Sozialisation

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Sozialisation
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UTB 3004










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Prof. Dr. Hermann Veith, lehrt Pädagogik mit dem Schwerpunkt Sozialisationsforschung unter besonderer Berücksichtigung des Jugendalters, Universität Göttingen




Lektorat/Redaktion im Auftrag des Ernst Reinhardt Verlages:

Ulrike Auras, München





Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek




Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über <

http://dnb.d-nb.de

> abrufbar.




UTB-ISBN 978-3-8252-3004-3 (Print), 978-3-8385-3004-8 (E-Book)



ISBN 978-3-838-53004-8 (E-Book)



ISBN 978-3-497-01966-3




© 2008 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München




Dieses Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne schriftliche Zustimmung der Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, München, unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen in andere Sprachen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.




Reihenkonzept und Umschlagentwurf: Alexandra Brand

Umschlagumsetzung: Atelier Reichert, Stuttgart

Satz: Arnold & Domnick, Verlagsproduktion, Leipzig

Druck: Friedrich Pustet, Regensburg




ISBN 978-3-8252-3004-3 (UTB-Bestellnummer)




Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net:

www.reinhardt-verlag.de

 E-Mail: info@reinhardt-verlag.de




Inhaltsverzeichnis



Titel


Impressum


Einleitung


1 - Warum sind wir zur Selbstbestimmung gezwungen?


2 - Wie beeinflusst uns die Gesellschaft?


3 - Welche Entwicklungsbedeutung hat die Familie?


4 - Was lernt man eigentlich in der Schule?


5 - Wie wichtig sind die Anderen?


6 - Wie entwickelt sich die Persönlichkeit?


7 - Was ist denn schon „normal“?


Anhang


Sachregister






Einleitung



Mit dem Begriff der „Sozialisation“ verbindet sich die Vorstellung, dass die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen Menschen aufwachsen und leben, ihre Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung nachhaltig beeinflussen. Neben der Familie und der Schule werden in der Regel Freunde, Peergruppen und Medien als die wichtigsten Bedingungsfaktoren des biografischen Lernens wahrgenommen. Die Tatsache jedoch, dass man selbst im Alltagshandeln unentwegt in sozialisatorisch wirksame Praktiken verstrickt ist, gerät bei dieser umweltzentrierten Betrachtungsweise sehr leicht in Vergessenheit.



Stellen Sie sich deshalb einmal folgende Situation vor: Sie steigen gut gelaunt in eine U-Bahn und wünschen den Mitfahrenden einen „schönen guten Morgen“. Sehr wahrscheinlich wird Ihr Gruß unerwidert bleiben. Das heißt aber nicht, dass er wirkungslos war – im Gegenteil. Wenn Sie sich umsehen, werden Sie entdecken, wie einige Fahrgäste schon längst dabei sind, ein Spontanpsychogramm über Ihre Person anzufertigen: Musiker, Zeitungsverkäufer, Obdachloser, Fahrkartenkontrolleur? Da nichts von alledem auf Sie zutrifft, ist der Fall für die anderen schnell erledigt: „Stadtneurotiker!“ Sie nehmen diese Typenzuschreibung ganz intuitiv zur Kenntnis und fühlen sich mit einem leichten Anflug von Peinlichkeit und Kränkung missverstanden. Ohne dass auch nur ein Wort gewechselt wurde, sehen Sie sich aufgefordert, Ihre Heiterkeit hinter der umgänglicheren Maske demonstrativer Gleichgültigkeit zu verbergen. Man wünscht, in der kalten Behaglichkeit der morgendlichen Rushhour einfach nicht gestört zu werden. Darum gibt man Ihnen schweigend zu verstehen, dass Ihre Begrüßungsformel deplatziert ist und Sie mit Ihrer beschwingten Art zu weit gegangen sind, wenn auch nur geringfügig, aber immerhin. Sie haben nichtsahnend eine ungeschriebene Norm der Massengesellschaft übertreten und die Anonymitätsregel verletzt, die das Leben der Großstadtmenschen von solchen Bekanntschaftsritualen entlastet. Ihr Fauxpas wird Ihnen allerdings verziehen, vorausgesetzt, Sie sind bereit, auf Anschlusshandlungen zu verzichten und lautlos in der Menge abzutauchen.



Es sind gerade diese winzigen Normverstöße, welche die immense Wirkmacht alltagspraktischer Ordnungen anschaulich werden lassen. Denn würde man sich nicht darauf verlassen können, dass die Menschen, denen man tagtäglich begegnet, unsere Sicht der Welt und der  darin geltenden Regeln zumindest ungefähr teilen, wäre der kommunikative Orientierungs- und Verständigungsaufwand nicht zu bewältigen. Mit jedem Schritt vor die Wohnungstür würde man in das Laufrad einer sich schier endlos drehenden Fragemaschinerie einsteigen: „Wie geht es Ihnen?“, „Was machen Sie?“, „Wo wollen Sie hin?“ – oder noch irritierender: „Wer sind Sie eigentlich überhaupt?“ Damit nicht genug, denn schon nach wenigen Sekunden würde man selbst den anderen mit den gleichen Fragen auf die Nerven gehen.



Bekanntermaßen handeln wir jedoch unter den Normalitätsbedingungen unserer Alltagspraxis etwas anders. Wir wissen, dass Fremde sich in der U-Bahn nicht grüßen müssen. Zur erfolgreichen „Kommunikation“ genügt der unverwandte Blick ins Leere. Es reicht, einfach so zu tun, als ob sich die Art, wie wir uns verhalten, von selbst versteht –und tatsächlich verhalten sich alle so. Dass dieses so funktioniert, ist die Wirkung von Sozialisation. Man kennt intuitiv die Normen und Prinzipien, die „regeln“, was zu tun ist, und man weiß, welche Relevanz dabei andere Menschen und Dinge haben. Wir wissen, ohne uns darüber Klarheit zu verschaffen, dass wir „Individuen“ und „Subjekte“ sind –eine für andere Gesellschaften unvorstellbare Form des In-der-Welt-Seins. Wir senden starke Ich-Botschaften, wenn wir uns über objektive Sachverhalte unterhalten. Wir fordern die Anerkennung unserer persönlichen Rechte, wenn wir uns mit anderen über soziale Praktiken verständigen und sprechen mit großer Ernsthaftigkeit über unsere subjektiven Erlebnisse. Auch das ist in anderen Kulturen keineswegs selbstverständlich. Ganz offenbar bewegen wir uns, in dem, was wir tun und denken, in gesellschaftlich vorgespurten Bahnen. Wir haben im praktischen Miteinander gelernt, wie „man“ sich verhält und was „man“ wie gebrauchen darf. In einigen Fällen geschieht dieses, wie in der U-Bahn, ganz indirekt und beiläufig, in anderen werden konkrete pädagogische Absichten und Verhaltenserwartungen wirksam.



Tatsächlich bilden und entwickeln sich unsere Handlungsfähigkeiten und damit in Verbindung unser Selbst- und Weltverständnis in den unterschiedlichen sozialen Praktiken, in die wir vom ersten Lebenstag an eingebunden sind: Kaum ist man geboren, wird man gemessen und gewogen. Während die Eltern noch damit beschäftigt sind, das Individuelle an ihrem Kind zu entdecken, hat die Verwandtschaft längst das Familientypische ausgemacht: „Die Fingerchen hat sie von der Oma, die Haarfarbe von Opa, als er noch jung war.“ Die Bekannten interessieren sich für das Geschlecht und kommentieren den Namen, das Klinikpersonal überwacht den Gesundheitszustand, die Behörden bescheinigen  die Geburt, der Stadtanzeiger will ein Foto und die Babybranche wirbt mit ihren Begrüßungsgeschenken um Kundschaft. So folgen alle Abläufe einer bestimmten Ordnung, und jeder macht sich gemäß der Eigenlogik des Sozialsystems, dem er sich zugehörig fühlt, sein ganz spezielles Bild von dem Neuankömmling.



Wie Säuglinge dieses rührige soziale Treiben und Einbinden um sie herum erleben, lässt sich – auch aus wissenschaftlicher Sicht – nur hypothetisch rekonstruieren. Können Babys ihre Mitmenschen schon als Personen erkennen oder empfinden sie nur ihre eigenen, mit ersten sinnlichen und kulturellen Bedeutungsfragmenten angereicherten leiblichen Aktivitätszustände? Klar ist aber, dass ihnen die Welt durch ihre Bezugspersonen nahe gebracht wird. Im wechselseitigen Geben und Nehmen der ersten Lebensmonate lernen sie, ohne sich dessen bewusst zu sein, wie man sich in der Gegenwart anderer sinnvollerweise verhält. Sie übernehmen die körperlichen Bewegungsschemata ihrer Handlungspartner und stellen sich mit ihrem ganzen Organismus physisch, psychisch und pragmatisch auf ihre Umwelt ein. Als Kleinkinder entwickeln sie sodann ganz allmählich die Fähigkeit, ihr eigenes Verhalten an den Absichten und Erwartungen ihrer Handlungspartner auszurichten und die elementaren Ordnungszusammenhänge ihrer Lebenswelt zu verstehen. Sie entdecken physikalische Kausalzusammenhänge, soziale Regelmäßigkeiten und kulturelle Sinnstrukturen. Je mehr die Heranwachsenden dabei lernen, ihre eigenen Tätigkeiten zu reflektieren und selbstbestimmt zu handeln, desto komplexer werden die Formen der sozialisatorischen Auseinandersetzung mit der Umwelt und der eigenen Person.

 




Definition



Von Sozialisation spricht man in diesem Zusammenhang, weil sich die Persönlichkeit mit ihren Sprach- und Handlungsfähigkeiten stets unter historischen Kulturbedingungen in gesellschaftlich strukturierten Lebenswelten entwickelt.




Dieses Buch richtet sich an all diejenigen, die einen ersten, aber nicht oberflächlich bleibenden Einblick in die Grundfragen der Sozialisationsforschung gewinnen möchten. Das ist deshalb nicht ganz einfach, weil sich dieses Forschungsfeld quer über den gesamten Bereich der sozial- und humanwissenschaftlichen Disziplinen erstreckt. Darüber hinaus gibt es kein einheitliches Theoriekonzept, sondern viele verschiedene, sich teilweise auch widersprechende Erklärungsansätze. Warum  das so ist, wird deutlich, wenn man sich das Ziel der modernen sozialisationstheoretischen Diskussion vor Augen führt.




Kernaussage



Sozialisationstheoretiker wollten und möchten verstehen, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Verinnerlichung sozialer Normen individuelle Autonomie ermöglicht, oder aber zur Entwicklung eingeschränkter Handlungsfähigkeiten führt.




Ausgehend von der Frage, warum in den Sozialwissenschaften nicht nur von Entwicklung, sondern von Sozialisation die Rede ist (Kapitel 1), wird ein analytisches Rahmenmodell beschrieben (Kapitel 2), mit dessen Hilfe das Zusammenspiel von gesellschaftlichen und individuellen Entwicklungsbedingungen anschaulich dargestellt werden kann. Darauf aufbauend werden in den Kapitel 3, 4 und 5 die unterschiedlichen Vergesellschaftungspraktiken in den wichtigsten Sozialisationskontexten – Familie, Schule und Peergruppe – skizziert. Ein kleiner Exkurs zur Rolle der Medien leitet über zu den Grundfragen der Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung (Kapitel 6). Was dabei als „normal“ gelten kann, ist, wie in Kapitel 7 gezeigt werden wird, keineswegs selbstverständlich. Zur Weiterbeschäftigung mit den angesprochenen Themen findet sich am Ende eines jeden Kapitels ein Informationsteil mit allgemeinen Literatur- und Websiteempfehlungen. Im Glossar schließlich werden einige für das Thema Sozialisation wichtige Grundbegriffe erklärt.




Kernaussage



Wer im Erziehungs- und Bildungsbereich beschäftigt ist, übernimmt für andere Menschen Verantwortung. Die Entscheidungen, die in der pädagogischen Praxis zumeist schnell und vor allem zielsicher getroffen werden müssen, bedürfen dabei stets der fachlichen Begründung und Legitimation. Zur professionellen Planung, Beurteilung und Auswertung von Handlungsstrategien in den unterschiedlichen Praxis- und Berufsfeldern ist deshalb theoriegeleitetes Wissen über den Sozialisationsprozess unerlässlich.






1



Warum sind wir zur Selbstbestimmung gezwungen?



Gesellschaften benötigen zu ihrer eigenen Stabilität und Erneuerung handlungsfähige Personen. Moderne Sozialsysteme sind dabei in besonderer Weise auf eigenständige, verantwortungsbewusst und reflexiv agierende Individuen angewiesen. Die zur Teilhabe am sozialen Leben wichtigen Kompetenzen können durch Sozialisation und Bildung erworben werden. Allerdings gibt es dafür keine Garantie.




Kernaussage



Auch unter günstigen äußeren Lebensumständen sind biografische Risikoentwicklungen möglich und umgekehrt können Menschen in schwierigen Verhältnissen durchaus alltagstaugliche Handlungsfähigkeiten und Subjektautonomie entwickeln. Dieses hängt unter anderem damit zusammen, dass der Sozialisationsprozess von den sich entwickelnden Subjekten selbst aktiv mitgestaltet wird.




Es gibt keine kausale Determination der Person durch die Umwelt. In fast allen einschlägigen Veröffentlichungen werden heute deshalb ausdrücklich die Eigenaktivitäten des Individuums bei der Aneignung kultureller Wissensbestände, sozialer Normen und alltagspraktischer Handlungsroutinen hervorgehoben (Geulen 2005, Grundmann 2006, Zimmermann 2006). Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen die entsprechenden konzeptionellen Grundlagen der modernen Sozialisationsforschung. Ausgehend von einer begriffsgeschichtlich angelegten Problembeschreibung werden das Sozialisationskonzept konkretisiert und die wichtigsten Bezugstheorien genannt. Schließlich wird begründet, warum sozialisationstheoretisches Wissen praktisch nützlich ist.





Am Anfang war das Wort



Der Begriff „Sozialisation“ leitet sich wortgeschichtlich aus dem englischen Verb „to socialize“ ab. Dieses findet sich erstmals 1828 im Oxford Dictionary in der Bedeutung von „to render social, to make fit for living in society“ (Clausen 1968, 21). Da man Begriffe besser versteht, wenn man den Kontext kennt, in dem sie verwendet werden, soll zunächst kurz beschrieben werden, wie das Wort Sozialisation alltagssprachlich aufkam und in die wissenschaftliche Diskussion einsickerte.




1. Das Wort „Sozialisation“: Bekanntermaßen hat die Industrialisierung in England deutlich früher eingesetzt als in anderen Staaten. Mit der Auslagerung der gewerblichen Produktion aus den Hauswirtschaftsbetrieben entwickelten sich überall neue Formen der Arbeitsteilung. Im Räderwerk der dampfgetriebenen Maschinen und mechanisierten Fabrikanlagen wurden – bildlich gesprochen – die traditionellen Lebensordnungen der agrarständischen Welt zerrieben. Die moderne Zeitordnung war nicht mehr zyklisch wie das Kalenderjahr, sondern linear, zukunftsgewandt und fortschrittsorientiert. Dabei war es immer weniger möglich, die zur Lohnarbeit benötigten Kompetenzen im alltäglichen Miteinander zu erlernen. Um „fit“ zu werden, und das hieß ganz elementar, um die eigenen individuellen Existenzgrundlagen sichern zu können, war es auch im gesellschaftlichen Interesse erforderlich, dass die Einzelnen ihr Verhalten den veränderten Arbeits- und Lebensbedingungen anpassten. Für den Erwerb entsprechend sozial verwertbarer und nützlicher Qualifikationen und Alltagspraktiken wurde das Verb „to socialize“ gebräuchlich.




Kernaussage



Um in der Gesellschaft einen Platz zu finden und etwas aus sich und seiner Persönlichkeit zu machen, war man als Individuum auf sich selbst gestellt, zur Selbstbestimmung gezwungen.




Statt einer Gemeinschaft qua Herkunft einfach anzugehören, sah man sich nun der Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen sozialen Systemen, Organisationen und Gruppen gegenüber. Wer integriert sein wollte, musste lernen, wie man sich außerhalb der familiären Lebenswelt als Schüler in der Schule, als Erwerbstätiger im Betrieb, als Staatsbürger im politischen System oder als Nachbar im Wohnviertel zu verhalten hatte. Für diese Form des kontinuierlichen und auf immer  unterschiedlichere normative Kontexte bezogenen biografischen Rollenlernens wurde es am Ende des 19. Jahrhunderts üblich, das Substantiv „socialization“ zu verwenden.




2. Der wissenschaftliche Begriff „Sozialisation“: Zur selben Zeit setzte sich in der wissenschaftlichen Diskussion die Auffassung durch, dass die Persönlichkeitsentwicklung maßgeblich durch die „gesellschaftlichen Verhältnisse“ beeinflusst wird (Marx/Engels 1845/46). Kurz vor der Jahrhundertwende erschienen fast zeitgleich mehrere Veröffentlichungen, in denen der Begriff „Sozialisation“ ausdrücklich vorkommt (Veith 2008). Das war kein Zufall. Tatsächlich sahen die Zeitgenossen, dass die industriegesellschaftlichen Konflikte und Verwerfungen – der Gegensatz zwischen Reichtum und Armut, die zunehmende Verstädterung und die Arbeitsmigration – nicht nur die Grundlagen der alten Ständeordnung, sondern das kapitalistische System selbst erschütterten.



Für den französischen Soziologen und Erziehungswissenschaftler Emile Durkheim (1858–1917) gab es keinen Zweifel, dass der Individualismus des modernen Industriezeitalters archaische psychische Willenskräfte mit ambivalenten sozialen Folgen entfesselte. Denn die Wirtschaftsgesellschaft weckte mit ihren verlockenden Angeboten ein schier unbändiges Verlangen nach immer neuen Glücksgütern. Da die breite Masse der Bevölkerung jedoch vom Konsum ausgeschlossen blieb, waren Klassenspannungen unvermeidbar. Beides, der gierige Eigennutz und die Zuspitzung der sozialen Frage, waren brandgefährlich, weil sie die ohnehin porösen lebensweltlichen Fundamente der Gesellschaft unterspülten. Durkheim war überzeugt, dass ohne gemeinsam geteilte Wertbindungen die Egomanie der Selbstsüchtigen alle sozialen Dämme durchbrechen würde. Die Ursache dafür sah er aber nicht, wie viele seiner Kollegen, in einem angeborenen Machttrieb oder einer vererbten Charakterschwäche und Verderbtheit, sondern ganz eindeutig im Autoritäts- und Geltungsverlust elementarer, das soziale Gemeinschaftsleben ordnender Institutionen (Durkheim 1893). Ohne Solidarität und verbindliche Konventionen – so sein Argument – fehlten die sozialen Triebkräfte zur Entwicklung fester innerer Werthaltungen.




Kernaussage



Das moralische Regelbewusstsein ist nicht angeboren, vielmehr entstehen und entwickeln sich die individuellen Normvorstellungen erst im Verlauf des Sozialisationsprozesses. Mit dieser Prämisse war die moderne sozialisationstheoretische Diskussion eröffnet.







3. Das theoretische Modell: Durkheim selbst konkretisierte diesen Grundgedanken mit Hilfe der Unterscheidung von individuellen und sozialen Ich-Strukturen. Während im „individuellen Ich“ die egoistischen und ihrer Natur nach asozialen Triebregungen angelegt sind, repräsentiert das „soziale Ich“ die gesellschaftlichen Normen (Durkheim 1897). Diese werden im Sozialisationsprozess verinnerlicht. Ein schwaches „soziales Ich“ wird von den asozialen Strebungen seines „individuellen“ Gegenspielers hinweggerissen. Einem gefestigten „sozialen Ich“ hingegen gelingt es, die inneren Triebimpulse zu disziplinieren und in gesellschaftlich akzeptierte Bahnen umzulenken.



Auch Durkheims Zeitgenossen arbeiteten mit ähnlichen Modellvorstellungen oder sprachen mit etwas anderer Akzentuierung von „Identität“ (Simmel 1908), vom „Spiegelselbst“ (Cooley 1902), vom „Über-Ich“ (Freud 1923) oder vom „Me“ (Mead 1934). Gemeinsam vertraten alle die Auffassung, dass sich niemand, und schon gar nicht die Heranwachsenden, den „Zwängen“ der gesellschaftlichen Umwelt entziehen können.




Kernaussage



Im Sozialisationsprozess werden soziale Normen und kulturelle Wissensbestände übertragen, angeeignet und verinnerlicht. Dort, wo diese Übertragung systematisch geplant und mit klaren pädagogischen Absichten organisiert wird, handelt es sich um „Erziehung“ – in Durkheims Worten: um „socialisation méthodique“ (Durkheim 1902/03).




Erst in der Auseinandersetzung mit anderen Menschen lernen die Einzelnen, sich in ihrer Umgebung zu orientieren. Sie beginnen, die Welt durch die Brille ihrer Kulturgemeinschaft zu betrachten, und nach nur wenigen Jahren bewegen sie sich wie die anderen, sprechen deren Sprache, verfolgen dieselben Ziele und denken in den gleichen kognitiven, ethischen und ästhetischen Kategorien.



Sozialisation und Entwicklung



Nach der heute gängigen Definition des Bielefelder Sozialisationsforschers Klaus Hurrelmann bezeichnet der Begriff der Sozialisation „den Prozess der Entstehung und Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und dinglich-materiellen Umwelt“ (Hurrelmann 2006, 70). Diese noch sehr allgemeine Bestimmung lässt sich in fünf Punkten konkretisieren:



• Sozialisationsprozesse basieren auf dem komplexen Zusammenwirken von sehr unterschiedlichen konstitutionellen, genetischen, physiologischen, psychischen, ökologischen, sozialen und kulturellen Faktoren. Die wesentlichen Triebkräfte der Individualentwicklung sind die tätigkeitsgebundenen Erlebnisse und Erfahrungen, die ihren Ausdruck und Niederschlag in den sich bildenden Handlungsfähigkeiten und den auf Selbstreflexion angelegten Persönlichkeitsstrukturen finden (Fend 2003).

 



• Sozialisation ist ein das ganze Leben andauernder Prozess. In der Sozialisationsforschung war es lange Zeit üblich, die besondere Bedeutung der Lernerfahrungen im frühen Kindes- und Jugendalter durch die Unterscheidung zwischen einer „primären“ und „sekundären“ Sozialisationsphase hervorzuheben (Berger/Luckmann 1969). Dabei wurde angenommen, dass sich die grundlegenden, die weitere biografische Entwicklung bestimmenden Kompetenzen und Charakterstrukturen schon in den ersten Lebensjahren herausbilden. Allerdings entspricht die damit assoziierte Vorstellung, dass mit dem Erwachsenenalter ein relativ stabiler Reifezustand erreicht wird, nicht mehr den heutigen Lebenserfahrungen. Darum wird der Sozialisationsprozess nunmehr mit Blick auf die gesamte Lebensspanne und die jeweils dominanten „altersspezifischen“ Probleme und Entwicklungsaufgaben thematisiert (Elder 2000).



• Sozialisationsprozesse sind immer in historisch vermittelte, kulturund sprachgemeinschaftliche Kontexte eingebettet. Durch die Einbeziehung in unterschiedliche Sozialsysteme, Institutionen und Interaktionszusammenhänge lernen die Einzelnen, ihre praktischen und kommunikativen Aktivitäten auf die verschiedenen Erwartungen und Sprachgewohnheiten ihrer Bezugspersonen, Gruppen und Sozialmilieus einzustellen (Grundmann 2006).



• Die individuellen Handlungsfähigkeiten entwickeln sich im Sozialisationsprozess auf der Grundlage der subjektiven Auseinandersetzung des Einzelnen mit den vorgefundenen Umweltbedingungen. Dabei wird angenommen, dass der Umgang mit Dingen und anderen Menschen, aber auch das Verhältnis zur eigenen Person stets von den individuellen Vorerfahrungen abhängig ist. Das heißt, dass die Art und Weise, wie eine Situation erlebt wird, nicht allein von den  „objektiven“ Gegebenheiten, sondern von der persönlichen Wertigkeit und Erwartungshaltung abhängt (Mansel/Hurrelmann 2003).



• Im Zentrum der sozialisationstheoretischen Diskussionen steht die Erklärung der Entwicklung von Subjektautonomie und alltagstauglichen Handlungsfähigkeiten (Hurrelmann 2006). In dem Maße, in dem Gesellschaften Individualisierungsprozesse ermöglichen und erfordern, können und müssen die Einzelnen ihr Leben in Eigenregie in die Hand nehmen und lernen, kompetent, verantwortungsbewusst und autonom zu handeln (Zinnecker 2000, Bauer 2002). Insofern sind wir auch heute, wenngleich in veränderten gesellschaftlichen Konstellationen, ganz entschieden zur Selbstbestimmung gezwungen.



Theorien der Sozialisation



Die moderne sozialisationstheoretische Diskussion wurde von sehr unterschiedlichen Wissenschaftlern beeinflusst und geprägt. Bis heute gibt es keine allgemein akzeptierte Theorie, dafür aber eine Vielzahl von einzelnen Erklärungsansätzen. Diese werden in der Literatur häufig unter disziplinären Gesichtspunkten als soziologische und psychologische Basiskonzepte vorgestellt (Faulstich-Wieland 2000). Zieht man die verschiedenen theoriehistorischen Arbeiten heran (Geulen 1980, 1991; Veith 1996, 2001), schält sich ein relativ stabiler Korpus von Erklärungsansätzen und Autoren heraus (

Tabelle 1

). Nur wenige der genannten Konzepte sind, wie die Theorie des Rollenlernens von Talcott Parsons, ausdrücklich als Sozialisationstheorien formuliert worden, und viele der namentlich aufgelisteten Wissenschaftler wurden erst sehr viel später als Sozialisationstheoretiker entdeckt. Dieses gilt insbesondere für George Herbert Mead, Alfred Schütz und Jean Piaget. Wissenschaftlich durchgesetzt hat sich das Sozialisationskonzept im deutschen Sprachraum in den 1970er Jahren im Kontext der Bildungsreformdebatte und der Diskussion über herkunftsbedingte Benachteiligungen.



Warum ist sozialisationstheoretisches Wissen wichtig?



Falls Sie sich jetzt fragen, wozu diese konzeptionellen Erläuterungen und diese vielen Theorien in der Praxis nützlich sein sollen, stellen Sie sich bitte einmal vor, Sie selbst hätten Kinder. Welche pädagogischen Angebote würden Sie sich wünschen? Ganz sicherlich wären Sie froh, wenn es in Ihrer Nachbarschaft Spielplätze und Sportvereine gäbe. Noch besser wäre es, wenn gute Kindergärten und Schulen, vielleicht auch noch Elterncafés und Beratungseinrichtungen vor Ort wären. Vor allem aber würde es Sie beruhigen, zu wissen, dass diejenigen, denen Sie Ihre Kinder anvertrauen, professionell arbeiten, d. h. konkret: über ein fundiertes fachliches Wissen in ihren jeweiligen Spezialgebieten verfügen, methodisches Geschick zeigen, diagnostischen Sachverstand besitzen, Einfühlungsvermögen haben und ihre eigene Tätigkeit selbstkritisch reflektieren. Solche Erwartungen sind legitim. Gerade im Erziehungs-und Bildungsbereich müssen die Fachkräfte heute sehr hohen theoretischen und praktischen Kompetenzansprüchen genügen:



• Von Erziehern wird erwartet, dass sie hinreichende Kenntnisse über die vielschichtigen Bedürfnisse von Kleinkindern mitbringen. Sie sollten in der Lage sein, über Pflege- und Betreuungsleistungen hinausgehend eine pädagogisch anregende, ja sogar bildungswirksame Atmosphäre herzustellen. Außerdem sollten sie ihre eigene Rolle als besondere Bezugs- und Bindungspersonen entwicklungssensibel hinterfragen (Tietze et al. 2005).



• Von Lehrern wird verlangt, dass sie gleichzeitig unterrichten, erziehen, beurteilen und aktiv ihre Schule entwickeln. Dabei arbeiten sie mit Kindern und Jugendlichen zusammen, die bereits früh unter Leistungsdruck gestellt, noch ganz am Anfang ihrer biografischen Entwicklung stehen. All das erfordert neben schulfachbezogenen Kompetenzen ein hohes Maß an psychosozialem Feingefühl, praktischer Perspektivenübernahmefähigkeit und selbstkritischer Reflexion (Beutel et al. 2006).



• Sozialpädagogen und Sozialarbeiter sind Experten im Umgang mit verhaltensauffälligen Personen. Sie beschäftigen sich mit Fällen von körperlicher und seelischer Gewalt, von sexuellem Missbrauch, Vernachlässigung oder Verwahrlosung. Dabei wird von ihnen erwartet, dass sie in der Lage sind, psychosoziale Gefährdungslagen zu erkennen und hilfebedürftige Menschen bei der Bewältigung ihrer Probleme oder beim Aufbau neuer Handlungsfähigkeiten zu unterstützen (Böhnisch 2005).



• Berater sehen sich mit einer Vielzahl von Problemen konfrontiert.



Ob Ehekonflikte, Erziehungsschwierigkeiten, Schulprobleme oder Drogenmissbrauch, immer hängt der Beratungserfolg entscheidend davon ab, wie es ihnen gelingt, gemeinsam mit ihren Klienten alltagstaugliche, auf die konkreten Personen und deren Lebenssituation zugeschnittene Handlungsperspektiven zu entwickeln (Nussbeck 2006).





Tabelle 1

: Sozialisationstheoretische Konzepte











Kernaussage



Alle diese Berufe setzen ein hohes Maß an körperlicher und psychischer Belastungsfähigkeit voraus. Vor allem aber erfordern sie theoriegeleitetes Wissen über den menschlichen Sozialisationsprozess.




Wer professionell pädagogisch arbeiten will, sollte in der Lage sein, individuelle Entwicklungsstände zu erkennen. Zum Verständnis der Lebenssituation einer Person ist es außerdem wichtig, zu wissen, wodurch sich die Interaktionspraktiken in den verschiedenen Sozialisationsinstanzen unterscheiden. Dazu gehören ganz konkrete Kenntnisse über die sozialisatorischen Funktionen von Bezugspersonen, Gruppen und Organisationen. Vor allem aber benötigt man Wissen über die Kompetenz- und Persönlichkeitsentwicklung. Gerade in der pädagogischen Praxis steht man immer wieder vor der Frage, was noch „normal“ und was bereits abweichendes Verhalten ist. Wer sich hier auf seinen gesunden Menschenverstand verlässt, stößt sehr schnell auf Widerstände und Grenzen. Häufig wird dann die Arbeit, die man mit viel Idealismus angefangen hat, zu einer überfordernden Belastung.




Literatur




Grusec, J.E., Hastings, P.D. (Hrsg.) (2007). Handbook of Socialization. Theory and Research.



Im Mittelpunkt des amerikanischen Handbuchs steht die Familie als zentrale Sozialisationsinstanz. Neben den gesellschaftlichen Bedingungen liegen weitere Schwerpunkte in der Darstellung der biologischen Entwicklungsbedingungen und der interkulturellen Aspekte von Sozialisation und Erziehung.



Hurrelmann, K.

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