Trost

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Der lange Weg zum Trost

HG: „Wann sind wir endlich da?“ Wer kennt nicht diese ungeduldigen, fast vorwurfsvollen Fragen der Kinder vom Rücksitz des Autos? Alle Tricks müssen aufgeboten werden, um die jungen Quälgeister zu vertrösten. Aber was tun oder sagen, wenn es nicht um das Erreichen des Ziels von einem Tagesausflug geht, sondern um wirklich existenzielle Fragen? Wirklichen Trost gibt es nicht auf Knopfdruck. Es ist meist ein längerer Prozess mit mehreren Phasen, die durchlaufen werden müssen. Das Wichtigste ist die Bereitschaft, einen Weg mit jemandem zu gehen. Trösten ist das Begleiten zu einer Antwort, die jeder Mensch für sich selbst finden muss. Es gibt nicht die allgemeine Trostformel, die wie ein Allheilmittel in jedem Fall einzusetzen ist.

ML: Wenn man nach dem Weg des Trostes fragt, dann stößt man unweigerlich auf die Phasen der Trauer von Elisabeth Kübler-Ross. Diese Phasen hat sie mit Leugnen, Zorn, Verhandeln, Depression und Akzeptanz bezeichnet. Beim Trösten müssen wir also die betroffene Person auf einem längeren Weg begleiten.

Die erste Phase ist in erster Linie vom Versuch der Selbstrekonstruktion geprägt. Es soll alles so werden, wie es war – obwohl wir wissen, dass dies nicht möglich ist. In diesem Sinn wird zuallererst versucht, sich mit einer Illusion zu trösten. Als Tröster müssen wir dem Trauernden vorerst diese Illusion lassen, ohne ihn jedoch darin zu bestärken.

Wenn der Trauernde merkt, dass die Illusion nicht aufrechtzuerhalten ist, versucht er es quasi mit der Brechstange. Das ist die Phase des Zorns. Man versucht, den alten Zustand in bizarrer Weise mittels Aggression durchzusetzen. Auch da ist der Tröstende gefragt, die Aggressivität auszuhalten, ja sogar zu verstärken. Es spricht einiges dafür, dass diese Phase schneller vorüber ist, wenn man sie sich zugesteht. Bald zeigt sich, dass es so nicht geht.

Es beginnt die Phase des Verhandelns. Hier ist man als Begleiter besonders gefragt. Es ist unbedingt wichtig, die Fragen des verletzten Menschen im Gespräch zu spiegeln, weniger zu beantworten. „Wonach fragst du eigentlich, wenn du mir diese Frage stellst? Darum geht es!“

Wenn in dieser Phase endgültig klar geworden ist, dass es unmöglich ist, den Anlassfall der Trauer rückgängig zu machen, beginnt die Phase der Depression. Hier ist es für den Trauernden wichtig, jemanden an seiner Seite zu haben, denn in diesem Stadium sind Menschen besonders existenziell bedroht. Man hängt gleichsam total in der Luft. Auch Suizide können vorkommen, wenn es an Begleitung fehlt.

Ist jedoch ein Du erreichbar, kann es zur Akzeptanz kommen. Die Akzeptanz ist ein Zeichen, dass man sich mit der neuen Wirklichkeit angefreundet hat und dass einen diese neue Wirklichkeit zumindest ansatzweise auch trägt. Man fühlt sich getröstet – geheimnisvoll, fast wie durch ein Wunder.

HG: Der Weg zum Trost beginnt in jedem Fall mit einem verbindlichen Zuhören. Es geht um eine höchst aktive Passivität, ein Aushalten und Zulassen von allem, was der jeweilige Mensch mitbringt, was ihn bedrängt und in die Verzweiflung treibt.

Der alttestamentliche Ijob, der von allen erdenklichen Schicksalsschlägen heimgesucht wurde, warf seinen Freunden vor, dass sie „leidige Tröster“ seien. Sie kamen zu ihm, um zu trösten, aber es fehlte ihnen an Zuhör-Kraft und Empathie. Das Unerklärbare des Leids hat sie dermaßen verunsichert, dass sie dem geschundenen Ijob auch noch eine persönliche Schuld an seinem Elend unterstellten. Sie wollten erklären, was nicht zu erklären ist. Und anstatt zu trösten, machten sie ihm Vorwürfe. Einzig und allein Zuhören wäre im Leid notwendig gewesen.

ML: Dass Zuhören als solches schon heilsam ist, weiß auch die moderne neurobiologisch fundierte Psychotherapieforschung. Beim Zuhören entsteht Bindung. Diese regt neurobiologisch die Neubildung von Nervenzellen in gedächtnisrelevanten Hirnarealen an, welche uns in die Lage versetzt, unsere Probleme zu lösen. Probleme zu haben bedeutet Stress, manchmal sogar pathologischen Stress, weil er mit der Angst verbunden ist, die anstehenden Probleme nicht bewältigen zu können. Stress mit Zuversicht ist gut. Stress mit Angst ist jedoch schädlich, denn er führt – über den erhöhten Stresshormonspiegel – zu einer Einschränkung der Kreativität, die man zur Problemlösung braucht. Bindung beruhigt und kann Patienten in die Lage versetzen, ihre Probleme zu lösen.

HG: Ich möchte von einem wirklichen Meister des Zuhörens, meinem Freund Marco Blumenreich, erzählen. Der heute 50-jährige Psychotherapeut ist mit einer angeborenen Schwäche des Sehnervs zur Welt gekommen und kann sich sein Leben lang nur an vagen Lichtkonturen orientieren. Er erzählt, dass seine Kindheit wie in einen Tränenschleier gehüllt war. Seine Eltern waren mit ihm, dem nahezu völlig blinden Kind, überfordert und wurden sogar gewalttätig. Mit 16 Jahren setzten sie ihn rücksichtslos auf die Straße. Über die drei schrecklichen Jahre der Obdachlosigkeit erzählt er kaum etwas, nur so viel, dass er sich entschlossen hat, seinen Eltern zu vergeben, um selbst überleben zu können. Mit 19 Jahren besuchte er schließlich eine Abendschule und holte die Matura nach. Es folgten eine Ausbildung zum Heilmasseur und ein Studium der Psychologie. Heute ist Marco Blumenreich ein erfolgreicher Therapeut in freier Praxis. Menschen, die ihn aufsuchen, sind von seiner Art des Zuhörens überwältigt. Nicht nur sein persönliches Durchleiden von Trostlosigkeit hat seine empathische Fähigkeit gesteigert, sondern auch seine Blindheit.

ML: Der Zuhörer ist also geduldig. Nur so kann er ein guter Tröster sein. Der Zuhörende kann mehr über die Person verstehen, der er zuhört, als diese über sich selbst. Denn er hört zu – er hört nicht nur. Es gibt eine Zuwendung, die man nur von anderen bekommen kann, zu der man selbst nicht fähig ist. Wir werden, wie es so schön heißt, nur durch das Du zum Ich. Der Geburtsprozess von unserem eigenen Ich wird durch das Zuhören eines Anderen gefördert. Der Zuhörer ist gleichsam die Hebamme. Solche Erfahrungen haben wir alle schon gemacht. Es hört uns jemand zu, und wir kommen selbst auf die Lösung, auf die wir, ohne dass uns jemand zugehört hätte, nicht gekommen wären.

HG: Wichtig ist, dass die tröstende Person alle eigenen Vorstellungen loslässt, vor allem keine vorschnellen Lösungen anbietet und dadurch unbeabsichtigt manipuliert. Die möglichst ungeteilte Aufmerksamkeit zählt, oft nur das Da-Sein. Vor allem ist es wichtig, sich vor Verharmlosungen und Dramatisierungen zu hüten, ganz speziell vor „üblichen“ Trostformeln und leeren Sprüchen: „Wird schon werden!“ „Kopf hoch!“ „Da müssen alle durch!“ Diese und ähnliche Sager erzeugen eher Stress und sind nicht hilfreich. Für den trauernden Menschen muss sich „ein sicherer Platz“ auftun, wo er den angemessenen Ausdruck für seine Trostlosigkeit finden kann.

ML: Aus der Trauerarbeit, die manchmal eine existenzielle Radikalität besitzt, die erschaudern lässt, entwickelt sich letztlich erstaunlich leise, aber bestimmt und klar eine neue Zuversicht. Noch einmal dürfen wir staunen, wie wenig und gleichzeitig viel dabei zu tun ist. Die Absicht des vermeintlich Tröstenden kann der Wunsch sein, eine Situation zu verändern, weil sie nicht erträglich scheint. Aber oft wäre das einfache Aushalten, nicht das Lösen des Problems, trostreicher. Es kann auch vorkommen, dass ein trauernder Mensch innerlich schon weiter ist als die Person, die sich zum Trösten berufen fühlt. Trost ist mit der Erfahrung verbunden, einfach sein zu dürfen und nichts und niemandem etwas beweisen zu müssen.

HG: Durch ein „hörendes Gespräch“ soll die zu tröstende Person die Gewissheit gewinnen, ernst genommen zu werden und auch wiederkommen zu dürfen. Auch Gesten sind wichtig. Es ist wichtig, sich selbst, dem tröstungsbedürftigen Nächsten und der Situation gegenüber treu zu bleiben. Möglicherweise steht ein längerer Weg bevor. Das Wort Trost hängt ja nicht zufällig etymologisch mit dem indogermanischen Wortstamm „treu“ zusammen und bedeutet „Festigkeit“, Verlässlichkeit, auch „seelischer Halt, Zuversicht und Ermutigung im Leid“.

Wer tröstet wen?

ML: Als ich 19 Jahre alt war, entschied ich mich, nach der Matura als Volontär in einer katholischen Missionsstation im südindischen Chennai mitzuarbeiten. Die Station befand sich mitten in einem Slum und erfüllte viele Aufgaben. Neben einem kleinen Spital mit einer relativ großen Ambulanz gab es unter anderem eine Leprastation und ein Internat für Kinder, die von ihren leprakranken Eltern abgesondert wurden. Teil der täglichen Arbeit war eine Ausspeisung für die in der unmittelbaren Umgebung lebenden Ärmsten der Armen. Verwaiste Kinder und Jugendliche, die als Bettler in der Stadt ihr Leben fristeten, fanden in unserem Zentrum eine Wohnstatt und bekamen die Möglichkeit zu einer Berufsausbildung. Für diese speziellen Kinder und Jugendlichen war ich zuständig. Ich musste mich um alle ihre Belange kümmern – vom Aufstehen bis zur Bettruhe. Ich war quasi der Elternersatz. Auf diese Weise lernte ich sehr viele Menschen kennen, kam mit ihren Schicksalen in Berührung und war von vielen Begegnungen tief berührt. Obwohl ich bei dieser Betreuungsarbeit nichts verdiente, kam ich immer mehr zur Einsicht, dass diese Menschen in Südindien mir wesentlich mehr gegeben haben, als ich für sie tun konnte. Ich fühle mich heute noch, nach so vielen Jahrzehnten, von ihnen reich beschenkt.

HG: Solche Erfahrungen sind sehr kostbar. Ähnliches kann ich von einem Wohnhaus der Caritas in Graz erzählen. Von außen betrachtet war es eine Ansammlung biografischer Katastrophen, ein letztes Refugium meist alkoholkranker Menschen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Dennoch war der soziale Zusammenhalt in diesem scheinbar chaotischen Haus trotz der Unruhe und der vielen Grobheiten, die es auch gab, um vieles stärker als in jedem bürgerlichen Mehrparteienhaus. Eine an Parkinson erkrankte Bewohnerin wurde ganz selbstverständlich von den Mitbewohnerinnen betreut. Das, was ich in diesem Haus an ungeschminkter und oft auch humorvoller Lebenserfahrung „mitbekommen“ habe, war bei weitem mehr als das, was ich als Pfarrer den Leuten geben konnte. Nahezu bei jedem Todesfall gab es einen Gottesdienst mit einer ehrlichen, aber würdigenden Trauerrede von jemandem aus dem Haus, gefolgt von einem ausgezeichneten Essen. Ja, es stimmt: Die Leute, die am sozialen Existenzrand der Gesellschaft gelandet sind, haben mich gestärkt. Es war eine Schule bei den Armen. Jede Form der Überlegenheit ist unangebracht, weil wir alle trostbedürftig sind und einander brauchen.

 

ML: Ähnliches beobachte ich, wenn schwer kranke Menschen, die an der Schwelle ihres Todes stehen, von ihren Freunden und Angehörigen besucht werden. So sehr die Besucher auch Hoffnung ausstrahlen möchten, so wenig gelingt ihnen das. Man spürt die Verzweiflung und Trauer. Und so kommt es nicht selten vor, dass die Betroffenen selbst in die Rolle kommen, die Besucher, die eigentlich die Tröster sein sollten, zu trösten. Wer also tröstet wen? Wir brauchen einander. Im lateinischen Wort consolatio und im englischen comfort für Trost ist dieses Mit-Sein schön ausgedrückt.

HG: Den entscheidenden Satz, der uns aus einer Trauer oder Verzweiflung herausführen kann, können wir uns meist nicht selbst sagen. Ich habe bis heute den Klang der Worte meiner Eltern in mir: „Beruhige dich, alles wird gut!“ Dazu gehörte ein Umarmt-Werden, kurzes Streicheln, ein wenig Kuscheln – und die Welt war für mich als Kind wieder in Ordnung. Damit wurde die Basis meines Urvertrauens ins Leben geschaffen. Leider können nicht alle Menschen auf ein solches Lebensfundament bauen, ihr eigenes fühlt sich oft brüchig und instabil an. Sie werden vom Gefühl getrieben, dass alles schiefgehen oder in einem großen Malheur enden wird.

ML: Tröstung passiert durch gegenseitige Begleitung. Sie ist ganz wesentlich ein liebevolles Dabei-Sein und entzieht sich weitestgehend der professionellen Kompetenz. Freilich ist es so, wie man es bei einem genialen Pianisten erlebt. Er spielt, als würde er sich nicht anstrengen müssen. Er vermittelt, dass er einfach gern spielt und mit dem Instrument und der Musik eins ist. Alle Zuhörenden wissen aber, dass unendlich viele Stunden der Übung dafür notwendig waren. Wer wirklich trösten will, muss auch mit sich selbst schon gerungen haben …

HG: … und selbst schon einiges durchgemacht haben. Ich denke an einen befreundeten Künstler und Lehrer, der nach einem alkoholbedingten biografischen Desaster zwei Jahre in New York als Obdachloser dahinvegetiert hat. Seine schmerzhaften Erfahrungen führten bei ihm zu einer beeindruckenden Sensibilität gegenüber Menschen mit unterschiedlichsten Abhängigkeitserkrankungen. Er weiß, was es bedeutet, wenn durch eigenes Versagen Ehe und Familie zerbrechen, die Karriere scheitert und sich das ganze Leben nur mehr wie ein Scherbenhaufen anfühlt. Durch das Programm der Anonymen Alkoholiker hat er sich ins Leben zurückgekämpft. Er landete schließlich in Graz, wo er in unserem Pfarrhof wohnte. Ich durfte miterleben, wie viele Menschen er gerade mit seinem „verwundeten Herzen“ trösten konnte – auch mir hat er Hoffnung gegeben. Ich weiß, dass es auch nach dem schlimmsten Scheitern eine Chance für einen Neuanfang gibt.

ML: Das ist überhaupt die beste Übung für das Leben: selbst von etwas betroffen gewesen zu sein! Man muss nur aufpassen, dass man die eigene Erfahrung nicht ungefragt und unreflektiert auf den Anderen projiziert. Ich kann mir aber keinen Priester oder Psychotherapeuten vorstellen, der kompetent ist und nicht eigene Leidenserfahrungen als „Grundwissen“ mitbringt. Die Krisen sind die Geburtsmomente des Menschen.

HG: Krisen erschüttern bisherige Gewissheiten und stellen Gewohnheiten infrage. Sie lassen Sicherheiten zerschellen. Möglicherweise ist eine derartige Erschütterung auch ein Weckruf, eingefahrene Bequemlichkeiten aufzugeben und den Wert des Lebens mit neuer Dankbarkeit anzunehmen. Grundsätzlich betrachtet ist eine Krise jener ambivalente Zustand, in dem etwas an Bedeutung verliert oder verschwindet, das Neue aber noch nicht da ist. In diesen sensiblen Situationen sind Zuspruch und Begleitung besonders kostbar. Ein guter Trost ist wie eine Gehhilfe nach einer Beinoperation. Nach dem Bruch ist zwar alles wieder zusammengefügt, aber die Stärke zum selbständigen Gehen noch nicht vorhanden.

ML: Aber das Gehen muss die durch Krisen erschütterte Person selbst wieder erlernen. Der tröstende Begleiter ist, mit einem anderen Bild gesprochen, so etwas wie ein Rettungsring, der dem Ertrinkenden zum Überleben hilft. Schwimmen muss die betreffende Person selbst. Die Kunst ist zu verstehen, wann der Mensch in der Krise fähig ist, auch ohne den rettenden Ring zu schwimmen. Das ist das Ziel.

HG: Ja, wir sollten einander immer auch Ermöglicher von Freiheit sein. Durch das Trösten können leicht Abhängigkeitsverhältnisse aufgebaut werden, die Menschen in eine Unselbständigkeit drängen und damit eher lähmen. In diesem Fall, etwas scherzhaft bemerkt, brauchen auch die Tröster einen Trost. Sie müssen zur Erkenntnis ermutigt werden, dass sie nicht mehr wichtig sind. Wirkliches Trösten ist eine Ermächtigung zur Eigenverantwortung.

ML: Selbstverständlich brauchen die „gelernten“ Tröster immer wieder auch selbst Trost. Niemand kann nur aus den eigenen Quellen leben. Das bereits erwähnte Prinzip des Du, aus dem das Ich entsteht, bleibt eine immerwährende Wahrheit, nach der wir leben müssen. Nur wenn wir bereit sind, uns auch selbst trösten zu lassen, reichen die Länge unseres Armes und der Resonanzraum unseres Herzens längerfristig und verlässlich zum anderen hin.

HG: Das Angebot einer Vielzahl therapeutischer und seelsorglicher Berufe ist für den Tröstungsbedarf in der heutigen Zeit von enormer Bedeutung. Dennoch hat jeder Mensch den Auftrag und die Fähigkeit, seinen Nächsten zu trösten. Diese „selbstverständliche Pflicht“ dürfen wir nicht zu rasch an Profis delegieren, bleibt doch die wesentliche Basis der „Kunst des Tröstens“ der von uns allen geforderte Mut zur Begegnung mit Trostsuchenden in einer ganz natürlichen Offenheit.

II WAS MACHT UNS TROSTLOS?

Wenn Gott uns heimbringt

aus den schlaflosen Nächten,

aus dem fruchtlosen Reden,

aus den verlorenen Stunden,

aus der Jagd nach dem Geld,

aus der Angst vor dem Tod,

aus Kampf und aus Gier,

wenn Gott uns heimbringt, das wird ein Fest sein!

Es werden lachen nach langen Jahren der Armut,

die Hunger gelitten.

Es werden singen nach langen unfreien Nächten,

die von Mächten gelitten.

Es werden tanzen die Gerechten,

die auf Erden kämpften

und litten für eine bessere Welt!

Wenn Gott uns heimführt, das wird ein Fest sein!

Den Verirrten werden die Binden von den Augen genommen.

Sie werden sehen.

Die Suchenden finden endlich ihr Du.

Niemand quält sich mehr mit der Frage „Warum?“

Wenn Gott uns heimführt, das wird ein Fest sein!

Ein Fest ohne Ende.

Martin Gutl, Er führt uns heim (gekürzt)

Überwältigende Trauer

HG: Trauer kann Menschen gänzlich überwältigen, manchmal sogar in die Verzweiflung treiben. Ich erinnere mich an ein Trauergespräch mit einem Vater, dessen Sohn bei einem Lawinenabgang tödlich verunglückte. Der junge Mann wollte seinen Freunden seine Kenntnisse über das Verhalten in lawinengefährdeten Zonen vermitteln und kam dabei selbst ums Leben. Ein wahnsinniger Schock für alle Beteiligten, die aus der Lawine geborgen werden konnten, und für die Familie. Unser gebrochenes Gespräch unter Tränen hatte noch nicht lange gedauert, als der Mann plötzlich aufsprang, zu meinem Bücherschrank ging und darauf mehrmals mit seiner Faust einschlug. „Dieser Wahnsinn, ich halt das nicht aus, dieser Wahnsinn!“ Mit den Schlägen und mit diesen Worten hat er seine Trauer herausgeschrien.

ML: Zum Glück hast du ihm die Freiheit für diese Äußerung seiner Trauer zugestanden. Jeder Mensch trauert auf seine Weise. Echter Trost muss zur Trauer verhelfen, ihr einen Raum bereiten und sie keinesfalls abwürgen.

HG: Ja, es ist auch meine Erfahrung, dass Trauer Zeit braucht. Sie unter einer zu schnellen Beherrschtheit oder scheinbaren Glaubensstärke zu verstecken, rächt sich früher oder später. „Ein Jahr musst du trauern, dann musst du dich wieder freuen!“ Die Pointe dieses eigenwilligen Sprichwortes ist das befremdliche Müssen. Wir wissen, dass sich weder Trauer noch Freude verordnen lassen. Und dennoch ist es eine tiefe Weisheit, dass beides sein muss – und seine Zeit braucht. Im Jüdischen gibt es den Brauch, dass zur „Jahrzeit der Beerdigung“ zu Hause eine Kerze entzündet wird. Ähnlich sind bei uns die Gottesdienste zum Jahrtag. Wenn Trauer nicht stattfindet, legt sich ein dunkler Schleier auf die Seele, der …

ML: … alles Leben abtötet, vergleichbar mit einer dunklen Plane, die über eine Wiese gelegt wird. Die Grashalme darunter werden gelb und können nicht mehr wachsen. Wenn die Plane jedoch entfernt wird, kann nach einiger Zeit wieder frisches Gras wachsen. Die Trauer hat, wie du sagst, viele Gesichter. Sie hat nicht nur das Gesicht der Tränen, sondern kann sich etwa auch in Aggression, Ängsten oder in einer Verbitterung ausdrücken.

Natürlich ist zu beobachten, dass sich bei manchen Menschen auch nach langer Trauer keine neue Lebensfreude einstellen will. Wenn Trauernde den Verlust nicht akzeptieren, also einfach nicht loslassen wollen, kommt der Trauerprozess zu keinem Ende.

„Ein Jahr musst du trauern, dann musst du dich wieder freuen“ – das ist auch so etwas wie eine ermutigende Handlungsanweisung für Trauer. Auch wenn wir es uns vielleicht nicht vorstellen können: Wir werden uns wieder freuen und lachen können. Zum Schluss der vollzogenen Trauer wartet nämlich der „gelungene“ Abschied.

HG: Tränen können auch eine reinigende Wirkung haben, etwas wegwaschen, was die Seele belastet. Ich erinnere mich an einen schweren Verkehrsunfall meines Vaters während meiner Studienzeit in Tübingen. Er ist auf der winterlichen Bergstraße, die zu unserem Hof führt, ins Schleudern gekommen und die Böschung hinuntergestürzt. Wie durch ein Wunder hat er den Unfall überlebt, aber aufgrund innerer Verletzungen wäre er einige Zeit später dennoch fast verstorben. In dieser kritischen Phase ist mir bewusst geworden, dass ich mich nicht selten in kleinlicher Weise von meinem Vater distanziert habe, sein Auftreten war mir manchmal sogar peinlich. Heute sehe ich das vollkommen anders. Als ich nun von seinem kritischen Zustand auf der Intensivstation erfuhr, musste ich spontan weinen. Plötzlich stand mir meine eigene Lieblosigkeit vor Augen. Die Tränen waren heilsam und befreiend – gerne erinnere ich mich an die freudige Umarmung, als wir uns nach seiner Genesung wiedergesehen haben.

ML: Die Trauer ist ein Gefühl. Als Gefühl ist sie eine Information an uns selbst und auch an andere. Sie informiert, dass wir etwas, das uns existenziell wichtig war, verloren haben, letztlich, dass wir uns verloren haben.

In deinem Fall war es der Vater, den du als „selbstverständlich Anwesenden“ verloren hast. In Wahrheit hattest du ihn durch deine mangelnde Aufmerksamkeit schon vorher verloren. Erst durch den drohenden physischen Verlust bist du dir seines Wertes für dich innegeworden. An diesem Beispiel wird klar, welch großer Schatz das Trauern für uns ist.

 

Der Verlust macht uns häufig hilflos, wir fühlen uns wie ein Hirschkäfer am Rücken. Die Trauer ist das hilfloseste aller Gefühle. Sie macht uns Angst. Aber es zahlt sich aus zu trauern, denn es ist die einzige Möglichkeit, unsere Verluste nicht nur zu überwinden, sondern durch sie zu einem neuen, noch nie gekannten Reichtum im Leben zu kommen. Wir sollten uns daher trauen, traurig zu sein.

HG: Die Voraussetzung dafür ist, dass wir innerlich berührbar sind – oder wieder berührbar werden. Eine falsche Sicherheit oder eine eingebildete Stärke machen uns unempfindlich für das Elend der Welt. Ist es nicht ein Segen, weinen zu können – nicht nur über eine persönliche Verlusterfahrung, sondern über die großen Verwundungen unserer Zeit? Sie dauerhaft auszublenden, kommt eigentlich einer Lüge gleich. Die entsprechende Seligpreisung Jesu lautet: „Selig die Trauernden; sie werden getröstet werden.“ (Mt 5,4) Wie es nötig ist, sich herzhaft mit jemanden freuen zu können, so braucht es auch die Gabe zum Mit-Trauern, Mit-Leiden und Mit-Weinen.

Papst Franziskus hat beim Weltjugendtreffen in Manila sehr leidenschaftlich mit Jugendlichen darüber gesprochen: „Der Welt von heute fehlt das Weinen! Es weinen die Ausgegrenzten, es weinen die Ausgeklammerten, es weinen die Verachteten, doch diejenigen, die wie wir ein mehr oder weniger sorgenfreies Leben führen, verstehen nicht zu weinen. Gewisse Realitäten des Lebens sieht man nur mit Augen, die durch Tränen reingewaschen sind. Ich lade jeden von euch ein, sich zu fragen: Habe ich gelernt zu weinen? Habe ich gelernt zu weinen, wenn ich ein hungriges Kind sehe, ein Kind unter Drogeneinfluss auf der Straße, ein obdachloses, ein verlassenes Kind, ein missbrauchtes Kind, ein von der Gesellschaft als Sklave benutztes Kind? Oder ist mein Weinen das eigensinnige Weinen dessen, der weint, weil er gerne noch mehr haben möchte? Das ist das Erste, was ich euch sagen möchte: Lernen wir zu weinen.“

ML: „Worum es mir ging / Endlich / Berührt zu sein.“ So lautet eine Miniatur, die ich vor einigen Jahren in einem Gedichtband veröffentlicht habe. Weinen bedeutet psychologisch gesehen nicht gleich trauern. Wir weinen aus verschiedenen Gründen. Wir weinen aus Trauer, aus Freude, aus Wut, oft einmal auch ohne zu wissen, warum. Die Ursache des Weinens ist immer eine Berührung, ein Berührt-Sein. Das Schöne an diesem Zustand ist, dass wir damit mit unserer Umwelt in Verbindung sind und uns veränderbar machen, uns selbst zur Disposition stellen. In der Berührung sind wir wie ein erhitztes Erz, das geschmiedet werden kann. Wenn wir diese vermeiden, dann wirken wir herzlos autonom. Ja, die Herzlosigkeit ist ein Zustand der Unabhängigkeit, der allerdings auch einen Mangel an gegenseitigem Austausch, an gegenseitiger Information impliziert. Ich erinnere mich an unsere Gespräche über den „unbequemen Jesus“. Hat er nicht ausdrücklich Berührung und Tränen zugelassen?

HG: Ja. „Warum weinst du?“ Das waren die ersten Worte Jesu nach seiner Auferstehung. Er stellte diese Frage Maria Magdalena, die am Boden zerstört war, wie der berühmte österliche Text berichtet (Joh 20,11–18). Neben ihrer Trauer über den Verlust des geliebten Rabbi musste sie am frühen Morgen beim Grab den nächsten Skandal entdecken. Offensichtlich war der Leichnam Jesu geraubt worden. „Warum weinst du?“ Sie drehte sich um und meinte, es sei der Gärtner. Erst als sie der Auferstandene beim Namen anspricht, erkennt sie ihn. „Maria!“ Mit ihrem Namen schwingt alles mit, was sie bewegt – ihre Ohnmacht, ihre leidenschaftliche Liebe, ihre Sehnsucht. Für Gott ist niemand nur ein Trauerfall. Er will uns genau dort begegnen, wo wir weinen. „Unsere Biografie kann auch über die Tränen erzählt werden“, sagt der portugiesische Kardinal José Tolentino de Mendonça, „die Tränen der Freude, der Feste, der lichtreichen Begegnungen; und die Tränen der dunklen Nacht, der Zerrissenheit, des Verlassen-Seins und der Reue.“

Wie überwältigend auch immer die Trauer sein mag, Tränen sind ein Geschenk – reinigend, befreiend und meist auch Ausdruck von Verbundenheit. Gott kennt sie und nimmt sie an wie ein Gebet. Wir müssen sie nicht verstecken.