Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten

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Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten
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Meine Advents-
und Weihnachtsgeschichten

von

Heribert Weishaupt


Meine Advents- und Weihnachtsgeschichten

von Heribert Weishaupt

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.

Alle Rechte vorbehalten!

1. Auflage

© Herbst 2015

Cover unter Verwendung von

Die 4 Kerzen by Dieter_pixelio.de 483500

Impressum

ratio-books • 53797 Lohmar • Danziger Str. 30

info@ratio-books.de (bevorzugt)

Tel.: (0 22 46)94 92 61

Fax: (0 22 46)94 92 24

www.ratio-books.de

eISBN 978-3-939829-81-2

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Inhalt

Kind

Ich bitte dich Sankt Niklaus sehr,

In meinem Hause auch einkehr,

Bring Bücher, Kleider und auch Schuh,

Und noch viel schöne, gute Sachen dazu,

So will ich lernen wohl,

Und fromm sein, wie ich soll.

Sankt Niklas

Gott grüß euch lieben Kinderlein.

Ihr sollt Vater und Mutter gehorsam sein.

So soll euch was Schönes bescheret sein.

Wenn ihr aber das selbige nicht tut,

So bringe ich euch den Stecken und die Rut`.

Amin Brentano (Hrsg)

Auszug aus: Des Knaben Wunderhorn, erschienen 1806-08


Nikolausabend in den 50er Jahren

Es war der 6. Dezember, irgendwann Mitte der 50er Jahre – es war der Namenstag des Heiligen Nikolaus von Myra.

Mutter Lisbeth hatte dieses Jahr einige nahestehende Verwandte und Freunde mit Kind und Kegel am Nikolaustag zum Abendessen eingeladen. Sie war immer bemüht, die Familienbande und gute Freundschaften zu pflegen und nicht zu weit auseinanderdriften zu lassen. Mit diesem Essen hoffte sie, ein weiteres Zeichen für die wohltuende und gedeihliche Verständigung zu setzen.

Meine Mutter, mein Vater Rudolf und ich wohnten in einem über einhundert Jahre alten Vierfamilienhaus. Zwei Zimmer hatten wir im Parterre, wobei es sich um Küche und Wohnzimmer handelte. Zum Schlafen mussten wir hoch ins Dachgeschoss. Hier hatten meine Eltern ihr Schlafzimmer und ich ein eigenes Kinderzimmer. Die anderen beiden Zimmer neben unserer Wohnung im Parterre hatte ein ruhiges, kinderloses Ehepaar gemietet. In einer Zweizimmer-Wohnung in der ersten Etage lebte ein älteres Ehepaar. Und dann war da noch meine Großtante Sybilla Sie wohnte in der benachbarten Wohnung in der ersten Etage. Besser gesagt, sie residierte dort in ihren zweieinhalb Zimmern. Meine Großtante war eine beleibte, resolute, ältere Dame, die ihren Mann wenige Jahren zuvor verloren hatte. Von ihren Geschwistern, vier Mädchen und zwei Jungen, war sie die Älteste. Nachdem sie ihren Vater im ersten Weltkrieg früh verloren hatte, übernahm sie die strenge Führungsrolle ihres Vaters in der Familie. Ihre Geschwister akzeptierten das uneingeschränkt und ihr Selbstbewusstsein wuchs dadurch ins Unermessliche. Wie man mir berichtete, war ihr verstorbener Mann lediglich eine Marionette ihres Willens, den sie nach Belieben dirigierte, der seinerseits aber mit dieser, seiner Rolle, in der Ehe stets zufrieden war.

Zu Beginn der dreißiger Jahre hatte sie das Haus für 4.500 Goldmark von der ortsansässigen „Bleihütte“, wie sie im Volksmund genannt wurde, erstanden. Lange hatte sie diese Entscheidung vor sich her geschoben. Da sie keine Kinder hatte, sagte sie immer wieder:

„Was soll ich mit einem Haus? Ich habe doch niemanden, dem ich es später vererben kann.“

Doch irgendwann gab sie dem Druck meiner Eltern und einiger Freunde nach, die sich durch Tante Sybillas Investition ein sicheres Zuhause erhofften. Nun gehörte ihr das Haus und es war daher für sie überhaupt keine Frage, dass sie über alles, was im Haus vor sich ging und geplant wurde, zu bestimmen und zu entscheiden hatte.

Die Mieter verstanden sich recht gut. Die Herrschaft und Diktatur von Großtante Sybilla nahmen sie billigend in Kauf. Eine geringe Miete und die Nutzung des riesigen Gartens hinter dem Haus, die meine Großtante wohlwollend gestattete, entschädigten für so manche Bevormundung. Der einzige, der Großtante Sybilla uneingeschränkt und ohne Vorbehalte schätzte und verehrte, war ich. War sie doch diejenige, die mir immer ohne Ausnahme beistand und mich verteidigte, wenn ich Ärger mit meinen Eltern hatte. Außerdem erhielt ich jeden Sonntag eine Mark „Sonntagsgeld“ von ihr.

Natürlich musste meine Mutter auch das Nikolausessen vorab mit Tante Sybilla besprechen, abstimmen und sich ihren Segen holen.

An einem Abend, einige Tage vor dem großen Festessen, fragte Vater Rudolf meine Mutter eher provokativ als neugierig: „Hast du dir auch die Genehmigung von „Oben“ eingeholt?“

„Ach Ruud, dat moss ich doch, du weß doch, wie sie is“, verteidigte sich meine Mutter im rheinischen Dialekt.

Den provokanten Ton meines Vaters überhörte sie ebenso, wie sie sein Grinsen übersah.

„Selbstverständlich ist ihr das recht. Sie hat sich sogar gefreut“, fügte sie noch schnell hinzu, bevor sie mit der Hausarbeit weitermachte.

„Hast du dich auch genügend um den Nikolausauftritt gekümmert? Die Kinder sollen sich doch freuen und den Abend in guter Erinnerung behalten“, fragte meine Mutter wenige Minuten später meinen Vater.

„Natürlich. Er hat zwar jede Menge zu tun, aber er hat sofort zugesagt den Nikolaus zu spielen. Hoffentlich vergisst er es nicht und kommt pünktlich“, antwortete er und zog die Stirn dabei in Falten.

Mutter Liesbeth nickte verständnisvoll, teilte sie doch die Befürchtungen meines Vaters. Dieses Jahr sollte uns zum ersten Mal der leibhaftige Nikolaus besuchen und es wäre eine riesige Enttäuschung, wenn dieses Event nicht wie geplant stattfinden würde.

*

Der Nikolaustag begann für meine Mutter wie jeder andere Tag bereits recht früh – so gegen sechs Uhr. Sofort nachdem sie aufgestanden war, stapfte sie nur mit dem Nachtgewand bekleidet die Treppen hinunter zur Küche. Da das Treppenhaus natürlich unbeheizt und eiskalt war, hatte sie sich eine selbst gestrickte Weste um die Schultern gelegt. Sie schlang die Arme eng um ihren Körper, um dadurch ein wenig mehr gegen die eisige Kälte gewappnet zu sein. Es half nur wenig. Durch den viel zu großen Spalt unter der Hauseingangstür drang eiskalte Luft in den Hausflur. Zitternd schloss sie die Küchentür auf. Mit der einen Hand hielt sie die Weste fest, mit der anderen betätigte sie den Lichtschalter. Das fahle Licht einer wenige Watt starken Glühlampe erhellte die Szenerie. Bei einem Blick zum Küchenfenster stellte sie fest, dass der nächtliche Frost wundervolle Eisblumen auf die, für uns heute unvorstellbar, dünnen Fensterscheiben gezaubert hatte. Bevor sich der Rest der Familie aus den Federn zum Frühstück erheben würde, sollte die Küche in gemütliche Wärme getaucht sein. Daher begann sie, den mit Emaille und Nickel verzierten Küchenherd mit Papier und Holzstücken zu befeuern. Wenn dann das Feuer richtig loderte, würde sie einige Kohlebriketts nachlegen. Diese waren fein säuberlich in dem eigens dafür bestimmten Wagen unter dem Herd gestapelt. Erst wenn das Feuer im Herd so richtig brannte, würde sie zurück ins Schlafzimmer gehen und sich für den Tag herrichten.

Heute, am Nikolausabend musste zusätzlich der Ofen im Wohnzimmer befeuert werden. Das hatte aber jetzt noch Zeit, denn unnötig früh wollte sie keine Briketts verfeuern. Dafür waren diese zu teuer. Nach dem Frühstück und dem Abwasch wollte sie mit dieser Arbeit beginnen.

Da das Wohnzimmer höchstens an Sonntagen oder zu Feierlichkeiten, wie eben heute, genutzt und geheizt wurde, würde es fast einen ganzen Tag dauern, bis sich erträglich Wärme ausgebreitet hätte.

Das Thermometer zeigte seit Tagen auch tagsüber einige Grade unter Null. In diesem Jahr fiel der Nikolaustag auf einen Sonntag, daher war auf den Straßen fast kein Verkehr. Nur wenige Passanten hetzten mit Schal und Mütze vermummt über die Bürgersteige. Kurz vor Einsetzen der Dämmerung, was an diesem Wintertag bereits am frühen Nachmittag der Fall war, begann es zum ersten Mal leicht zu schneien. In kurzer Zeit waren die Wege und Straßen wie von feinem Puderzucker überzogen. Im Laufe des Nachmittags und Abends wuchs dieser Überzug zu einer dicken Schneeschicht an.

*

Es war die Nachkriegszeit. Der Krieg war gerade etwas mehr als zehn Jahre vorüber, und der Wohlstand war noch ein junges, zartes Pflänzchen. Meine Mutter hatte „falschen Hasen“ als Festschmaus vorgesehen. Unter diesem Gericht verstand man landläufig Gehacktes aus halb Schweinefleisch und halb Rindfleisch, das mit in Wasser aufgeweichten, alten Brötchen vermengt wurde. Der Wohlstand einer Familie zeigte sich am Verhältnis Gehacktes zur Brötchenmenge. Meine Mutter wollte natürlich nicht, dass man über sie nach der Feier redete und hatte daher das Verhältnis zu Gunsten des Hackfleisches bemessen lassen. Dazu sollte es Kartoffeln von einem bekannten Bauern geben, die im Winter in einer großen Kiste im Keller gelagert wurden. Als Gemüse war Grünkohl vorgesehen, den Mutter am Tag vor dem Festessen im eigenen Garten geerntet hatte. Der Grünkohl war das letzte Gemüse im Jahr, das im Garten geerntet werden konnte. Im Gegensatz zu anderen Kohlsorten, braucht der Grünkohl kräftige Fröste, um sein Aroma zu entwickeln. Erst die Kälte lässt den Zuckergehalt in den Blättern steigen. Und kalte, frostige Nächte hatte es in den letzten beiden Wochen zur Genüge gegeben.

 

Der Beginn des Festmahls war für 17 Uhr festgesetzt. Für uns Kinder durfte es nicht zu spät werden. Wir sollten rechtzeitig ins Bett kommen, denn ein Kind ist nur dann ein liebes Kind, wenn es früh ins Bett geht und am nächsten Morgen ausgeschlafen ist. So hieß es bei uns seinerzeit offiziell. Die inoffizielle Begründung, über die aber nie jemand gesprochen hätte, war von wesentlich profanen Motiven geleitet: Um Punkt 20 Uhr begann damals das tägliche Fernsehprogramm mit der „Tagesschau“. Ein Vorabendprogramm oder gar ein Programm über den helllichten Tag hinweg, gab es nicht und war auch überhaupt nicht vorstellbar. Wenn das Programm dann in der Regel so gegen zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig Uhr mit den letzten Nachrichten endete, zeigte der Bildschirm danach lediglich nur noch das sogenannte „Testbild“. Vorher erklang zum Abschluss des Tages fast immer die deutsche Nationalhymne. Es soll damals sogar Familien gegeben haben, die deswegen regelmäßig bis zum Ende des Programms wach blieben und stehend mitsangen. Um vierundzwanzig Uhr schaltete der Sender dann auch das „Testbild“ ab. Auf dem Bildschirm war nun nur noch ein schwarz-weißes Schneegeriesel zu sehen.

Großtante Sybilla hatte sich als Erste und Einzige in der Straße einen Fernsehapparat für etwas weniger als 1000 DM gekauft. Sie konnte sich das leisten, denn sie hatte immer viel Geld als Hausdame in reichen Haushalten verdient und eisern gespart. Meine Eltern hatten es dagegen nur zu einem winzigen Röhrenradio geschafft.

Die „Tagesschau“ kannte keinen Nikolausabend und würde pünktlich beginnen. Der einzige Tagesschausprecher, den es damals gab, hieß Karl Heinz Köpke und war heimlicher Schwarm vieler weiblicher Fernsehzuschauerinnen und mit Sicherheit auch der Traum von Tante Sybilla und den übrigen Frauen im Haus.

Kurz vor Beginn der Tagesschau, nie später als 19:45 Uhr, versammelten sich die Bewohner des Hauses jeden Tag bei Tante Sybilla in der Küche zum gemeinschaftlichen Fernsehen. Der Fernsehapparat stand natürlich nicht im Wohnzimmer, denn dieses war an normalen Tagen verschlossen. Außerdem waren die Hausbewohner nicht die Gesellschaft, die würdig war, im Wohnzimmer Platz nehmen zu dürfen.

Jeder Fernsehgast hatte in der Küche seinen fest zugewiesenen, harten Holzstuhl. Nur meine Großtante thronte in einem bequemen Sessel mit einer warmen Decke über den Knien.

Selbstverständlich wollte die Hausgemeinschaft auch am Nikolausabend nicht auf ihre lieb gewonnene Fernsehunterhaltung verzichten. Es sollte doch möglich sein, dass der „falsche Hase“ gegessen, und der Nikolaus bis zum Beginn der Tagesschau seine Aufwartung gemacht hatte und damit die Feierlichkeiten des Nikolausabends rechtzeitig beendet waren.

*

Nacheinander trafen die geladenen Gäste ein. Onkel Pitt kam als erster bereits eine Stunde vorher. Er und seine Frau Amalie waren die Nachbarn von Großtante Sybilla in der ersten Etage.

„Lisbeth, ich les‘ dem Jong wat vor, dann kannst du et Essen machen“, war sein Vorschlag, der dankend von meiner Mutter und natürlich auch gerne von mir angenommen wurde.

„Onkel“ Pitt las mir fast täglich Geschichten und Märchen vor, die ich im Laufe der Zeit Wort für Wort auswendig kannte.

Als Onkel Pitt beim Vorlesen die Müdigkeit überkam und er nicht mehr den Text getreu dem Buch vorlas, holte ich ihn gnadenlos in die Wirklichkeit zurück:

„Onkel Pitt, das stimmt nicht was du da liest – lies richtig vor“, forderte ich ihn erbarmungslos auf.

Dabei schüttelte ich ihn am Arm, damit er wieder vollständig wach wurde.

„Onkel“ Pitt war gar kein richtiger Onkel von mir. Er hatte keinerlei verwandtschaftliche Bindung zu unserer Familie. Trotzdem nannten ihn alle „Onkel“ Pitt. Wir alle kannten ihn nur mit Glatze. Und zur Feier des Nikolausabends hatte er diese kurz vorher noch mal rasiert und sogar mit Vaseline eingerieben – damit sie auch wirklich richtig glänzte.

Tante Sybilla stand zum Leidwesen meiner Mutter auch bereits recht früh in unserer Küchentüre. Irgendjemand musste doch die Organisation überwachen, und Tante Sybilla ließ es sich nicht nehmen, selbst diese wichtige Aufgabe zu übernehmen.

Kurz vor fünf Uhr stieg als nächstes „Tante“ Amalie, die Frau von „Onkel“ Pitt, die Treppe hinunter.

Ja, ja, „Tante“ Amalie, das war Eine. Vor Beginn der Tagesschau saß sie in der Regel als Erste auf ihrem Holzstuhl, obschon sie gar nichts von Politik und sonstigen geistigen Themen verstand. Das sagte zumindest „Onkel“ Pitt – und der musste es schließlich wissen.

Im besten Kleid saß sie wie hypnotisiert in der ersten Reihe und schaute verklärt mit einem Lächeln Herrn Köpke an. Für sie gab es nichts Geheimnisvolleres, als Herrn Köpke, der in die Zimmer der Menschen hineinschaute – und sie wollte selbstverständlich bei Herrn Köpke einen guten Eindruck hinterlassen, wenn er sie so freundlich ansah. Auch heute, am Nikolausabend, hatte sie ihr bestes Kleid angezogen, denn sie wollte nicht nur vor Herrn Köpke glänzen, sondern auch beim Nikolaus den besten Eindruck hinterlassen.

Danach trafen Tante Maria, die jüngere Schwester meiner Mutter, mit Sohn Rudilein ein. Rudilein war ein „properes“ und ziemlich pummeliges, kleines Kerlchen. Tante Maria hegte und umsorgt ihn wie ihren „Augapfel“. Diese Bezeichnung eröffnete sie den Frauen aus der Familie anlässlich eines Nachmittagskaffees, als sie völlig in sich gekehrt, die Welt um sich vergessend, über ihren Sohn sinnierte.

Frau Jachthoff mit ihrer vierjährigen Tochter Claudia trafen zusammen mit Peter, einem elfeinhalb Jahre alten, früh pubertierenden Jungen, und dessen Mutter um Punkt 17 Uhr ein. Anneliese, Peters Mutter, mochte niemand. Der Grund dafür musste an irgendeiner Verfehlung in grauer Vorzeit liegen. Tatsache war: keiner wollte sie eigentlich an diesem Abend gerne dabei haben.

Aber meine Mutter meinte: „Ach lasst doch, auch die muss mal zu Hause raus und unter Leute. Sie kann doch nicht dafür, dass sie so ist, wie sie ist.“

Die kleine Claudia war ein echter Wirbelwind, wohingegen Peter ein Trauerkloß war. Nachdem er niemanden begrüßt hatte, verkroch er sich in eine Ecke und las oder schaute sich die Bilder im Comic „Sigurd, der stolze Ritter“ an. So ein Abend war für ihn ätzend. Es gab doch überhaupt keinen Nikolaus, wie er erst vor wenigen Wochen auf unschöne Art in der Schule erfahren hatte.

„Und ich will kein Wort von Dir zu den anderen Kindern hören. So in der Art wie: Es gibt doch gar keinen Nikolaus!“, hatte ihm seine Mutter eingeschärft.

„Ja, ja, meinetwegen“, hatte er nur gebrummt.

Wenn er dann zu einem solchen fürchterlichen Abend mitgehen musste, sollte man ihn wenigstens in Ruhe lassen – so dachte er.

Das Ehepaar Plum, das auf der anderen Seite des Hausflures im Parterre wohnte, hatte die Einladung zum Nikolausessen nicht angenommen. Herr Plum war in der Regel etwas eigenbrötlerisch. Vielleicht lag es daran, dass er durch eine Kriegsverletzung ein Bein nachzog und hinkte. Sie hatten sich selbst bei Freunden eingeladen, um der Teilnahme an der Feier zu entgehen. Sie kannten ähnliche Feiern im Hause, und wussten, dass es in den meisten Fällen laut und chaotisch zuging. Menschenansammlungen in dieser Größenordnung und die dadurch entstehende Lautstärke waren nicht ihr Fall.

*

„Wann kommt denn endlich der Nikolaus?“, tönte klein Claudia durch das überfüllte Wohnzimmer, und drängte sich an den Esstisch.

Am modernen Nierentisch, den mein Vater zusammen mit den beiden Cocktailsesseln in eine Ecke geschoben hatte, verfing sich ihr rechter Fuß an einem Tischbein.

Der Tisch kippte zur Seite, bevor ihn mein Vater festhalten konnte. Auch konnte er nicht verhindern, dass sich der Inhalt seines Bierglases, das er auf dem Tisch abgestellt hatte, über den Tisch und über den Teppich ergoss.

Bedauerlicherweise fiel dabei auch der Weihnachtsengel meiner Mutter zu Boden. Das weiße Porzellan zersprang in viele, kleine Einzelteile. Erst zum letzten Weihnachtsfest hatte sie ihn von Großtante Sybilla als vorgezogenes Erbstück erhalten.

„Lisbeth, dat macht doch nix. Ich besorg dir nächstes Jahr einen neuen Engel vom Weihnachtsmaat“, übernahm Frau Jachthoff die Verantwortung für ihre Tochter und versuchte damit die Situation zu retten.

Mit hochrotem Kopf und ohne ein Wort zu sagen, verließ meine Mutter den Raum und begab sich in die Küche. Sie war einfach nur wütend und musste sich erst einmal abreagieren.

Zähne knirschend kümmerte sie sich zur Ablenkung intensiv um den „falschen Hasen“. Außerdem legte sie einige Briketts im Ofen nach.

Die berechtigte Frage der kleinen Claudia, wann der Nikolaus denn endlich käme, wurde unterdessen nicht beantwortet.

„Prost“, ertönte „Onkel“ Pitts Stimme und er hob sein Bierglas. Ein einfacher Versuch, die Stimmung, die durch den Vorfall etwas gelitten hatte, zu retten. Nur halbherzig prostete ihm die Nikolausgesellschaft zu.

„Wenn der Nikolaus nicht sofort kommt, wird mein Braten schwarz“, beschwerte sich meine Mutter bei meinem Vater, nachdem sie wieder das Wohnzimmer betreten hatte.

„Dann lasst uns doch mit dem Essen anfangen“, schlug Tante Sybilla lautstark vor, die Mutters Befürchtung mitbekommen hatte.

Dabei dachte sie bestimmt auch an die bevorstehende Tagesschau.

Ihr Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Wer hätte es auch gewagt, anderer Meinung zu sein?

Mutter Lisbeth trug eilig das Essen auf, bevor Tante Sybilla es sich anders überlegte, oder ihren Vorschlag als Befehl formulierte.

Gerade als „Tante“ Amalie sich entschieden hatte, in welche Hand sie das Messer und in welche sie die Gabel nehmen musste, und den ersten Bissen zittrig zum Mund führte, klingelte es an der Haustüre.

Das bis dahin stille Tischgespräch verstummte vollends. Erwachsene und Kinder hoben ruckartig ihre Köpfe und schauten zur Tür. Doch erheben wollte sich keiner. Alle ahnten, wer dort vor der Haustür stand und dass der Festschmaus kalt werden würde.

„Rudolf, willst du nicht aufmachen?“, ließ sich Tante Sybilla mit lauter Stimme vernehmen.

Mein Vater erhob sich gehorsam und ging in den Flur, um die Haustüre zu öffnen. Die erwachsenen Gäste hatten sich inzwischen gemütlich zurückgelehnt, denn für sie stand fest, dass jetzt der prunkvolle Auftritt des Heiligen Mannes stattfinden würde. Bei uns Kindern kam steigende Unruhe auf und wir schauten aufgeregt aber auch ehrfürchtig zur Türe.

Statt bedächtiger Schritte, hörte man Gepolter im Hausflur. Die, die der Zimmertüre gegenüber saßen und Einblick in den Hausflur hatten, sahen, wie eine rot gekleidete Gestalt Vater Rudolf zur Seite stieß und mit Gepolter ins Wohnzimmer stürmte.

Der Nikolaus war endlich da!

Doch wie sah der Heilige Mann aus? Keine erhabene Gestalt mit langem, weißem Bart, aufrechter Bischhofsmütze und wallendem Gewand.

Seine rote Zipfelmütze saß schief auf dem Kopf und drohte bei der nächsten Bewegung von selbigem zu fallen. Sein weißer Bart, hing zerzaust von der Oberlippe, und man konnte deutlich die Klebestreifen erkennen, mit denen er festgeklebt war. Der rote, prunkvolle Mantel war verschmutzt und anstelle eines Sackes voller Geschenke, zog er ein undefinierbares Etwas hinter sich hervor und warf es im großen Bogen auf den frei gewordenen Stuhl meines Vaters.

„Aber Ernst was soll das denn“, rief Lisbeth völlig entrüstet, die sich den Auftritt des Nikolauses etwas würdevoller vorgestellt hatte. „

Und was ist das, was du da auf den Stuhl geworfen hast?“

„Wonach sieht es denn aus, Lisbeth? Ein Hase natürlich. Der ist mir voll in mein Moped gelaufen. Ich bin auf dem Schnee ausgerutscht und gestürzt. Das hat er halt nicht überlebt“, strahlte Onkel Ernst und zeigte dabei mit ausgestrecktem Arm auf das tote Tier, das wie hingegossen auf dem Stuhl lag.

Man konnte deutlich Onkel Ernst Freude über dieses Waidmannsglück erkennen. Seine Rolle als Nikolaus hatte er längst vergessen.

„Mutti“, meldete sich Rudilein. „Wieso kennt die Tante Lisbeth den Nikolaus so gut? Er sieht fast aus wie Papa.“

„Ach, Blödsinn, das ist doch nur der Ersatznikolaus, weil der richtige Nikolaus im Schnee stecken geblieben ist.“, erklärte Tante Maria fürsorglich und winkte aufgeregt in Richtung Onkel Ernst, er möge doch verschwinden, bevor sich seine Tarnung gänzlich in Wohlgefallen auflöste.

 

Diesen Rat befolgte dann auch der Ersatznikolaus umgehend, wünschte einen weiterhin schönen Abend und guten Appetit, ob zum falschen oder zum richtigen Hasen, ließ er dabei offen.

Nun lag er da, ein richtige Hase. Der Kopf mit den langen Ohren baumelte vom Sitz des Stuhles. Blut tropfte aus einer Wunde am Hinterkopf auf unseren guten Teppich. Und auch sonst sah der Hase etwas ramponiert aus.

„Oh je, meine jute Teppich“, schrie meine Mutter, rannte um den Tisch herum und wollte den Hasen bei den Hinterbeinen packen.

Doch ehe sie zupackte, hielt sie inne. In ihren Augen und an ihrem Gesichtsausdruck konnte man deutlich Ekel erkennen. Nein, dieses „fläddige“Tier konnte sie nicht anfassen.

„Pitt, kannst du mir vielleicht helfen?“, rief sie voller Verzweiflung.

„Onkel Pitt war im Allgemeinen derjenige, dem sie so eine Aufgabe zutraute, denn er schlachtete regelmäßig Tante Sybillas Hühner.

„Wohin damit, Lisbeth?“, fragte er, schnappte sich den Hasen und wedelte ihn durch die Luft.

Das dabei weitere Bluttropfen den schönen Teppich bekleckerten, störte ihn nicht.

„In den Keller“, wies Lisbeth ihn an und „Onkel“ Pitt brachte den Hasen mit einem verschmitzten Lächeln folgsam dorthin.

An Essen war jetzt nicht mehr zu denken. Wir Kinder hatten uns in eine Ecke des Zimmers verkrochen. Manche Träne bahnte sich den Weg über eine hochrote Wange. Klein Claudia hielt ihre Hände vors Gesicht, damit sie nur ja nichts mehr von dem fürchterlichen Geschehen mitbekam.

Bei diesem Durcheinander kam der bis dahin schweigsame Peter ins Grübeln.

Ersatznikolaus? Waren denn alle Nikoläuse, die er bisher kannte, nur Ersatznikoläuse? Hatten die Mitschüler in seiner Klasse vielleicht unrecht mit der Behauptung, es gäbe keinen richtigen Nikolaus? Gab es vielleicht doch einen richtigen Nikolaus?

Sein Comic „Sigurd der edle Ritter“ war ihm jetzt völlig egal. Aus dem bisher „coolen“ Halbwüchsigen (obschon das Wort „cool“ damals niemand kannte), wurde ein ziemlich aufgeregtes Kind.

Meine Mutter nahm meinen Vater zur Seite.

„Mensch, Rudi, was machen wir jetzt? Wir benötigen einen richtigen Nikolaus für die Kinder. Was werden sie sonst denken? Wenn nicht bald ein ordentlicher Nikolaus kommt, sitzen wir im nächsten Jahr allein hier, weil alle vom Nikolausabend bei uns die Nase voll haben.“

„Ich besorge uns einen neuen Nikolaus“, antwortete mein Vater voller Zuversicht und entschwand unbemerkt von den übrigen Gästen in die dunkle, eisige Nacht hinaus.

Lisbeth stellte währenddessen die Ordnung im Wohnzimmer oberflächlich wieder her. Entmutigt betrachtete sie die Stelle des Bodens, auf den das Blut des Hasen getropft war. An dem durch die Bluttropfen lädierten Teppich konnte sie jetzt, und falls überhaupt, nichts mehr ändern.

Die Nikolausgesellschaft begann nun zum zweiten Male mit der Verköstigung des „falschen Hasen“, der allerdings inzwischen kalt geworden war. Allen saß der Schock von Onkel Ernsts Auftritt mit dem echten Hasen noch in den Knochen. Keiner maulte oder beschwerte sich über den kalten, falschen Hasen, oder brachte in irgendeiner Weise das Gespräch auf den, für einen Nikolausabend, unwürdigen Vorfall. Die Erwachsenen setzten freundliche Gesichter auf, nur wir Kinder schauten mit hängenden Köpfen auf unsere Teller und stocherten ohne Appetit in unserem Essen herum.

„Mein Becher Rumtopf ist weg“, ertönte die Stimme der ungeliebten Anneliese.

„Dann nimm dir doch einen Neuen“, riet Tante Sybilla.

Meine Mutter hatte für die Frauen einen Rumtopf nach altem, überliefertem Rezept angesetzt. Reichlich Rum und mit hochprozentiger Flüssigkeit vollgesogene Früchte sollten für gute Laune sorgen.

Den „verschwundenen“ Becher hatte sich Peter in einem unbeobachteten Moment unter den Nagel gerissen. Gierig hatte er die Früchte heraus gefischt und in kürzester Zeit vernascht. Gegen den Durst hatte er dann die alkoholträchtige Flüssigkeit in wenigen Schlucken hinterher geschüttet.

*

„Hast du auch gerade eine Glöckchen läuten hören?“, fragte mich Rudilein mit flüsternder Stimme.

„Ich weiß nicht, wer soll denn da läuten?“

„Der Nikolaus natürlich“, flüsterte Rudilein noch leiser.

Doch, da, schon wieder dieses leise Klingeln. Jetzt hörte ich es ebenfalls. Vernahm ich nicht auch knirschende Schritte draußen im Schnee?

Und plötzlich schallten dumpfe Schläge gegen die Haustür bis ins Wohnzimmer. Alle Köpfe flogen hoch, auch die der Erwachsenen. Was war denn jetzt wieder los? Meine Mutter sprang mit einem Satz auf, das hätte ich ihr bis dahin nie zugetraut, und rief: „Der Nikolaus kommt!“

Sie eilte aus dem Wohnzimmer und öffnete die Haustür. Die Erwachsenen machten ihre Hälse lang, um einen Blick in den Flur werfen zu können, denn jeder wollte den unerwarteten Gast als Erstes erblicken. Noch ein Nikolaus? Manch einem graute es davor, was jetzt passieren würde.

Wir Kinder saßen mit blassen Gesicherten da und kneteten unsere feucht gewordenen Hände – auch der coole Peter konnte seine feuchten Handflächen nicht verbergen. Als er ruckartig den Kopf hob, drehte sich die Umgebung wie im Riesenrad in seinem Blickfeld.

„Mensch, Peter, reiß dich zusammen“, sagte er zu sich selbst. „Du bist doch fast erwachsen – ein Becher Rumtopf und ein wahrscheinlich unechter Nikolaus können dich doch nicht aus der Bahn werfen.“

Und dann trat er ein – ein riesiger Nikolaus mit einer hoch aufragenden Bischofsmütze. Ein langer, weißer Bart fiel von seinen Oberlippen über das Kinn hinab auf seine Brust, die ein dicker, roter Mantel mit einem weißen Kragen umgab. Der prunkvolle Mantel reichte bis auf den Boden und ließ nur die Spitzen von dicken Winterstiefeln erkennen. In seiner linken Hand hielt er einen, am oberen Ende spiralförmig gebogenen, goldenen Stab. Und mit der rechten Hand zog er einen schweren Sack hinter sich her.

Doch wer oder was kroch hinter dieser erhabenen Erscheinung über den Boden. Eine schwarze Gestalt kauerte in der geöffneten Wohnzimmertür – das war der Knecht Ruprecht, mit einer furchterregenden Reisigrute.

Die Erwachsenen hatten sich langsam von der ersten Überraschung erholt. Wir Kinder jedoch wären am liebsten unter den Tisch gekrochen.

„Hoffentlich hat er“, und sie meinte damit den heiligen Mann, „nicht gesehen, wie ich vorhin den Nierentisch umgestoßen habe“, betete Claudia.

Tränen der Angst standen in ihren Augen.

Der Knecht Ruprecht gab nur hin und wieder undefinierbare Laute von sich. Ansonsten verhielt er sich ruhig, und kam vor allem keinem mit seiner Rute zu nahe. Daher beruhigten wir Kinder uns allmählich etwas.

„Hoo, hoo! Seid Ihr auch alle brav gewesen?“, fragte der Nikolaus mit tiefer Stimme.

Die Erwachsenen lächelten und nickten ohne Ausnahme. Mir schnürte die Aufregung die Kehle zu. Nur von Rudilein vernahm ich ein zaghaftes, wahrscheinlich auch ehrliches „Ja“.

„Dann will ich einmal in meinem großen Buch nachsehen, ob das auch stimmt“, sagte der Nikolaus und sah uns Kinder nacheinander eindringlich an.

„Ja, ja. Ich kann nichts finden. Meine Engelchen haben scheinbar nichts Schlimmes gesehen. Aber ich habe gehört, dass du“, und dabei zeigte er unmissverständlich auf mich,„mutwillig dein Dreirad zerstört hast. So etwas will ich im nächsten Jahr nicht mehr hören. Aber ansonsten bist du ja ein lieber Kerl.“

Erleichtert atmete ich auf und wischte mir verstohlen einige Tränen aus den Augen. Hatte ich doch bei den ersten Worten des Nikolaus Schlimmes befürchtet. Mein Blick wanderte vorsichtig zu Knecht Ruprecht. Da dieser ruhig vor der Zimmertür kauerte, ließ meine Anspannung nach.

Jetzt forderte der Nikolaus jedes Kind auf, nach vorne zu kommen. Äpfel, Nüsse, Süßigkeiten und kleine Geschenke zauberten ein Leuchten in unsere Augen. Wir alle schienen doch brave Kinder gewesen zu sein, egal was die Eltern im Laufe des Jahres auch manchmal gesagt hätten.

Die kleine Claudia machte ihren schönsten Knicks und wir Jungen senkten andächtig den Kopf zum „Diener“, nachdem wir die Geschenke in Empfang genommen hatten.

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