Auf zum Nullarbor

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Über die Wasserscheide gen Südwesten
03.02.2013: Elmore – Castlemaine: 88 km

In der Nacht träumte ich, dass ich hier in Australien mit Gerd Hausotto an einem Kanal stehe, der beidseitig hoch mit Schilf bewachsen ist. Und während wir uns unterhalten, fährt ein großes Containerschiff an uns vorbei. Wir drehen uns um und schauen ihm hinterher. Aber was steht da in ganz großen Lettern quer am Hinterschiff?

HERMINE VON STAMPA

IN AUSTRALIEN

Ich schaue Gerd Hausotto ganz perplex an. Er schmunzelt. Das große Schiff fährt auf dem Kanal weiter und verschwindet hinter dem Schilf.

Als ich um 4.00 Uhr morgens aus meinem Zelt krabble, mir die Flip-Flops an die Füße stecke und meinen Blick zum Himmel richte, steht ganz klar und deutlich das Kreuz des Südens über mir. Und der Vollmond ist jetzt zum Halbmond geschrumpft. Gestern stand er noch senkrecht am Himmel, heute in der Nacht liegt er wie eine Schale quer am Firmament.

Ich schlief wunderbar. Kein kalter Wind sauste durch mein Zelt. Ich war auch sehr warm angezogen. Um 6.15 Uhr schiebe ich bei Morgengrauen – nein, Morgenröte – mein bepacktes Fahrrad vom Caravan Park. Die beiden netten Frauen, die mich eigentlich verabschieden wollten, schlafen noch. Habe es ihnen nicht angetan, sie zu so früher Stunde aus dem Schlaf zu reißen.

Windstille. Der Himmel färbt sich langsam aber sicher immer intensiver orange. Es radelt sich sehr gut. Kann ordentlich viel Geschwindigkeit machen. Hin und wieder fährt ein Auto an mir vorbei. Als die Sonne den Horizont erklimmt, fotografiere ich sie und radle weiter.

Um 8.00 Uhr erwacht der Wind. Die Wärme der Sonnenstrahlen und die Kühle der Nacht kämpfen miteinander ums Vorrecht. Das schaukelt sich heute langsam hoch. Nun beginnen auch die Vögel – sagen wir, die australischen Elstern – an, zu jubilieren. Diese schwarz-weißen Vögel bewundere ich sehr. Sie können so melodisch flöten, schnalzen, wie zweistimmig jodeln – sagenhaft angenehm zu hören.

Mit diesen Gedankengängen verrinnt die Zeit. Ich sehe beidseitig Stoppelfelder, grasende Schafe und Weinplantagen.

Als ich nach Bendigo einradle, finde ich in der ganzen Stadt auf meiner Durchfahrt einen Fahrradweg. Rennradfahrer fahren in Gruppen oder allein im Sonnenschein auf ihren wertvollen Rädern und in ihren bunten Trikots dahin. Ja, mit so einem leichten Rad könnte ich auch mehr Geschwindigkeit aufnehmen. Aber ich bin mit meinem Dauertempo ganz zufrieden.

Bendigo ist eine hübsche und größere Stadt. Aber ab jetzt geht es „zur Sache“, was das Gelände anbelangt. Jetzt wird es bergig. Zum Glück hatte mir Malte Wiedemann aus Hamburg empfohlen, das ganz kleine Zahnrad vom Hardo-Wagner-Rad an mein altes verkapptes Rennrad von 1985 bauen zu lassen. Damit kann ich nun die sich vor mir auftürmenden Berge gut bewältigen. „Vielen Dank, lieber Malte! Ich nehme an, bei dir hat es von meinen positiven Gedanken in deinen Ohren geklingelt.“

8 km vor Castlemaine werde ich auf eine andere Straße gelenkt. Im nächsten Ort, Harcourt, steige ich vor einem kleinen Geschäft ab, in dem man alles erhalten kann. Ich muss mich erst einmal nach diesen Bergen mit Essen trösten. Hier gibt zu meiner hellen Freude Kartoffelpuffer. Dazu lasse ich mir noch Spiegeleier braten. Und was ich nie tat, aber auf dieser Tour doch, ist, dass ich mir eine CocaCola zum Trinken kaufe.

Die Frau, die das Essen in der Küche herstellt, fängt an, sich mit mir zu unterhalten. Sie ist von meiner Fahrradtour ganz begeistert und erzählt mir, dass ihr Sohn eine Rundfahrt per Fahrrad um Europa gemacht hatte – in drei Monaten. Ich lobe ihn sehr. Das hat er auch verdient. Und als ich diese mich anlächelnde Frau frage, woher ihre Vorfahren nach Australien kamen, erzählt sie mir, dass ihr Vater aus Schottland stammt. Und als ich ihr erzähle, dass ich mit dem Fahrrad in England von Land’s End bis zu Schottlands letztem Haus in John O’Groats geradelt war und dass Schottland so sehr schön sei, ist sie ganz begeistert. Sie nennt mir ihren Vornamen Amanda und bittet um meine Email-Adresse, um sich weiterhin mit mir unterhalten zu können. Und als ich ihr erzähle, dass ich über diese Fahrradtour ein Buch schreibe und sie nun auch darin vorkommt, möchte sie das Buch unbedingt später auch kaufen.

So verlasse ich ganz glücklich und etwas erholt das Geschäft, schwinge mich wieder auf mein schweres Rad und rolle die nächsten acht Kilometer bis nach Castlemaine.

In der Zwischenzeit habe ich auf dem Caravan-Park schon mein Zelt aufgestellt, möchte jetzt in die Dusche gehen und im Zelt meine Brötchen mit dicker Butter und mit Knoblauchzehen belegen, Salz darauf streuen und mit Heißhunger aufessen.

Aber von meiner Butter ist nur noch die Hälfte vorhanden. Trotz des Kältebehälters ist sie darin geschmolzen. Aber es reicht noch für beide mitgebrachten Brötchen. Nun muss ich den Kältebehälter, in dem ich meine Nahrungsschätze transportiere und aufbewahrte, reinigen.

Als ich zu meinem Zelt komme, streunt dort eine junge Katze herum und möchte unbedingt mit in mein Zelt. Das will ich aber nicht und verscheuche sie. Sie kommt wieder. Ich jage sie davon. Als ich dann so richtig schön warm im Schlafsack eingekuschelt in der Dunkelheit liege, wundere ich mich über ein plötzliches, helles Geräusch. Und was ist das? Plötzlich steht die kleine Katze in meinem Vorzelt und schlägt die Krallen ihrer Vorderpfötchen unter lautem Miauen in das Fliegengitter meines Zeltes. Na, da packt mich aber die Wut und schlage mit der flachen Hand dagegen. Darüber erschreckt sie sich so sehr, dass sie tatsächlich ganz verschwindet.

04.02.2013: Castlemaine – Ballarat: 89 km

Um 6.15 Uhr verlasse ich bei 10°C mit Fahrradbeleuchtung den Caravan Park bei Morgenröte und Windstille. Meine Beine haben sich erholt. Der neue Tag kann kommen. Die Kälte kriecht durch meine dünnen Sommer-Fahrradhandschuhe. Die wärmeren hatte ich ja von Perth aus nach Townsville vorgeschickt. Ich beisse die Zähne zusammen. Glücklicherweise friere ich am Oberkörper aufgrund der warmen rosa Jacke nicht. Das Schwitzen von innen nehme ich gern in Kauf.

Wenige Autos fahren zu einer solch frühen Stunde. Der Berufsverkehr beginnt erst gegen 8.00 Uhr. Meine Straße, die 300, lässt sich gut fahren. Für meine Zwecke ist die Ausschilderung auf den Straßenhinweisschildern total ausreichend. Hier brauche ich kein JPS. Hin und wieder flötet ganz kurz eine australische Elster. Aber bei dieser Kälte ist dem Vogel oder den anderen Vögeln nicht nach singen. Total verständlich.

Meine Straße aus Castlemaine führt langsam aber sicher bergauf. Meine Beine haben sich in der Nacht gut erholt und tun ihren normalen Dienst. Und die Schaltung meines Rades kann ich bei steileren Passagen auch gut bedienen. Die Abfahrt ist kurz. Ich fahre auf einem Plateau dahin. Beidseitig breitet sich gelbes Gras aus. Die Straße führt wie eine Allee zwischen Bäumen dahin. Der Morgennebel liegt noch wie Watte rundherum auf der Natur. Weiter entfernt sehe ich andere kleine Bergkuppen. Es macht Spaß, hier zu radeln – bis sich die Straße dann in fast endlose Höhe reckt. Wald und Ruhe umgeben mich, bis mal hin und wieder ein Auto an mir vorbei fährt.

Eigentlich sieht es so aus wie in unseren deutschen Mittelgebirgen, nur stehen hier Eukalyptusbäume statt unserer Birken, Kiefern, Buchen und Eichen. Die Sonne ist schon schon aufgegangen, doch kein Wind erhebt sich. Angenehm. Aber dann geht es mit mir zu Tal. Ich lege mich tief in den Rennlenker und rase mit hoher Geschwindigkeit hinunter. Dadurch, dass ich mich tief nach vorn beuge, schiesse ich fast wie eine Kugel in die Tiefe und kann durch meinen Schwung die nächste sich vor mir auftürmende Steigung mindestens bis dreiviertel ohne zu treten, hochkommen.

Als Daylesford endlich vor mir auftaucht, registriere ich zu meiner linken Seite eine blaue Wand, die sich quer über den Horizont zieht. Was ist das? Handelt es sich um eine kalte Wolkenbank, die vom Indischen Ozean aufs Festland geschoben wird? Werden mich auf der Great Ocean Road Kälte und Regen erwarten? Das wären ja keine angenehmen Aussichten.

In Daylesford brauche ich dringend eine Erholung und setze mich in ein Café, um mir ein Omelett geben zu lassen. Ich friere. Warum? Ich weiss es nicht. Heiße, süße Milch trinke ich wie eine Verdurstende aus. Sie beginnt tatsächlich, mein Inneres aufzuwärmen. Und dann stellt mir die Serviererin das Omelett auf den Tisch. Ich frage sie: „Ist das Dunkle, das wir linkerhand sehen können, eine Wolkenbank?“

„Nein“, entgegnet sie, „das ist ein Gebirgsrücken.“

Nun geht es mir schon wieder entschieden besser. Gut gestärkt nehme ich den Stadtberg in Angriff. Oben steht ein Warnschild vor Schnee und Eis. Die Geschwindigkeit soll angepaßt werden.

Unendlich lange rolle ich zu Tal. Das heißt, dass ich aus dieser Tiefe wieder hinauffahren muss. Das wird mein „tägliches Brot“. Dieses wiederholt sich noch drei- bis viermal. Dann schliesst sich eine längere, flache Strecke an. Aber danach erwartet mich die nächste lange Steigung weit hinauf. Von dort oben schaue ich weit ins bergige Land hinein. Zum Fotografieren mag ich nicht absteigen. Dazu bin ich schon zu müde.

In dieser Höhe kurz vor und nach Creswick erstrecken sich blühende Kartoffelfelder zu meiner linken Seite. Auch das Unkraut, das hier am Wegesrand wächst, sieht heimatlich aus. Nur die Bäume bestehen fast nur aus jungem Eukalyptus. Langsam breitet sich Wärme aus. Mein Thermometer zeigt 21°C. Diese Temperatur passt genau zu den „heimatlichen“ Kartoffelfeldern. Hin und wieder stehen schwarzbunte Kühe auf der Weide. Aber überwiegend züchten die Bauern hier die schwarzen Kühe der Franzosen.

 

Da meine Beine schon recht müde sind, zieht sich die restliche Strecke von 18 km bis Ballarat sehr in die Länge. Bei Ballarat handelt es sich um eine große Stadt. Es dauert noch recht lange, bis ich das Stadtinnere erreiche. Bis dahin ist noch kein Caravan-Park-Hinweisschild aufgetaucht.

Mir geht die morgige Strecke von 125 km nicht aus dem Kopf. Die schaffe ich bei dieser Gebirgslage nicht. Da muss etwas passieren. Ein Bus fährt an mir vorüber in die Stadt. Ob mich einer bis Mortlake mitnimmt?

Nach einer weiteren Zeit des Radelns ins Stadtzentrum finde ich linkerhand ein Hinweisschild zur Tourist-Information. Dem folge ich und trete dort ein. Vier nette Damen bemühen sich per Computer, Telefon und Informationsmappe darum, mir zu helfen, wie ich die Strecke bis Mortlake menschlich zurücklegen kann. Sie rufen bei der Busgesellschaft an. Dort wird das Mitnehmen eines unverpackten Fahrrades abgelehnt. Daraufhin mache ich mich schiebenderweise mit meinem Rad zum ca. 200 m entfernten Busdepot auf und frage am Schalter, ob mich am nächsten Tag ein Bus bis Mortlake mitnimmt. Aber das geht nicht. Diese Busse besitzen keinen Frachtraum unter den Sitzen. Außerdem ist das Mitnehmen eines Push-Bikes gesetzlich verboten. Ich solle wieder zurück zur Information gehen und nachsehen lassen, ob es nicht doch einen kleinen Caravan-Park unterwegs gibt.

Ich betrete wieder die Information. Die netten Damen stürzen alle gleich fragenden Blickes auf mich ein. Sie informieren sich im Internet über Skipton, ob es dort eine Bleibe gibt. Gibt es, aber entschieden zu teuer. Da kommen sie auf die Blitzidee, dass ich ja ein kleines Zelt besitze, das dort auf dem Rasen neben dem Golf-Platz aufgestellt werden darf. Eine famose Idee! Das werde ich morgen machen. Auf diese Weise ist die lange Strecke bis Mortlake in zwei menschlich fahrbare Etappen geschnitten.

Nun brauche ich hier in Ballarat eine günstige Bleibe. Im Western Hotel kann ich am Günstigsten wohnen. Die eine Dame meldet mich dort an und zeichnet mir auf dem hiesigen Stadtplan die Route auf, die ich entlanggehen muss, um dort anzukommen.

Zum Radeln habe ich beim besten Willen keine Lust mehr. Nach einer Fahrradtour verlangt mein Körper immer nach Ruhe. So schiebe ich mein Rad in die richtige Richtung. Da sich die Querstraße immer noch nicht zeigt, spreche ich eine Frau an. Sie wohnt noch hinter dem Western Hotel und will mich dorthin bringen. Das tut sie auch, während sie mir erzählt, dass ihre Tochter das Weihnachtsfest und Silvester in Deutschland bei einer hier in Australien kennengelernten Deutschen ganz glücklich verbrachte. Deutschland ist sehr schön.

Im Western Hotel nimmt mich der junge Wirt ganz liebenswürdig in Empfang. Er schenkt mir eine CocaCola, die ich in einem Zug wie eine Ertrinkende austrinke. Danach zeigt er mir mein Doppelzimmer, das ich allein bewohnen darf und von hier oben, wie ich über den Hinterhof hinunter zu meinem dort abzuschließenden Fahrrad gelange, ohne durch den Gastraum meine vielen Packtaschen schleppen zu müssen.

Bald befindet sich alles hier oben und mein Rad abgeschlossen auf dem abschließbaren Hinterhof. Nun muss ich mich aber beeilen; denn ich bin mit Gudrun in Spanien per Skype um 17.00 Uhr für das nächste Video für facebook verabredet. Aber das schaffe ich nicht mehr. Mit einer halben Stunde Verspätung holen wir es nach. Das Video wird durch Gudruns Computer aufgenommen. Sie wird es dann morgen ins facebook stellen.

Meine Emails beantwortet, meinen Kurzbericht und mein Tagebuch nun auch geschrieben, kann ich mich duschen und ins weiche, breite Bett legen. Da ich morgen nur 52 km zu fahren habe - wer weiss, wie bergig diese Strecke ist - brauche ich nicht schon um 6.00 Uhr zu starten. Ich bin total kaputt!

05.02.2013: Ballarat – Warnambool: 21 km

Während ich splitterfasernackt im Waschraum vor den Duschen stehe, geht plötzlich die Tür auf und ein tätowierter, mitteljunger Mann möchte herein.

„Huch!“, sage ich, „uno momento. Sie können gleich hereinkommen.“

Die Tür geht zu. Ich schlüpfe ganz flott in meinen Pyjama und lasse den Mann eintreten.

„Sorry“, meint er ganz verschämt.

„Ach, das ist schon ganz okay so“, erwidere ich.

Kurz darauf ist er wieder verschwunden und ich bald danach auch, um mich anzuziehen. Dabei fällt mir meine gestern getragene Fahrradgarderobe in die Hände. Nun weiß ich auch, weshalb ich gestern so fror. Meine wärmere Fahrradhose und die wärmeren Fahrradshorts sind noch schweißnass. Darum muss ich heute die ganz dünne lange Fahrradhose samt der ganz dünnen kleinen Fahrradunterhose tragen.

Bald trage ich meine Taschen nach draußen in den Hof zu meinem dort abgeschlossenen Fahrrad. Es sind nur 12°C. Aber die stören mich heute nicht, vielleicht nur an den Händen aufgrund meiner dünnen Sommerhandschuhe.

Um 6.15 Uhr rolle ich vom Hof und auf die mir von meinem Wirt aufgemalte Straße, die mich zum Glenelg-Highway bringt, auf dem ich heute nach Skipton radle, um dort die Nacht wild zeltend in deren Park zu verbringen. Es ist diesig und kühl. Zu dieser Zeit fahren nur ganz wenige Autos auf der Straße entlang.

Es dauert eine ganze Zeit, bis ich auf diesen Highway stoße. Dann geht es gen Westen. Hier rollen schon allerhand Trucks und Road Trains entlang. Aber für mich steht ein Seitenstreifen mit einer sehr glatten Oberfläche zur Verfügung. Es rollt sich gut. Die Autos fahren noch alle mit Licht. Ist es nun neblig oder diesig? Ich weiss es nicht. Meine Hände frieren. Zum Glück besitze ich ja die neue rosa Jacke. Darin ist mir pudelwarm.

Als ich so dahinradle, hupt von hinten ein Truck. Huch, denke ich. Was will der denn? Ich radle doch artig auf dem Seitenstreifen. Aber der Truck hupt nicht nur dreimal, sondern fährt langsam neben mir her und rechts auf einen freien Platz. Heraus steigt der Truckerfahrer, der heute früh in den Waschraum kam, als ich dort gerade stand.

Er fragt mich lächelnd: „Darf ich dich bis nach Warnambool mitnehmen? Unser Wirt erzählte mir von dir und dass du auf dem Weg nach Warnambool bist.“

Ich bin glücklich und platt. Na, da sage ich natürlich nicht „nein“. Dieser Mann ist so stark, dass er mein bepacktes Rad - bis auf die Lenkertasche und die beiden kleinen Lowrider-Taschen, die ich vorher abnahm - hoch auf seinen Anhänger heben kann. Das hätte ich nie für möglich gehalten! Ich lobe ihn. Er lächelt. Dann hilft er mir mit meinen beiden kleinen Lowrider-Taschen und meiner Lenkertasche vorn auf den Beifahrersitz und fährt mit mir durch die frühen Morgenstunden. Bald hebt sich der Nebel. Die Sonne kommt durch. Das Gelände wird langsam flacher.

Wir beide unterhalten uns prima. Auf diese Weise lerne ich. wie es kommt, dass die australischen Bäume nach einem Waldbrand wieder wachsen. Hin und wieder stehen beidseitig verkohlte Eukalyptusbäume, die aber alle ein dichtes Blätterdach aufweisen. Ich frage ihn: „Wie kommt das? Wenn bei uns in Europa die Baumrinde verbrannt oder rundherum beschädigt ist, stirbt der Baum unweigerlich, weil zwischen der Rinde und dem Holz die Säfte von den Wurzeln bis in die Blattspitzen transportiert werden. Wenn dieser Weg unterbrochen wird, stirbt er.“

„Ja“, antwortet mein männlicher Engel. „Bei diesen Bäumen hier wird der Saft von den Wurzeln bis zu den Blattspitzen in der Mitte des Baumstammes befördert. Deshalb überleben sie die Hitze und das Feuer.“

Ich bin sprachlos. „Das habe ich noch nie gehört. Hier hat der liebe Gott eine ganz andere Sorte Bäume wachsen lassen.“

„Jason, bei Euch in Australien sind alle Preise so schrecklich hoch. Wie könnt ihr das eigentlich bezahlen? Oder seid ihr alle so reich?“

„Man sollte keine Urlaubsreisen oder Fahrradtouren unternehmen, immer zu Hause bleiben, sein Essen selbst kochen, möglichst einen eigenen Garten für Gemüse haben und wenn es geht, seine Garderobe selbst nähen und stricken.“

Das ist wie: Zurück in die Vergangenheit, Jason.“ - „Ja.“

Wir sehen vor uns kleine Berge, auf denen vereinzelt Bäumen stehen. Jason erzählt: „Eigentlich waren die Berge kahl. Aber die Vögel verteilten mit ihrem Dung die unverdauten Samenkörner überall wie auch auf diesen Bergen. Deshalb wachsen dort Bäume. Die Vögel ersetzen die Gärtner. – Und wo willst du nun ab morgen entlangfahren? Du solltest unbedingt die Möglichkeit in Geelong nutzen und mit der Fähre nach Tasmanien fahren. Dort kannst du dir diese einmalig wunderschöne Insel ansehen. Später würde es dir leid tun, es nicht getan zu haben.“

Mit dieser neuen Möglichkeit im Kopf, meine Fahrradtour in Australien zu bereichern, sitze ich träumend neben ihm. Er reicht mir seinen Auto-Straßenatlas von Tasmanien. „Sieh dir das mal genau an und mache es auch!“

Wir unterhalten uns prima. Unterwegs wird abgeladen und weitergefahren. Mittags erreichen wir bei strahlendem Sonnenschein und einem Blick hinüber auf den blauen Indischen Ozean Warnambool. Bei der Hauptstraße hält mein Engel und holt mir mein Rad herunter. „Das ist ja ganz schön schwer“, meint er anerkennend.

„Ja, ich weiß. Vielen Dank, dass du mich bis hierher mitgenommen hast. Als Dank erhältst du dann ein Buch, das ich über diese Fahrradtour schreibe und ins Englische übersetzt habe. Denn schließlich wirst du nun auch darin verewigt.“

Darüber freut er sich sehr und reicht mir seine Visitenkarte. Er erhält auch eine von mir, falls eine von beiden verloren gehen sollte. Und plötzlich rollt hupend „mein Truckerfahrer“ weiter. Habe ihm noch lange nachgewinkt und er zweimal gehupt.

Ich habe Hunger, kaufe mir Sushi und Obst und esse. Das nächste Problem steht an: Wo kann ich heute mein Zelt aufbauen oder schlafen? Die Jugendherberge von vor zwei Jahren gibt es nicht mehr. Beim Backpacker Hotel nimmt niemand den Hörer ab. Ich soll mal gleich dahin gehen. Es sei nicht weit. Aber ich finde es nicht und frage eine andere freundliche Frau. Sie verweist mich an den Caravan-Park an der Küste. Der steht auf meinem Stadtplan samt Telefonnummer. Weil ich die Frau am anderen Ende dort nicht verstehe, bitte ich diese freundliche Frau, doch das Gespräch zu führen. Das übernimmt sie und zeigt mir ganz genau, wie ich dorthin komme; denn ich befinde mich ja schon am Lake Pertobe.

Es ist nicht mehr weit. So rolle ich dort hin und erhalte einen Stellplatz für mich. Ein Angestellter, der für Sauberkeit sorgen soll, sieht mich auf diesem Platz stehen und wundert sich, warum ich immer nur auf die Erde blicke. Er kommt mit seinem kleinen Fahrzeug angefahren und erkundigt sich bei mir: „Warum willst du dein Zelt denn nicht aufstellen?“

Da zeige ich ihm die unebenen großen Sandflächen und das unebene Gelände. „Nein, hier kann ich mein Zelt nicht aufstellen.“

Er möchte mir helfen; denn er ist von mir begeistert, weil ich mit dem bepackten Fahrrad hier fahre. Er radelt auch mit Begeisterung. Und als er hört, dass ich aus Deutschland bin, erzählt er mir stolz, dass er dort zwei Fahrradfreunde besitzt, die sogar an der Tour de France teilgenommen hatten.

Dann besinnt er sich meines Problems und verspricht mir, mit mir gemeinsam auf diesem großen Caravan-Park für eine Nacht einen richtig guten Grasplatz auszusuchen. Und den finden wir auch. Es geht mit dem kleinen Fahrzeug zurück zu meinem Rad. Mein Gepäck wird aufgeladen und ich darf vor ihm zu dem neuen kleinen Domizil fahren. Dort bedanke ich mich bei ihm. Er will bei der Rezeption meinen neuen Standplatz bekannt geben. Und dann verschwindet er winkend.

Da ich vorgestern zu spät meine Garderobe gewaschen und aufgebummelt hatte, wurde sie bis zum Morgen nicht trocken, weshalb ich die dünnen Sachen anziehen musste. Das soll mir nicht noch einmal passieren. Ab heute wird der Nachmittag anders verbracht: Zelt aufbauen, alle Sachen hineinstellem, duschen, Wäsche waschen, sie aufhängen, essen, dann am PC alle meine Emails beantworten und mein Tagebuch schreiben.

Aber bevor ich meinen kleinen Laptop in Aktion setze, gehe ich zuerst an den Indischen Ozean und fotografiere ihn. Da liegt er vor mir in seiner ganzen Schönheit mit hellblauem Wasser und mit Schaumkronen bestückten Wellen, die ans Ufer rollen. Surfer liegen in der Brandung auf ihrem Surfbrett und reiten die Wellen ab. Ein traumhafter Anblick, dieser Ozean!

So, nun endlich mache ich mich ans Schreiben. Fast zwei Stunden sitze ich daran. Muss noch für meine Freunde ein Foto von meinem Zelt auf diesem Campingplatz anfertigen. Sie denken sonst, dass das überhaupt nicht stimmt, was ich geschrieben und gesagt habe.

 

Ich bin nun satt und müde und lege mich schlafen. Die Brandung rauscht bis hierher. Der Wind wird wohl wieder durch mein Zelt pfeifen. Muss mir vorsichtshalber alle meine dicken Sachen übereinander anziehen, um in der Nacht nicht zu frieren, wenn dann die antarktische Luft hier Einzug hält.