Read the book: «Heidesilber», page 5

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»Ich hörte doch Stimmen.« Die ungewöhnlich laute Stimme, in einer fremden Umgebung, zeugte von Germanen, vielleicht Kelten – auf keinen Fall Römer. Die Fremden kamen näher. Zwei große, blonde Männer und ein Dritter, ein gutes Stück kleiner und mit dunklem Haar, trampelten auf die Lichtung.

»Hier ist niemand«, sagte einer der Hünen.

»Verlasst euch nicht auf eure Augen, sondern auf eure Sinne«, mahnte die Stimme aus dem Gestrüpp.

Gleichzeitig gingen die drei in Abwehrstellung. Aus den Farben der Natur traten Kendric und Alayna, wie Schemen, hervor.

»Mutter Erde heißt euch willkommen«, gebrauchte Kendric die rituellen Worte der Stämme.

»Die Große Mutter dankt euch«, erwiderte Knut, der kleinere und wohl auch ältere der drei Männer. »Ich bin Knut und dies meine Brüder Konrad und Kunolf.«

Kendric stellte sich und seine Tochter vor. Mit einer einladenden Geste zeigte er auf den Sandstreifen vor dem Hügel.

»Nein. Kommt mit uns. Dort hinten«, Knut neigte das Haupt zum Wald, »haben wir einen Unterschlupf eingerichtet.«

Dankend beugte Kendric den Kopf und folgte den Germanen. Knut, schien der Anführer der drei Teutonen zu sein. Die gedrungene kräftige Gestalt und die sympathischen Gesichtszüge strahlten Selbstbewusstsein und Gelassenheit aus, wie sie der Druide bisher bei noch niemandem gesehen hatte. Lichte blaue Augen nahmen alles auf und klarer Verstand setzte die visuelle Sicht in Gedanken um. Die beiden Brüder bildeten einen Gegensatz und glichen sich, wie ein Haar dem anderen. Groß, noch ein wenig größer als er und von anderem Naturell. Sie nahmen die Welt, wie sie, sie vorfanden und vermieden weitere Gedanken, die über die Jagd und das Essen hinausgingen. Lebensfreude sprühte aus jeder Pore ihrer Körperhaltung. Sie nahmen Alayna sofort in die Mitte und plapperten mit ihr um die Wette.

»Woher kommt ihr?«, fragte Knut den schlanken Druiden, der ihn, wie seine Brüder, überragte. Im Alter kam er ihm am nächsten. Also Anfang dreißig.

Kendric zeigte nach hinten. »Von da. Aber ich wohnte früher schon einmal hier. Die Römer zerstörten die Siedlung und ermordeten meine Frau und meinen Sohn.«

»Es tut mir leid. Ja. Ich sah die Reste der Häuser und die Gräber. Doch, bei der Großen Mutter, ich weiß nicht, wann das gewesen sein soll. Ich rastete schon einmal mit meinen Brüdern hier. Hier standen lediglich Bäume. Und jetzt …?«

Kendric musterte ihn von der Seite. Er spürte eine Seelenverwandtschaft.

»Dann musst du Kind gewesen sein. Dreizehnmal nahm die Natur ihren Lauf, seit ich hier mit meinem Stamm die Siedlung gründete.«

In Knuts Gesicht arbeitete es. Widerstreitende Gefühle zeichneten sich ab. Er blieb stehen und blickte tief in Kendrics Augen. Er schien dem Druiden ins Herz zu sehen.

»Dann ist es tatsächlich geschehen.« Er schüttelte ungläubig den Kopf. »Meine Brüder verstehen es nicht. Sie wollen es nicht wahrhaben. Um bei deinen Worten zu bleiben, sind für mich fünf Wachstumsperioden vergangen, seit ich zum ersten Mal an diesen Ort hier besuchte. Damals lebte Nervier bei uns. Ein Belge ... glaubte ich zumindest. Ja. Und dann geschah etwas.« Er wusste nicht, ob er fortfahren sollte.

Kendric schwieg. Er unterbrach den Erzählenden nicht.

»Du hast die Höhle entdeckt? Ich spüre es«, fuhr Knut fort. »Dort verschwand Nervier. Einfach vor meinen Augen. Und wir? Wir lebten nicht mehr in unserer Zeit. Früher oder später? Ich weiß es nicht. Meine Brüder, die zwei großen Kinder dort«, er wies auf Kunolf und Konrad, »wollen es nicht wahrhaben. Sie verstehen nicht, dass sich die Zeit und die Begriffe verändert haben.«

»Zwischen den Welten geschehen viele Dinge, die wir nicht verstehen. Als junger Mensch besuchte ich die Anderwelt und erfuhr meine Bestimmung. Dort spürte ich, dass es unvorstellbare Elemente gibt, die um uns herum wirken. Seitdem bin ich nicht mehr ich.« Kendric staunte, dass er einem fremden Menschen die geheimsten Gedanken anvertraute. Bestand hier eine Seelenverwandtschaft? Die Natur meinte es, trotz allen Missgeschicks, gut mit ihm. Diesem Menschen, den er bis vorhin nicht kannte, vertraut er, wie sonst niemand auf der Welt.

»Du bist doch einer dieser geheimnisvollen Männer? Ich habe schon einmal einen gesehen, der tief aus den Wäldern kam«, sagte Knut halb fragend.

»Ich bin Druide.«

»Was ist das? Ein Heiler?«

»Nein. Jetzt wo ich es dir erklären soll, tue ich mich schwer. Ich würde sagen, Sehender oder Wissender.«

»Und, was tust du?«

»Ich beobachte die Vergangenheit, das Wissen, das wir in vergangenen Generationen gesammelt haben. Ich bewahre es für die Seelen, die wiedergeboren werden. Und …? Ich versuche daraus die richtigen Schlüsse, für das Jetzt zu ziehen.«

»Bei Zeus. Das ist aber eine schwierige Arbeit.« Knut sah ihn mit den treuherzigen Augen an. »Und jetzt? Du bist doch nicht ohne Grund unterwegs?«

»Nein. Ich suche den Römer, der meine Familie und meinen Stamm umgebracht hat.«

»Und? Wenn du ihn findest?«

»Dann werde ich ihn ganz langsam töten.«

Sinnend sah ihn Knut an. »Nervier hatte auch Begegnungen mit den Römern. Die schlimme Zeit hätte ihn bald das Leben gekostet. Wir befanden uns lange Zeit auf der Flucht, um doch wieder an diesen Ort hier zu gelangen. Hier verlor er seine Frau und ich einen Freund. Jetzt du, deine Familie. Meine Brüder und ich sind in der Zeit zurückgegangen. Was ich damit sagen will: Dieser Platz hier hat eine besondere Bestimmung. Ich habe ein ungutes Gefühl.«

»Für mich ist hier meine Heimat. Ein heiliger Ort und eine friedliche Stimmung, wenn nicht gerade Römer hier eindringen.« Kendric richtete den Blick in unendliche Fernen. »Hier wurde ich ein mächtiger Mann. Doch Mutter Natur dämpfte meinen Hochmut. Ich sonnte mich darin, auserwählt zu sein, die Druiden unseres Volkes gegen die Eindringlinge zu vereinen. Ich wurde bestraft. Dennoch werde ich meine Strafe nicht klaglos hinnehmen. Für das, was die Römer meiner Familie und mir angetan haben, werden sie büßen.«

»Ich verstehe dich«, Knut sah ihn mitfühlend an. »Wir haben alle unser Schicksal und unsere Aufgabe zu erfüllen. Welche ich aufgetragen bekomme, weiß ich noch nicht. Ich habe Dinge gesehen, die mein Verstand nicht aufnehmen, und die ich nicht wiedergeben kann. Ich weiß ganz sicher, dass wir über viele Generationen, in die Zukunft hinein, leben werden. Nicht wir in Person, sondern über unsere Nachfahren.«

»Mein Freund«, Kendric lächelte, »das ist nichts Neues. Wir werden wiedergeboren, immer und immer wieder. Nach unserem Tod werden sich unsere Seelen erneuern.«

»Ich habe davon gehört«, erwiderte Knut. »In meiner Zeit, nur eine kurze Spanne von der jetzigen entfernt, ist dein Glaube Vergangenheit.«

*

zehn

Das Wasser floss träge und trug sie langsam weiter in Richtung Rhône. Seit ungefähr einer halben Stunde paddelten sie die Ardèche hinunter. Rechts und links ragten steile zerklüftete Felsenwände hoch. Der blaue Himmel zeigte lediglich einen schmalen Streifen und wurde von den Felskanten der Gipfellinien abgegrenzt. Als sie losfuhren, begann der Tag hell und heiß. Hier in der Schlucht herrschte diffuses Dämmerlicht und die Luft zog empfindlich kühl den Fluss herauf. Erst gegen Mittag erreichte die Sonne die Talsohle. Ein Bonelli-Adler kreiste hoch oben in der Luft und betrachtete die kleinen Menschen, die ihren unterschiedlichen Tagesverrichtungen nachgingen. Er stieß einen klagenden Laut aus, der in der Schlucht dumpf widerhallte.

Hinter ihrem Paddelboot verfolgte sie eine blaue Kunststofftonne, in der ihre Sachen verstaut lagen. Sie wurde als Beigabe von der Bootsvermietung gestellt. Griet rekelte sich im Boden des Bootes und das Shirt spannte verführerisch über ihren Brüsten. Sie trug enge Shorts, die, die langen braunen Beine zur Geltung brachten. Die Niederländerin strahlte die Sexualität der gemeinsam verbrachten Nacht aus. Trotz der ähnlichen Kleidung, er trug anstatt der kurzen Hose eine Jeans, fühlte sich Paul nicht halb so attraktiv, wie er sie mit seinen Augen sah.

»Du musst die Wände, nicht meine Hügel beobachten«, bemerkte Griet, der Pauls auf ihr ruhender Blick angenehme Erinnerungen an den gestrigen Abend hervorrief. »Es ist nicht weit vom Felsentor, sonst hätte Kendric eine andere Ortsangabe gewählt. Achte auf Abweichungen in der Felsformation.«

»Wir halten alle zehn oder zwanzig Meter an und suchen die Wände mit dem Fernglas ab.« Paul hielt ihr eines hin. Er hatte es am Morgen noch schnell gekauft.

»Das ist eine prima, Idee. Die Strömung ist stark. Wir müssen ans Ufer.«

»Ich halte das Boot schon in der Mitte. Du schaust durch das Glas. Wahrscheinlich weißt du besser als ich, wonach du suchst.«

Griet kniete im Boot und beobachtete von unten nach oben die Wand. Einmal die linke und dann die rechte Seite.

»Nach meinem Gefühl sind wir zu weit runter. Die Spannung, die ich hatte, ist weg. Wir beginnen noch einmal von vorn«, sagte Griet nach einer weiteren halben Stunde.

»Aber nicht gegen die Strömung paddeln. Wir sind genauso schnell, wenn wir den nächsten Anlaufpunkt nehmen.« Der Bootsverleih sagte ihnen, dass nach drei bis fünf Stunden, je nach Geschwindigkeit, der erste Ausstieg aus der Schlucht komme.

»Gut. Dann machen wir uns einen schönen Tag.« Griet glitt wie eine Schlange auf ihn zu und an ihm empor. Paul umfasste und streichelte sie.

»Mach mich nicht verrückt. Wir sind nicht allein hier.« Er zeigte auf weitere Boote um sie herum.

»Ich weiß.« Sie nuschelte an seinen Lippen.

Am späten Nachmittag standen sie wieder an der Flussbiegung hinter dem Felsentor und suchten die Felswände nochmals mit den Ferngläsern ab. Es dauert lange, bis Paul schließlich etwas auffiel. Die Sonne verschwand gerade hinter dem Grat des rechten aufragenden Uferfelsens. Ein V-förmiger Ausschnitt, im oberen Rand der Felswand markierte eine goldene Linie Sonnenlicht, die auf der gegenüberliegenden, von ihnen aus gesehen linken, Seite herunterlief.

»Griet.« Er bemühte sich um einen möglichst ruhigen Tonfall. »Diese Linie des Sonnenlichts auf der Wand.«

Sie nahm ihr Glas von den Augen, um es gleich wieder anzusetzen.

»Du hast es. Ein Zeichen der Natur. Ich kann es mir richtig vorstellen. Der Druide, der gleichzeitig, Kelte ist, steht an dieser Stelle und bekommt diesen Fingerzeig. Ob er wohl die gleiche Aufregung spürte, wie ich jetzt? Die Sonne zeigte ihm den Weg.« Sie sprudelte die Worte enthusiastisch und mit leuchtenden Augen hervor.

Binnen Minuten verschwand die Sonne und damit auch die Markierung.

*

Früh am nächsten Morgen paddelten sie zu der Stelle, an der sie am Abend den Sonnenstrahl ausmachten. Am gegenüberliegenden Ufer der Felswand zogen sie das Boot auf einen kleinen Uferstreifen und beobachteten die Stelle, die der Sonnenstrahl markiert hatte.

»Das sind vierzig, fünfzig Meter«, zeigte Griet nach oben.

»Wenn nicht mehr«, meinte Paul, die Wand absuchend. »In den letzten zweitausend Jahren kann der Fluss sich nicht so tief eingeschnitten haben. Lass es mal einen Meter sein, dann ist es schon sehr viel.«

»Du hast recht. Wenn es die Stelle ist, die wir suchen, muss da noch etwas sein.« Angespannt glitten die Augen über Felswand.

»Hier. Schau mal meinen Finger entlang.« Paul machte wieder die Entdeckung. »Diese Dellen sind zu gleichmäßig, als dass sie von der Natur geschaffen wurden.«

»Möglich. Lass uns rüber paddeln.«

»Da sind Einkerbungen, wie Tritte. Aber das sind, bestimmt vier Meter von hier unten. Da kommen wir nie hoch.« Griet zog fröstelnd die Schultern zusammen. Erst gegen Mittag würde die Sonne die Schlucht erreichen. »Vielleicht hatte der Fluss damals mehr Wasser. Ich habe gehört, dass er auch heute noch nach Regenfällen blitzschnell um zehn Meter ansteigen kann.«

»Mit so einem Wurfhaken, wie ihn Bergsteiger benutzen, können wir auch nichts tun. Die Wand ist zu glatt«, Paul schüttelte den Kopf. »Wir müssen von da drüben«, er zeigte nach rechts auf einen Geröllhang, »schräg nach oben klettern.«

Paul zog das Boot vollends auf das schmale Ufer, während Griet den Weg suchte, der sie nach oben gelangen ließ. An einem Band, das sich auf zwei Meter Breite am Felsen entlang zog, hob Paul den Arm.

»Warte. Hier sind Einkerbungen von Menschenhand.« Er wischte mit der Hand darüber. Griet schob ihn zur Seite.

»Das ist tatsächlich eine Schrift, und zwar die gleichen Zeichen, wie auf der Scheibe. Wir sind richtig. Ich wusste es doch.« Sie sah mit glänzenden Augen hoch. »Ich hätte sie glatt übersehen. Schau. Die Zeichen laufen das gesamte Band entlang.« Aufgeregt drückte sie ihre Nase fast gegen den Felsen. »Da vorne müssen wir Aufnahmen machen.«

»Ja später. Wenn wir zurückkommen. Vor uns scheint es nicht weiter zu gehen.« Er ging auf das scheinbare Ende ihres Weges zu. Dem Auge verborgen, lag hinter der Felsnase ein Tritt, der sie auf weitere Einkerbungen zuführte. Auch wenn diese ausgewaschen wirkten, tendierten Griet und Paul zu der Ansicht, dass sie von Menschenhand geschaffen wurden. Vor allem vor dem Hintergrund der Ähnlichkeit der Zeichen, mit denen der Scheibe. Relativ leicht stiegen sie eine verwaschene Treppe nach oben, bis sie auf einem kleinen, von unten nicht auszumachenden, Plateau standen. Der Eingang hinter die Wand wurde durch Felsbrocken versperrt.

»Denkst du, hier ist es?« Sie schaute Paul fragend an.

»Ich glaub‹ schon. Muss auch. Wir kommen nicht weiter nach oben. Was sagt dein Gefühl?«

»Du fragst mich nach meinem Gefühl? Was ist denn jetzt los?«

»Na ja. Ich bin lernfähig. Schließlich hattest du einige Male recht.« Er schaute sie unsicher an.

»Meine innere Stimme sagt, wir sind richtig.« Sie klopfte ihm leicht auf die Schulter.

»Und jetzt? Meinst du, hinter dem Geröll ist was?«

Griet räumte schon Steine weg und reichte sie einfach nach hinten. Paul nahm sie entgegen und warf sie den Hang hinunter. Die größeren Brocken rollten sie gemeinsam zur Kante. Nach geraumer Zeit drückten beide ihre Rücken durch.

»Nimmt das nie ein Ende?« Paul liefen wahre Schweißbäche den Körper hinunter. »Das schaffen wir nie. Und nachher stehen wir vor einer Felsenwand.«

»Da ist etwas. Ich spüre es genau.«

»Gut. Aber jetzt Pause. Ich steige hinunter und hole unsere Sachen. Ich habe Hunger und Durst.« Nach einer knappen Stunde gelangte er wieder auf das Plateau. Ihre beiden Rucksäcke hatte er rechts und links über den Schultern hängen.

Griet lag gegen den Felsen gelehnt und schlief. Schmunzelnd beobachtete er sie.

»Ich bin eingeschlafen. Ich bin wohl etwas müde. Wovon wohl?«, machte sie, mit geschlossenen Augen, eine Anspielung auf die letzte Nacht.

Kauend betrachteten sie den schmalen Gang, der mittlerweile einen Meter in den Felsen strebte. Die Sonne schob sich über die Kante der Schlucht und heizte den Kalkstein auf. Es wurde unerträglich heiß.

»Ja«, rief Griet nach unendlich langer Zeit triumphierend. »Ich wusste es.«

Paul zwängte sich an ihr vorbei. Aus dem Steinhaufen vor ihnen strömte an der Decke kühle Luft heraus, die seinen verschwitzten Körper erzittern ließ.

»Tatsächlich. Dahinter ist etwas.« Sie mobilisierten ungeahnte Kräfte und machten sich nicht mehr die Mühe, den Abraum wegzuschaffen. Sie warfen ihn hinter sich.

»Ich hole eine Lampe.« Paul lief nach draußen. Er brachte die Rucksäcke mit, als er zurückkehrte. Griet kletterte schon durch das entstandene Loch.

»Komm«, rief sie, als sie den Schein der Taschenlampe entdeckte. Das Licht leuchtete gleißend hell. Eine dieser neuen Lampen mit Halogenlicht. Paul hatte lange gebraucht, sie zu bekommen. Die Knopfbatterien hielten ewig. Dennoch hatte er einen beachtlichen Vorrat eingesteckt. »Hier geht der Gang weiter. Das Tageslicht von vorne reicht nicht mehr.«

Paul zwängte sich durch die, für ihn, fast schon zu enge Öffnung. Die Helligkeit erreichte Griet, die ihm abwartend entgegensah. Sie machte einen Schritt zurück und verschwand.

»Verdomme (verdammt)«, hörte er nur noch. Er stürmte voller Sorge nach vorne. Aus eineinhalb Meter Tiefe funkelte sie wütend hoch. »Nee. Nix passiert. Ich bin nur doof.«

»Ich komme.« Er rutschte auf dem Hosenboden zu ihr hinunter.

Sie leuchtete nach oben und drehte den Lichtschein nach rechts. »Schau mal.«. Sie sahen eine neue geheimnisvolle Welt. Aus einer riesigen Halle wehte kühle und saubere Luft. Der gewaltige Bogen der Höhle reichte hoch in den Berg und der Lichtstrahl der Taschenlampe erfasste eine bizarre, ihnen unbekannte Welt. Tausende Stalaktiten und Stalagmiten ragten wie ein undurchdringlicher Vorhang vor ihnen. Manche erreichten eine Länge von bis zu fünfzehn Metern. Die Lampe warf bizarre Muster durch den Raum und bot ein gewaltiges Schauspiel. In den Wänden eingelagerte Aragonit Kristalle warfen haarfeine Nadelstrahlen auf ein riesiges Sinterbecken, um dort vom Wasser, wieder zurückgeworfen zu werden.

»Gewaltig«, flüsterte Paul, als könne er jemanden stören.

»Da vor uns. Etwas wie ein Weg. Unglaublich. Ob wir da weiterkommen?« Griet betrachtete das unglaubliche Naturwunder mit einer guten Portion Ehrfurcht.

»Bevor du einen Schritt weiter machst, hole ich unsere Rucksäcke. Da hab ich auch meine Digitalkamera drin. Wir sollten Aufnahmen machen. Übrigens habe ich vorhin Fotos von den Zeichen auf dem Felsband geschossen.«

Kurze Zeit später kehrte er wieder zurück. Sie stand tatsächlich noch an derselben Stelle und trug die Faszination der Eindrücke auf dem Gesicht. Er legte ihr den Rucksack an. Danach stiegen sie über Fragmente von Kalksteinablagerungen, die von der Decke gebrochen schienen. Der kaum sichtbare Weg durch dieses Naturschauspiel endete in einer Nebengrotte, die unglaublicher Weise Einrichtungsgegenstände aufwies. Mit Dingen, die Griet nur von ihren Grabungsstätten kannte. Irdene Krüge, Werkzeuge aus Eisen geschmiedet und Schmuck aus Eisen und Silber. Ja sogar ein Lager befand sich an der hinteren Wand. Alles schien wohlgeordnet und darauf zu warten, dass der Eigentümer jeden Augenblick erschien.

»Ob wohl dieser Kendric hier wohnte?«, fragte Paul. Seine Stimme klang so laut, dass er erschrocken zusammenzuckte. Wie in Trance gingen sie von einem Gegenstand zum anderen und saugten ihn gedanklich auf.

»Hier an der Wand. Sieh mal«, Griet hauchte mehr, als das sie flüsterte. Sie wies auf das Loch in der Rückwand. Es führte in einen ungefähr fünf Meter hohen Kluft Raum. Paul stieß einen ungläubigen Laut aus. Das riesige Gemälde bedeckte jeden Zentimeter der Höhlenwand. Sie konnten nicht ausmachen, wo es begann oder endete. Keines der üblichen Höhlengemälde. Darstellende Kunst in vollendeter Form. Trotzdem verstanden sie die Geschichte, die hier augenscheinlich erzählt wurde, nicht.

Paul fotografierte, was das Zeug hielt und achtete darauf, aus ungefähr der gleichen Entfernung zur Wand, die Bilder zu schießen. Selbst ihn zog die machtvolle Ausstrahlung des Kunstwerks in den Bann. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, trotz aller Herrlichkeit, die vor ihm lag. Am Rande nahm er die Farbflecke auf dem Boden wahr. Hölzerne Farbtöpfe und Pinsel aus Naturfasern standen ungeordnet herum. Es schien, als sei der Künstler plötzlich aufgebrochen und ihm fehlte die Zeit, alles wegzuschaffen.

»Hier Paul. Die gleichen Zeichen, wie auf der Scheibe«, sie ging die Wand entlang und deutete hier und da mit dem Finger auf das, was sie ihm zeigen wollte.

»Und hier. Die Scheibe. Und schau, wie sich die Kleidung der Menschen unterscheidet. Das sind jeweils andere Zeiten, ein geschichtlicher Ablauf.« Paul geriet aus dem Häuschen. In einer endlosen Schlange stiegen Menschen, Tiere und Pflanzen die Spirale hinauf. Sie unterzogen sich einem steten Wandel in Ausdruck, Größe und Darstellung. Das Bild ging endlos in den Hintergrund und erweckte bei den Betrachtern den Eindruck, darin zu versinken.

»Ich habe das Gefühl, wenn ich einen Schritt nach vorne gehe, reihe ich mich in diese Schlange ein. Worauf mögen die warten?«, sagte Griet zu sich selbst.

»Du hast recht, die warten«, nahm Paul den Faden auf. »Hier scheint der Beginn zu sein«, er zeigte auf eine Stelle, an der ein Neandertaler auf die ihnen bekannte Scheibe sah. Alles andere lag in seinem Rücken. »Nein. Davor ist noch etwas. Schau mal. Nebel. In dem ist ein Gesicht abgebildet. Ich erkenne nicht genau, was es ist. Mensch oder Tier?«

»Auf jeden Fall unheimlich«, bemerkte sie. Sie legte die Stirn in Falten und ihre Augen wurden dunkler. »Dieser Steinzeitmensch sieht aus wie Arget. Schau ihn dir an.«

»Nein. Unmöglich«, sagte er bestimmt. »Aber …«, er wurde unsicher, »Eine große Ähnlichkeit ist vorhanden …«, um sich dann, wieder zu verbessern, »nein unmöglich, das darf nicht sein.«

Ein Geräusch ließ sie herumfahren. Da standen Huub und zwei weitere Gestalten. Sie richteten Waffen auf sie.

»Habe ich euch endlich. Es wurde auch Zeit«, sagte der Holländer.

Paul gab Griet einen Stoß, sodass sie zu Boden fiel. In der gleichen Bewegung sprang er hinterher. Da tönte auch schon der Schuss und fetzte als Querschläger durch die Höhle. Kurz darauf folgten zwei weitere Schüsse, die haarscharf an ihren Beinen vorbeigingen.

»Ihr könnt uns nicht entwischen, und wenn ich diese Höhle sprengen muss«, rief die gleiche Stimme.

Im gleichen Augenblick ertönten lautes Krachen und Gepolter. Stalaktiten fielen von der Decke. Sie stapelten und verkeilten sich. Hustend versuchten sie, dem Inferno zu entkommen, und pressten sich fest gegen die Rückwand der Kluft mit dem Gemälde. Die Höhle bebte. Hinter Paul gab der Fels eine Öffnung frei. Mit einem gewaltigen Stoß schob er Griet hindurch. Blind tastete er in dem Staub nach ihren Rucksäcken, die er hinterherwarf.

»Das war knapp.« Sie leuchtete mit der Lampe einen natürlichen schmalen Gang aus, der in den Berg führte. »Die Scheibe bringt nur Unglück. Und jetzt zerstören sie auch noch dieses Kunstwerk. Hoffentlich sind sie unter dem Fels, begraben.« Ihre Lippen zitterten in tiefer Erregung.

»Falls wir denen noch einmal begegnen, bin ich als Erster am Zug. Was sind das für Schweine. Für ein Stück Silber, gnadenlos um sich zu ballern. Ich besorge mir eine Pistole oder einen Revolver, wenn wir hier raus sind.«

»Wenn wir hier raus sind«, wiederholte ihre Stimme dumpf. »Der Eingang ist der Ausgang und der ist verschüttet. Diese Tonnen Gestein bekommen wir nie bewegt.«

»Du meinst, wir kommen hier nicht mehr heraus? Das glaubst du doch selbst nicht.«

»Aber wie?« Sie fing an zu weinen.

»Jetzt mal ruhig.« Er nahm sie in den Arm. »Es gibt einen weiteren Zugang. Da bin ich mir sicher. Wir haben Licht. Ich habe Ersatzbatterien und ein wenig zu essen und zu trinken haben wir auch. Beruhige dich. Wir kommen hier heraus.« So zuversichtlich, wie er klang, war er auch. Er ging in den Gang hinab. Zögerlich folgte Griet. Hinter einer Biegung wurde die Decke niedriger, sodass sie bald nur noch auf allen vieren vorankamen. Doch nach einer halben Stunde standen sie in einer größeren Höhle und reckten die Glieder.

»Pause.« Paul musterte den Raum. Eine trockene Höhle, ohne Staub. Einfacher nackter Fels. Ein starker Luftzug umwehte ihre Beine. »Zumindest gibt es eine Öffnung nach draußen. Sonst würde der Wind nicht, wie in einem Kamin, hier ziehen. Ich glaube, hier unten nennt man das Wetter.«

Griet hockte auf dem Boden und nestelte am Rucksack. Endlich fand sie, was sie suchte. Eine Tafel Schokolade. Sie brach sie in der Mitte und gab Paul eine Hälfte.

»Wenn ich Stress habe, muss ich etwas Süßes essen«, sagte sie fast entschuldigend.

»Geht mir genauso.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Kannst du noch? Oder sollen wir eine längere Rast einlegen?«

»Um nichts auf der Welt möchte ich jetzt rasten. Lass uns weitergehen. Ich will keine Minute länger unter der Erde bleiben, als notwendig.« Außerhalb des Strahls der Taschenlampe schien es, als wolle die Dunkelheit sie verschlucken. Sie musste raus.

»Mir geht es ähnlich. Ich fuhr mal in eine Schachtanlage ein. Du weißt schon eine Zeche oder Grube. Neunhundert Meter tief im Erdboden. Das muss ich nicht noch einmal haben. Vor allem, wenn ich daran denke, was über uns ist.«

»Du munterst mich wirklich auf. Ich will nichts davon hören«, sagte sie missmutig.

Am Ende der Höhle bogen sie in den zweiten Gang von links. Vier Möglichkeiten boten sich hier. Aber nur aus einem blies Luft. Es ging immer weiter herunter. Der Stollen nahm kein Ende. Nach einer, von vielen Biegungen stolperten sie fast in ein Wasserloch, das die gesamte Breite des Ganges einnahm. Sie mussten zehn Meter überwinden, um das andere Ufer zu erreichen. Mutlos sank Griet zu Boden.

»Was machen wir jetzt?«

»Auf die andere Seite.« Er zog die Schuhe aus und machte den ersten Schritt in das Wasser. »Ich gehe erst mal rüber. Warte ab.« Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. Das Wasser ging ihm bis zu den Schenkeln. Es brachte ihm also nichts, dass er die Hose bis zu den Knien hochgekrempelt hatte. Er hätte sie besser ausgezogen. Kurz darauf gelangte er an den anderen Rand des Beckens.

»Warte«, rief er Griet zu. »Ich komme rüber und helfe dir. Zieh dich aus, sonst werden deine Klamotten auch noch nass.« Er hängte seine Hose an einen Felsvorsprung. Er bibberte im kühlen Luftzug.

»Komm«, sagte er sanft, als er die andere Seite wieder erreichte.

Griet tauchte den Fuß ins Wasser, zog ihn jedoch sofort wieder zurück. »Das ist ja pures Eis.«

»Da musst du durch«, er fasste sie am Arm. Gerade mal zwei Meter vor dem anderen Ufer rutschte Paul weg. Er klatschte mit dem Oberkörper nach vorne in das Sinterbecken. In einer instinktiven Bewegung warf er den Kleiderpacken, den er trug, aufs Trockene. Frierend erreichten sie festen Boden und stiegen in ihre Klamotten.

»Wir müssen weiter, sonst frieren wir hier fest«, forderte er sie auf.

Das Fortkommen wurde schwierig und brachte sie bis an die Grenzen ihres körperlichen Leistungsvermögens. Sie zwängten ihre Körper durch schmale Spalten hindurch, robbten auf dem Bauch oder überwanden haushohe Verwürfe.

Bei der nächsten Rast sanken sie kraftlos zu Boden und klammerten aneinander fest, bevor sie einschliefen.

Nach, sie wusste nicht wie langer Zeit erwachte Griet und drückte den schweren Paul ein wenig zur Seite. Er lag halb auf ihr und drückte ihren Rücken gegen einen spitzen Zacken, im Felsen. Verzweiflung drang in ihre Gedanken, aus denen sie sich befreite. Sie erzählte Kendrics Geschichte weiter. Sie wusste, Paul dämmerte zwar, lauschte jedoch ihren Worten.

*