigten, die das Sozialsystem heutigen Stils tragen müssten, um drei, vier oder auch fünf Millionen zurückgehen würde. Zudem dürfte, wenn sich nichts ändert, der Weltmarktdruck auf die Löhne die verbleibenden Arbeitnehmer wirtschaftlich noch einmal erheblich schwächen. Die Kosten des Sozialstaats weiterhin allein auf die verbleibenden abhängig Beschäftigten und deren weiter sinkende Einkommen abzuwälzen, würde definitiv unmöglich. Wie sich die Situation bei einer anderen Finanzierungsform des Sozialstaats entwickeln würde, bleibt jedoch zu untersuchen.

 

Das Ergebnis ist durchaus offen. Rechnet man für 2040 die bis zu 64 Jahre Alten auch noch zu den Erwerbspersonen, wird die Zahl von 29 Millionen Arbeitsfähigen deutlich überschritten. Es ist nicht einmal unmöglich, dass sich das Verhältnis von angebotener Arbeit zur Zahl der Arbeitssuchenden in diesem Zeitpunkt in ein Gleichgewicht einpendelt. Das würde das Ende der Arbeitslosigkeit mit ihren menschlichen Kosten und der Überlastung der Sozialsysteme bedeuten. Vorausgesetzt, man läuft nicht der Illusion nach, man könne das bestehende Sozialsystem durch »Zuwanderung junger Arbeitsfähiger« retten. Denn damit rettet man bei einer weiter zurückgehenden Nachfrage nach Arbeit nur die Arbeitslosigkeit – und mit ihr deren Kosten.

Nur: Der Bevölkerungsrückgang hat wahrscheinlich einen Rückgang der Nachfrage zur Folge. Das gilt mit Sicherheit für Nahrung, Kleidung, Verkehr, Schulen und möglicherweise auch für Wohnung, Erholung, Reisen, Sicherheit und viele andere Bereiche. Ob und wie sich eine kapitalorientierte Wirtschaft in einer abnehmenden Bevölkerung mit abnehmenden Wirtschaftswachstumsraten halten kann, ist offen. Aber es wird Zeit, darüber nachzudenken.85

3 Politische Auswege und ihre Tücken
Aufwertung des Faktors Arbeit – oder niedrigere Löhne?
Keine Nachfrage – keine Konjunktur

Man kann sich drehen, wie man will, Produktion, die nicht abgenommen, gekauft wird, kommt früher oder später zum Stillstand: »Die Konjunktur bricht ein.« Liegt die »Kaufzurückhaltung« an psychologischen Gründen, Kriegsgefahr, Gefährdung der Arbeitsplätze oder der Altersversorgung, kann ein Stimmungsumschwung den berühmten, seit den frühen 90er Jahren versprochenen »Aufschwung« bringen.

Kaufzurückhaltung heißt, dass man Geld, das man hat, nicht ausgibt, sondern zurückhält, also spart. Wäre Kaufzurückhaltung also der Grund für die »schlechte Konjunktur« heute, müsste folglich die Sparrate seit den frühen 90er Jahren gestiegen sein. Ist sie aber nicht.

Im Gegenteil: Das Sparen in Prozent des verfügbaren Einkommens der privaten Haushalte, die Sparquote, sank in den 90er Jahren bis 2000 kontinuierlich um fast ein Viertel von 12,4% 1993 auf 9,8% in 2000 ab, wie die folgende Tabelle zeigt.86 Im Moment scheint sie wieder etwas zu steigen, was aber sicherlich primär auf den neuen Zwang zu zusätzlicher privater Altersfürsorge zurückzuführen ist. Zusätzlich mag auch Kaufzurückhaltung »wegen der schlechten wirtschaftlichen Aussichten« eine Rolle spielen.


Die Kaufzurückhaltung hat also nicht nur psychologische Gründe, sondern sehr reale: Die große Masse hat schlicht kein Geld mehr. Und das kann auch niemanden überraschen, der sich nicht in neoliberale Wunschvorstellungen eingesponnen hat. Denn dasselbe Resultat zeigte schon die auf dem Lesezeichen und S. 32 in der Grafik C dargestellte grüne bzw. Sternchen-Kurve der Nettorealeinkommen der abhängig Beschäftigten, die Mitte der 70er Jahre schon aufhörte, mit dem Waren- und Dienstleistungsangebot des produzierten Sozialprodukts zu wachsen. Und die, wie oben geschildert, benachteiligten abhängig Beschäftigten sind nun einmal mit 34,7 Millionen88 rund 90% aller Erwerbstätigen und damit für den Massenabsatz entscheidend. Dazu kommt dann noch der Konsumabbruch bei den vier bis sechs Millionen Arbeitslosen.

Das Phänomen ist nicht neu. Ähnlich, wenn auch mit 12 Millionen Arbeitslosen noch wesentlich schlimmer, war die Situation 1933 in den USA. Um die in Amerika aus Mangel an Massennachfrage unverkäuflichen Warenberge loszuwerden, versuchte der amerikanische Außenminister Cordell Hull – im alten Glauben an die Lehren des Liberalismus – noch auf der Welt-Handelskonferenz im Frühjahr 1933 in London, Handelsvereinbarungen mit anderen Ländern zu schließen. Roosevelt beendete diese Bemühungen. Er beschloss, die Probleme jetzt durch eine auf den amerikanischen Binnenmarkt beschränkte Wirtschaftspolitik, den »new deal«, zu lösen. Er kappte die Bindung des Dollar an den Goldstandard, stellte Banken und Währung unter Kontrolle, unterstützte die Nachfrage mit Milliarden Dollar Steuergeldern und stärkte die Organisation der Arbeitnehmer, um das Lohnniveau und damit die Nachfrage anzuheben.89

Diese »isolationistisch« genannte (keynesianische) Wirtschaftspolitik war recht erfolgreich – wenn die amerikanische Wirtschaft das Niveau vor der Weltwirtschaftskrise auch erst im Zweiten Weltkrieg wieder annähernd erreichte und 1937 noch etwa sechs Millionen Menschen arbeitslos waren.

Dass die Bundesrepublik diese Politik nicht wiederholen kann, ist evident. Sie hat weder Macht über den Euro, noch kann sie »Banken und Währung unter Kontrolle stellen«, noch Milliardenprogramme öffentlicher Nachfrage starten. Sie ist mehr oder weniger pleite.

Höhere Löhne?

Nach dem Motto »Maschinen kaufen keine Autos« verdoppelte Henry Ford bekanntlich die Löhne seiner Arbeiter. So entsteht Wachstum.

Natürlich werden die Autos dadurch teurer. Aber die Kosten für Autos bestehen nicht nur aus Lohn. Liegt der Lohnanteil zum Beispiel bei 30%, können die Autos bei Verdopplung des Lohnes nur um 30% teurer werden. Aber da die Löhne um 100% gestiegen sind, bleiben 70% Kaufkraft für weitere Anschaffungen.

Aber was macht die Bundesrepublik? Heiner Flassbeck, Chefvolkswirt bei der United Nations Conference on Trade and Development (Unctad), schildert das derzeitige wirtschaftspolitische Trauerspiel präzise so:

»Deutschland braucht Reformen … Auf die Frage, was ›Reform‹ ist, hört man im Grunde nur eine Botschaft: Es muss gekürzt werden, sozial verträglich sagen die einen, radikal die anderen. Hat ein Land über seine Verhältnisse gelebt, muss es genau wie ein Privatmann und ein Unternehmen den Gürtel enger schnallen …

Ein Unternehmen, das den Gürtel enger schnallt, um aus den roten Zahlen zu kommen, entlässt Arbeitskräfte … Die Arbeiter ohne Job gehen zum Arbeitsamt und erhalten 65% ihres Lohnes als Arbeitslosengeld. Sie schnallen ihren Gürtel enger, kaufen also 35% Güter weniger … Das vermindert den Gewinn jener Unternehmen, die diese Güter hergestellt haben … Das Arbeitslosengeld bezahlt zwar der Staat. Der will aber keine höheren Schulden machen. Folglich kürzt er die Beamtengehälter oder streicht öffentliche Bauinvestitionen … Die Nachfrage nach Gütern und der Gewinn sinken weiter. Am Ende hat sich die Gewinnsituation der Unternehmen nicht um einen Euro verbessert.

Wo auch immer etwas gekürzt wird, negativ betroffen sind immer zuerst die Gewinne der Unternehmen. Ein Unternehmen mag seine eigene Lage durch die Entlassungen kurzfristig verbessern, den Unternehmen insgesamt hilft das nicht. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen einer einzel- und einer gesamtwirtschaftlichen Betrachtung…

Welcher vernünftige Mensch wollte eine solche Logik bestreiten? Die Wirtschaftspolitik aber hat das vollkommen verdrängt. Steuern senkt man, um die Gewinne, die Investitionen und die Zahl der Arbeitsplätze zu erhöhen. Man kürzt aber gleichzeitig die Staatsausgaben, um ›gegenzufinanzieren‹, und endet zum eigenen Erstaunen im Nichts. Das vollständige Versagen dieser Politik zeigt sich sonnenklar in der unendlichen Geschichte der Steuerreformen …

Anfang der achtziger Jahre hatte man gehofft, die Investitionsneigung der Betriebe ließe sich durch niedrigere Steuern verstetigen … Nichts dergleichen ist eingetreten. Die Unternehmen reagieren eher mit stärkeren Einschnitten in der Investitionstätigkeit als früher. Arbeitsplätze werden mindestens im gleichen Tempo wie früher abgebaut, die Klage über schrumpfende Gewinne und schlechte Perspektiven ist genauso laut wie früher. Das ist aber nicht die Schuld der Unternehmen, sondern allein die Schuld einer falschen Politik.

Weil die Konsolidierungsphilosophie verlangt, jede Steuersenkung durch Ausgabensenkungen oder Einnahmeerhöhungen an anderer Stelle zu finanzieren, können Steuerentlastungen niemals auf die Gewinne der Unternehmen durchschlagen … «90

Das ist so evident richtig, dass man sich fragt, ob Wirtschaft und Wirtschaftspolitik in der Bundesrepublik von einer Horde »Wahn-Sinniger« beherrscht werden, die Tag für Tag die Zeitungen und Fernsehdiskussionen mit untauglichen Sparplänen füllen. Doch so einfach ist das nicht. Denn die Politik steht heute, in einer auf Export gerichteten Wirtschaft, unter Zwängen, die nahezu jeden Ausweg versperren.

Löhne und Einkommen durch Flächentarifverträge zu sichern oder gar in Tarifverhandlungen kräftige Lohnerhöhungen zur Nachfragestützung zu fordern, stößt auf ein unwiderlegliches Argument: Lohnerhöhungen steigern die Preise der im Lande produzierten Güter und Dienstleistungen – und schon kleine Preissteigerungen können in einem offenen Weltmarkt einheimische Produkte im In- und Ausland konkurrenzunfähig machen. Ein weiterer Verlust von Arbeitsplätzen und Betriebsverlegungen wären die Folge. Der weltweit offene Markt bestraft deutliche Lohnsteigerungen wirklich. Gerade so optimiert er ja auf »die preisgünstigste Produktion«.

So ist der einzige der Politik offen erscheinende Ausgang, die Kündigungs- und Arbeitsschutzbestimmungen aufzulösen und die Tarifverträge durch Betriebsvereinbarungen zu ersetzen, die die Senkung der Einkommen erlauben, wenn die Lage des Unternehmens »dies erfordert« – und das wird bei den meisten Betrieben schon heute der Fall sein. Gesucht sind damit immer neue Methoden zur ständigen Anpassung der Löhne (und Lohnnebenkosten) an den sinkenden Weltmarktpreis für Arbeit. Doch so sehr man sich auch bemühen wird, mit diesem Weltmarktpreis konkurrierend die Löhne abzusenken, das Spiel ist von Anfang an verloren. Conti zahlt in seinen rumänischen Reifenfabriken den Weltmarktpreis für den Arbeiter in der Reifenproduktion: 4500 € pro Jahr91. Und liebäugelt bereits mit noch niedrigeren Weltmarktpreisen an der Ostsee (Litauen).

Doch dass sich Lohnsteigerungen im Gleichtakt mit dem Wachstum des Sozialprodukts nicht mehr wie von 1950 bis in die Mitte der 70er Jahre durchsetzen lassen, ändert nichts an dem Faktum, dass Angebot und Nachfrage für das Wachstum des Sozialprodukts ungefähr im gleichen Maße wachsen müssten.

So treffen wir auf das Phänomen, dass die Löhne gleichzeitig zu hoch (als Teil der Arbeitskosten) und zu niedrig (als Nachfrageelement) sind. Die Nachfrage durch höhere Nettolöhne der unteren Einkommensschichten zu stützen, wie der ehemalige Finanzminister der Bundesrepublik, Oskar Lafontaine, es wollte, ist deshalb im Prinzip richtig und gleichzeitig im offenen Weltmarkt kaum zu machen, also politisch betrachtet falsch. Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des Industriestandorts Deutschland durch Kostensenkung, wie es die Anhänger der herrschenden Lehre trotz aller Fehlschläge verkünden, ist nicht besser: Es ist wirtschaftlich die völlig falsche Medizin, aber gleichzeitig leicht durchsetzbar – und von den politischen Chancen aus betrachtet also auch (innenpolitisch) richtig. Und da man zur Zeit fest entschlossen scheint, unter dem Beifall der »Sachverständigen« in Presse und Fernsehen auf letzterem Irrweg möglichst »Entschlossenheit zeigend« den Ruck zu verwirklichen, wird spätestens zur nächsten Bundestagswahl Flassbecks Prognose eingetreten sein:

 

»Die Konstitution der deutschen Wirtschaft ist schon heute schlecht. Nach dem Ruck wird man verzweifelte Wiederbelebungsversuche unternehmen müssen, um das Schlimmste zu verhindern.«92

Sieger der Nationen im Wettlauf nach unten, wie es die herrschende Lehre fordert – oder effizientester Bremser auf dem Weg in die Massenverarmung, wie es die Gewerkschaften versuchen – irgendwann muss man sich dann doch eingestehen: Im System des freien Weltmarkts gibt es keine wirklich dauerhafte Lösung für dieses fundamentale Problem. Nicht Reformunfähigkeit der Gesellschaft der Bundesrepublik (an der sicher auch vieles zu verbessern ist) ist die primäre Ursache des Dilemmas, sondern es sind die außen- und wirtschaftspolitischen Zwänge, in denen die Bundesrepublik steckt: die Einbettung in einen auf neoliberale Prinzipien eingeschworenen Weltmarkt einerseits und die politischen Zwänge einer EU andererseits, deren Teilnehmer so unterschiedliche Vorstellungen von dem anzustrebenden Europa haben, dass sie zwar die nationale Entscheidungsfähigkeit weitgehend verloren haben, gemeinsame Entscheidungen aber (noch) weitgehend unmöglich sind. Es fehlt der EU ein Roosevelt – und es ist bisher nicht zu sehen, woher er kommen sollte.

Die Bundesrepublik steckt damit genauso in einer außen- und wirtschaftspolitischen Falle wie die Reichsregierung unter Brüning Anfang der 30er Jahre. Das zu sagen ist nicht politisch korrekt? Mag sein, aber sachlich korrekt ist dieser Vergleich allemal.

Unter der Überschrift »Was ist so schockierend daran, wenn man Gerhard Schröder mit Heinrich Brüning vergleicht?« schrieb Harold James:

»Lafontaines Vergleich rührt in der Tat an ein fundamentales politisches Dilemma. Was bleibt demokratisch gewählten Politikern in einer gegenüber den Weltmärkten offenen Wirtschaft an Wahlmöglichkeiten? Gibt es hinsichtlich der makroökonomischen Probleme nennenswerte Handlungsspielräume?

Tatsächlich sind die Parallelen schmerzlich offenkundig: Die einzige Überraschung ist, dass vor Lafontaine niemand sie gezogen hat.«93

Denn die Weimarer Republik war Teil eines Wechselkurssystems, das ihr Einschränkungen auferlegte, die ähnlich wie die Maastricht-Kriterien von heute wirkten. Bei freiem Kapitalverkehr über die Grenzen bestand kein Spielraum für eine spezifisch deutsche Geldpolitik, und die Wirtschaft war anfällig gegenüber der von den Weltmärkten übertragenen Deflation. Auch konnte man das Defizit des Staates nicht erhöhen, weil das bei der schon hohen Auslandsverschuldung des Reichs Panikreaktionen der Gläubiger hätte auslösen können.

»Als die Einnahmen der öffentlichen Hände schrumpften, reagierte Brüning sowohl mit Steuererhöhungen wie mit der Streichung von Ausgaben, auch von Sozialausgaben …

Nach Brüning änderten sich zwei Umstände, und erst das erlaubte flexiblere Reaktionen. Im Juli 1932 wurden auf der Lausanner Konferenz die deutschen Reparationsverpflichtungen nahezu aufgehoben. Zweitens waren in der Kredit- und Bankenkrise im Juli 1931 weitreichende Kontrollen des Kapital- und Zahlungsverkehrs eingeführt worden, die zuvor nicht denkbar, geschweige denn durchsetzbar gewesen wären. Die neu gewonnene Flexibilität lief allerdings darauf hinaus, dass Deutschland nun frei war, den Weg in die Autarkie zu gehen. Das erleichterte das Arbeitslosenproblem, war aber politisch und im Grunde auch wirtschaftlich katastrophal.«94

Wobei der Autor mit »politisch katastrophal« mehr als Recht hat, mit »wirtschaftlich im Grunde auch« sich aber irrt. Eben der wirtschaftliche Erfolg Hitlers war die Basis für die politische Katastrophe, wie Sebastian Haffner meisterhaft schilderte.95