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acht

Griet erzählt:

Von den Stämmen erreichten sie Gerüchte, dass Fremde in die Wälder eindrangen und ihrer Niederlassung näherkamen. Schon seit der Kindheit und Jugend wusste Kendric, dass Soldaten, die sich Römer nannten, in die Gebiete der Kelten einfielen. Sie zerstörten zunächst die Siedlungsplätze der Stämme und bauten ihre Steinhäuser dorthin. Doch nach und nach verschonten sie die Dörfer und trieben mit den Kelten Handel. Kendric traute dem Frieden nicht. Das belegte auch die Unruhe, die ihn mit den Nachrichten befiel.

In den zehn Jahren, die er mittlerweile am Hang des Hügels wohnte, vergrößerte sich das Dorf stetig. Eine Handelsstraße lief in der Nähe vorbei und stärkte die Bedeutung der Siedlung.

Kendric war er ein Druide von Rang und Namen. Jederzeit besuchten, mindestens zehn Eleven seine Schule. Von weit her kamen Stammeshäuptlinge, fragten ihn um Rat und befolgten diesen. Sie berichteten Kendric vom Volk der Römer und von ihrer Technik, Nachrichten auf einem Stoffstreifen oder auf Leder festzuhalten. Ein Vorgang, der ihn interessierte. Er sah zwar keinen Sinn darin, jedoch, wie er hörte, durften Tauschgeschäfte ohne diese Dokumentationen bald nicht mehr durchgeführt werden. Ein Grund, sich damit zu beschäftigen.

Die Nachrichten, die zurzeit das Dorf erreichten, stimmten ihn nachdenklich. Hing es damit zusammen, dass er einer der mächtigsten Männer in den Stämmen war? Oder lag es an den beunruhigenden Träumen, die ihn nun schon seit Wochen heimsuchten. Große Gefahr drohte aus dem Nebel heraus, den er in der Anderwelt gesehen hatte und nicht durchdringen konnte. Aber, was hatten die Römer mit den Träumen zu tun? War der Nebel ein Omen? Wies er sein Volk und seine Kultur auf eine Gefahr hin? Er dachte sogar schon daran, die Sprache der Eindringlinge, schreiben zu lernen. Bisher zählte in seinem Volk das gesprochene Wort, sonst nichts. Doch wie sollten sie weiter Handel treiben, wenn alle Welt mittlerweile Schriftliches verlangte?

Mutter Erde beschützte ihn. Sie führte ihn, als er den heimatlichen Stamm verließ, zu dem Hügel, an dessen Fuß nun das Haus des Druiden stand. Nie trat bisher ein lebender Mensch die Schwelle der Hütte, sofern er ihn nicht ausdrücklich aufforderte. Woher diese Scheu bei den Mitmenschen rührte, blieb ein Geheimnis. Tief im Inneren wusste er, dass hier schon einmal Menschen lebten. Der Sandstreifen, der rund um die Erhebung lief, besaß eine Bedeutung. Weshalb hielt er andere Menschen ab, das Haus zu betreten? Fragen über Fragen.

Die Zusammenkünfte, mit den Abgesandten seines Volkes und denen der anderen Stämme, hielt er ausschließlich an dem Ort ab, an dem der Lebenssaft von Mutter Erde aus ihrem Leib floss. Dort stützten die gewaltigen Birken den Himmel.

Die Unruhe, die ihn umtrieb, veranlasste ihn, ein Treffen der Druiden einzuberufen. Seit Wochen gaben Kuriere die Einladungen weiter. Cernunnos selbst hatte ihm den Auftrag gegeben und den heiligen Ort bestimmt, wie es ihn kein zweites Mal mehr auf der Erde gab. Die riesige Größe erlaubte alle Abgesandten Druiden der Stämme aufnehmen.

Zu den Aufgaben als Druide gehörte es auch, das Material auszuwählen, aus dem die täglichen Gebrauchsgegenstände hergestellt wurden. Auf der Suche nach der grauen Erde, aus dem man die irdenen Töpfe und Nahrungsgefäße herstellen konnte, tauchte Cernunnos, wie beim ersten Mal, in Gestalt eines Hirsches auf. Er bedeutete, ihm zu folgen. Schnellen Schrittes schloss er sich dem Gott an, bis zu dem Hügel, an dem seine Hütte stand. Cernunnos senkte das Geweih und schlug es gegen die Wand des Hügels. Große Stücke Lehm bröckelten heraus. Er trat zurück und bedeutet Kendric, mit der Arbeit fortzufahren.

Kendric trieb einen mannshohen und gleichermaßen tiefen Stollen in den Berg. Während einer Pause wischte er sich den Schweiß aus der Stirn und suchte vergebens nach Cernunnos. Nie grübelte er darüber, weshalb der Gott ihn auserwählte. Seine Bestimmung ergab sich aus dem Besuch der Anderwelt. Alles, was er tat, folgte der Logik, die er kannte.

Nach geraumer Zeit stieß er durch die Wand und fiel mit einem Schlag ins Leere. Der Schreckensruf hallte vielfach und verstärkt zurück. Er glaubte sich wieder in der Anderwelt.

Kendric rappelte sich hoch und sah in dem wenigen Licht, das durch den Durchgang schien, ein gewaltiges dunkles Loch. Angstvoll fokussierte er die Augen auf die Finsternis und reagierte keineswegs verwundert, als aus den Wänden Licht drang und die Höhle gewaltigen Ausmaßes beleuchtete. So unvorstellbar groß, dass seine Akzeptanz nicht ausreichte und ihn zu Boden warf. Er sammelte die Gedanken und setzte in Trance Schritt vor Schritt. In der Mitte des Gewölbes hielt er vor einer Feuerstelle.

Er wusste es sofort. Cernunnos wies ihm den Platz, für die Versammlung der Druiden. Lebten hier früher die Vorfahren? Sicher, dachte er. Die Feuerstelle. Wer sonst sollte sie eingerichtet haben? Nicht ohne Grund hatte es ihn zu dem Ort der Siedlung gezogen. Das wusste er jetzt. Aber die Erkundung des Gewölbes konnte warten.

Viele praktische Dinge mussten bedacht werden. Die Druiden bekamen einen würdigen Versammlungsplatz. Es gab viel zu tun.

Bevor die Versammlung stattfand, zwang Kendric der Brauch noch einmal ins Heimatdorf. Labhruinn stand kurz vor dem Übergang zur Anderwelt. Ein Bote überbrachte die dringliche Nachricht.

Aufgrund der Vorbereitungen, zu dem großen Treffen, ging er allein. Mit dem Kurzschwert bewaffnet machte er sich auf den Weg. Der raue graue Umhang diente ihm sowohl als Wetterschutz wie auch als Zeichen des Standes. Der knorrige Eichenast, der auch das Gepäck trug, diente als weiteres Symbol der Druiden. Kendric entwickelte ungeahnte Fähigkeiten, wenn es darum ging, ihn als Waffe zu benutzen.

Auf dem Weg zu Labhruinn ließ er den Gedanken freien Lauf. Das Leben mit Bronwyn wurde zum glücklichsten Abschnitt des bisherigen Seins. Sie erfüllte ihn, als verständnisvolle, kluge Gefährtin, mit den beiden Kindern, die, ihnen Mutter Erde bisher zustand, mit Stolz. Alayna, die Tochter und Cedric, der Sohn. Beide besuchten mittlerweile die Schule und übernahmen die ihnen aufgetragenen Aufgaben, wie der Brauch es erforderte. Alayna, mit ihren neun Jahren, überwachte, während der Abwesenheit des Vaters, die Vorbereitung des Höhlenbereiches. Cedric, der sechsjährige Junge, ging der Mutter zur Hand.

Kendric kam die Reise ungelegen. Er begab sich mit einem schlechten Gefühl auf den Weg. Die Zeichen standen nicht gut. Während der Meditationen spürte er große Gefahr, die Leid und Elend bringen konnte. Normalerweise hätte er die Reise nie angetreten. Jedoch wenn es um Labhruinn ging, musste er ihm die Vorbereitungen für den Weg zur Anderwelt abnehmen.

Fast einen ganzen Mondumlauf benötigte er, bis er die Landschaft ausmachte, in der er Kindheit und Jugend verbrachte. Die ehemaligen Nachbarn empfingen ihn freundlich und er beantwortete viele Fragen nach Bronwyn und den Kindern.

»Da bist du ja endlich«, begrüßte ihn Labhruinn. Er empfing ihn aufrechtstehend im Eingang seines Hauses und wirkte sehr gebrechlich. Nur die Kraft der Gedanken hielt ihn auf den Beinen.

»Ich kam so schnell, wie ich konnte.«

»Das ist kein Vorwurf, Kendric«, verteidigte er sich mit brüchiger Stimme. »Ich habe keine Kraft mehr.« Er schwankte wie ein junger Baum im Wind, obwohl er im Aussehen einer alten Eiche glich. Knorrig und ebenso voller Furchen, wie der Stamm.

Mühsam schlurfte er nach innen und bedeutete Kendric, ihm zu folgen. Er fiel ermattet auf sein Lager nieder.

»Du lebst schon lange Zeit nicht mehr hier unter uns. Ich hätte viel früher mit dir sprechen müssen.« Die Hand fuhr fahrig durch die Luft.

»Worum geht es, Labhruinn?« Kendric wartete gespannt.

»Vor langer, langer Zeit – nicht in diesem Leben - besuchte ich die Anderwelt. In meinem Leben davor sah die Welt anders aus. In diesen Wäldern hier gab es keine Siedlungen. Die Stämme lebten als kleine Gruppen in Erdhöhlen. Sie kommunizierten nicht miteinander und jeder misstraute dem anderen. Damals erschien mir ein Gott, wie wir keinen anderen kennen, und gab mir etwas. Etwas, dass die Menschheit beschützen soll. Es muss von Generation zu Generation weitergegeben werden, weil ansonsten die Welt zerbricht.«

»Welcher Gott? Mutter Natur?«

»Nein. Niemand, wie wir ihn kennen. Es ist mir nicht möglich, ihn zu beschreiben, obwohl meine Gedanken voll davon sind. Wie schon gesagt, ich erlebte die Begegnung in einem früheren Leben. Eine schlimme Erfahrung, die mir heute noch Angst bereitet. Ein Sturmwind kam aus Norden, eine Wolke aus Feuer mit lodernden Flammen. Mitten darin stand ein Lebewesen mit vier Gesichtern. Ich vermag es nicht zu beschreiben. Dazu fehlen mir die Worte. Über seinem Kopf strahlte eine runde Platte, hell wie ein Stern.

Ich hörte Rauschen um mich herum, wie ich es vorher nie hörte. Mein kleiner Geist verdrängte die Begegnung in den hintersten Winkel des Denkens. Erst vor einigen Jahren ließ ich die Erinnerung wieder zu. Aber du lebtest nicht mehr hier.«

»Was ist dieses Etwas und was gab es dir?«

»Eine Scheibe. Dasselbe Material, aus dem wir unseren Schmuck herstellen. Sie liegt dort hinten«, er zeigte in eine gegenüberliegende Ecke des Raumes, »in ein Fell gewickelt.«

Kendric erhob sich und nahm das Fell auf. Kurze Zeit später hielt er eine silberne Scheibe in Händen, auf der Zeichen ein seltsames Muster ergaben. Er spürte sofort den Energiefluss. Der Gegenstand kam aus der Anderwelt und besaß Macht.

»In diesem Leben? Wie kommst du im Jetzt an den Gegenstand?« Er sah zu Labhruinn. Jedoch, der war nicht mehr. Er wartete in der Anderwelt, auf die Erneuerung. Traurig und ratlos kniete Kendric neben Labhruinn. Jetzt lag es an ihm, herauszufinden, welches Geheimnis die Scheibe barg.

Er rief den Stamm zusammen und leitete die Feierlichkeiten zur zeremoniellen Bestattung Labhruinns ein. Ihm blieb nicht viel zu tun. Die Vorbereitungen des alten Druide für den Übergang ließen ihn ahnen, wie er das Ende herbeisehnte. Es muss ihm sehr schlecht gegangen sein. Neben dem geschichteten Holz für das Feuer und dem darauf gerichteten Ruheplatz, lagen die Dinge bereit, die er in der Anderwelt benötigte und die man dem Grab beigeben würde.

Kurze Zeit später loderten hell die Flammen in den Himmel. Der tote Körper zuckte noch einmal hoch, ein Arm schnellte hoch, wie ein mahnendes Zeichen, um dann im Feuer zu vergehen. Die Asche des alten Druiden wurde sorgfältig und rituell in ein irdenes Gefäß gefüllt und verschlossen. Die Bestattung der Amphore nahm Kendric, gemäß dem Brauch, allein vor. Kurze Zeit später stand er vor dem Feenhügel, an dem Platz, den Labhruinn vor langer Zeit bestimmte. Die rituellen Worte gingen ihm nicht so richtig über die Lippen. Lange noch hielt er Zwiesprache mit dem Verschiedenen. Auf die Fragen erhielt er jedoch keine Antwort mehr.

So schnell es die Schicklichkeit erlaubte, trat er den Rückweg an. Die Unruhe, die er schon bei der Abreise in der neuen Heimat spürte, wurde stärker und beschleunigte den Schritt, bis er fast lief. Lange zog sich der Weg. Die Gedanken spielten verrückt und gaukelten ihm Bilder vor, die er nicht sehen mochte. Wusste er doch um die besonderen Gaben der Druiden, dass Ahnungen sich oft genug erfüllten. Er reiste Tag und Nacht, um das drohende Unheil abzuwenden. Schließlich hatte er das Ziel vor Augen. Je näher er kam, desto mehr wehte ihm Brandgeruch entgegen. Die bange Ahnung wurde zur Gewissheit.

*

neun

Der Mazda tuckerte zuverlässig wie ein Traktormotor auf dem Weg nach Süden. Paul saß entspannt hinter dem Steuer und Griet kuschelte auf der Beifahrerseite gegen die Tür.

Vorgestern besuchten sie noch einmal Arget, auf seinen besonderen Wunsch hin, der sie auf eine neue Spur in Frankreich brachte. Als sie sich dem Hügel näherten, stand er vor der Kate und winkte sie herein.

»Nach Stunden mit eurer Scheibe muss ich gestehen, dass ich nicht viel weiter bin als zuvor. Mir gelang es, die Zeichen zu ordnen, was sie bedeuten, liegt jedoch in den Sternen.«

»Schade«, bemerkte Paul. »Ich hatte große Hoffnungen in dich gesetzt.«

»Es gibt noch mehrere Möglichkeiten.« Argets schmunzelte. Es sah fürchterlich aus, besaß jedoch einen gewissen Charme. »In meinen Fundus fand ich diese Originaldokumente.« Er schob einen vergilbten Packen Pergamentpapiere zu ihnen rüber. »Dazu gibt es diese Kopien. Die Originale halte ich hier bei mir. Ihr solltet sie jedoch sehen.«

Ehrfürchtig langte Griet nach den Bogen. Sie fühlte dickes Papier, fast wie eine Lederhaut. Die Ränder bogen sich und fransten aus. Lange betrachtete sie die darauf vorhandenen Zeichen. Paul nahm ihr den Bogen mit spitzen Fingern aus der Hand.

»Ich hielt noch nie ein Papyrus in den Händen. Es ist doch eines?«

»Ja sicherlich«, entgegnete Griet.

»Wie wurde das hergestellt. Unvorstellbar, dass die Ägypter schon in der Antike Schriftrollen herstellten. Hier gab es Papier erst im 14. Jahrhundert.«

»Das Mark der Pflanzenstängel wurde in drei bis fünf Zentimeter breite Streifen geschnitten und eingeweicht. Diese wurden knapp überlappend zusammengelegt, darüber in entgegengesetzter Richtung weitere Fasern geschichtet, also kreuzweise, und zu einem Bogen gepresst oder geklopft«, erwiderte Griet kurz und unkonzentriert.

»Wahnsinn«, brachte Paul heraus. Griet nahm ihm das Dokument wieder aus der Hand.

»Mein Gott. Diese Dokumente müssen ja uralt sein. Ich habe schon einiges gesehen, so etwas noch nicht. Sind das die gleichen Zeichen, wie auf der Scheibe?«, fragte sie erwartungsvoll.

»Ich vermute, sie wurden vor der christlichen Zeitrechnung gefertigt. Ja, wenn auch nicht ganz gleich, doch sehr, sehr ähnlich. Ich erkenne ein System darin. Wie vermutet sind sie verschlüsselt. Aber auch den Code haben wir geknackt. Nur, es gibt keine sinnvolle Übersetzung. Vielleicht unterliegen sie einer weiteren Verschlüsselung. Im Zweiten Weltkrieg bedienten sich die Krieg führenden Nationen der keltischen Verschlüsselungsmethoden.«

»Lass mal sehen.« Paul langte hinüber. Die Kopie hätte für ihn genauso gut chinesisch sein können. Hieroglyphen, Runen oder was sonst noch für Krakel verwischten vor seinen Augen. Rote und blaue Linien umkreisten die Symbole. Ordnungshinweise setzten sie in eine bestimmte Folge.

»Das ist Kyras Werk. Ihr gelingt so etwas aus dem Effeff und sie benötigt keine dicken Bücher. Seid euch sicher, dass die Anordnung so ist«, sagte er zu Paul und tippte mit den unförmigen Fingern auf das Papier. »Und jetzt wird es spannend. Es geht um einen Druiden, der ungefähr 300 vor Christus, plus, minus fünfzig Jahre lebte. Sein Name ist Kendric. Es muss etwas Fürchterliches passiert sein. Sehr viele Angaben gibt es nicht. Er machte sich auf den Weg nach Rom. Die Reiseroute vollzogen wir bis zu einem Punkt in Südfrankreich nach.«

»Du hast doch gesagt, dass du zu den Zeichen nichts sagen kannst. Und jetzt das.« Griet beugte sich nach vorn, als wolle sie ihn hypnotisieren.

»Du hast nicht zugehört.« Arget legte ihr die Hand auf die Schulter. Wie ein Stromschlag durchzuckte es sie. Die Ahnung, die sie bisher hatte, schien nicht zu trügen. Ihre Haut kribbelte und Gänsehaut zog von den Fußspitzen bis zum Kopf. Hier geschah etwas, das sie nicht fassen konnte. »Ich hatte von der Scheibe gesprochen«, fuhr Arget fort. »Diese Dokumente und auch noch andere haben wir schon etwas länger. Kyra und ich interessieren uns für Geschichte und sammeln alles, was uns unter die Finger kommt. Wir haben viele Stunden über solchen Papieren gebrütet. Aber noch einmal zu Kendric. Er ist von hier, genau von diesem Ort, an dem wir uns jetzt befinden, nach Frankreich, über das Zentralmassiv, entlang der Rhône zum Mittelmeer gezogen. Von dort, wahrscheinlich nach Marseille und mit einem Schiff nach Rom. Die Reise dauerte viele Jahre. Im Süden Frankreichs legte er einen längeren Aufenthalt ein. Auf diesem Weg könnten möglicherweise Hinweise, zu finden sein.«

»Du sagtest doch, du kannst die Zeichen nicht entziffern? Woher diese Informationen?« Paul beäugte ihn misstrauisch an.

»Es ist richtig. Ich habe noch andere Quellen. Nachdem ich den Namen des Druiden, also Kendric, wusste, flossen die Informationen zusammen. Hier ist so weit alles, was ich in der kurzen Zeit ermitteln konnte«, er hielt Griet einen weiteren Packen Papier hin.

»Was sollen wir tun? Was empfiehlst du uns?«, fragte Griet.

»Schaut euch erst die Quellen an. Dann müsst ihr selbst entscheiden, was ihr wollt. Ich persönlich würde versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen. Euer Leben wurde bedroht und ich glaube nicht, dass es vorbei ist.«

»Da magst du recht haben.« Paul strich die Haare aus dem Gesicht, hinter dem es arbeitete. »Griet und ich haben uns schon die Köpfe zermartert, was wohl der Anlass für die blödsinnigen Angriffe ist. Ja, ja. Die Scheibe. Schon richtig. Aber, das ist doch nur Silber. So viel gibt es auch nicht dafür.«

»Hast du nichts gespürt, als du die Scheibe in die Hände nahmst?«

Paul schüttelte den Kopf.

»Aber du Griet?«, fragte Arget.

»Ja. Energie strömte auf mich über. Ich kann es nicht anders sagen. Ein Kribbeln in den Fingern und Gänsehaut. Nicht unangenehm, aber unheimlich.«

»Bei mir nicht. Für mich ist das ein Gegenstand wie jeder andere. Na ja. Nicht ganz. Er ist halt alt. Täuschst du dich nicht?«

»Nein, nein. Da ist etwas«, antwortete Griet nachdrücklich.

Sie dankten Arget und brüteten in Pauls Arbeitszimmer weiter über den ihnen überlassenen Papieren.

*

»Du willst also immer noch an die Ardèche?«, fragte Paul Griet über das Brummen des Motors hinweg.

»Ja, das haben wir doch gemeinsam ausgemacht«, Griet lümmelte in ihrer Ecke. Sie trug bequeme Klamotten. Eine weite Sporthose und ein weites Shirt. Sie hantierte mit einer Kaffeekanne.

»Das Felsentor in diesem Bericht. Kann das nicht ein anderes sein?« Paul der Skeptiker hakte schon den ganzen Morgen nach. Manchmal ging er ihr auf die Nerven.

»Möglicherweise gibt es ein anderes. Ich kenne jedoch nur Pont d´ Arc. Und das kommt dem keltischen Gemüt schon sehr nahe. Ein von der Natur geschaffener heiliger Ort mit Symbolik. Ich stelle es mir vor.« Sie malte mit den Händen einen Kreis. »Ein Tor in die Anderwelt. Außerdem fühle ich, dass es das Richtige ist.«

»Wenn du es so siehst. Dieser Kendric? Weshalb erzähltest du dem Kauz nicht, dass dir die Person vertraut ist.«

»Aus einem Gefühl heraus. Ich weiß nicht.« Sie zuckte mit den Schultern.

»Und wann erzählst du die Geschichte weiter?«

»Der junge Druide war aus einem persönlichen Grund auf dem Weg nach Rom. So richtig schlau werde ich noch nicht daraus. Nachdem, was Arget uns gab, suchte er einen römischen Zenturio, den er für irgendetwas bestrafen wollte. Und dann ist da noch die Sache mit der Scheibe. Sie spielt sicher auch eine Rolle. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, dass die Zehn Gebote oder irgendetwas aus der Bibel hier hineinspielen. Aber, im Großraum Heerlen und Aachen, etwa um dreihundert Jahre vor Christus oder noch früher – bei uns hat sich nichts Biblisches ereignet - mehr als unwahrscheinlich.«

»Jetzt fängst du an zu spinnen. Zehn Gebote, Bibel.«

»Nur so ein Gedanke.«

»Mir brummt der Kopf. Jahrelang arbeite ich mit meinen technischen Einrichtungen, die ich physikalisch belege und jetzt stürmt dieser philosophische und anthropologische Quatsch auf mich ein.« Paul schielte fast entschuldigend zu ihr hinüber.

»Und? Gefällt es dir nicht?«, sie grinste unverschämt.

»Doch schon. Auch, wenn ich im Moment nur böhmische Dörfer sehe.«

»Dieser Druide muss längere Zeit im Zentralmassiv verbracht haben. Dort sehen wir uns um.«

»Haben wir keine genaueren Anhaltspunkte?«

»Leider nicht viele. Eben nur dieses Felsentor und einen Fluss, der sich tief in die Felsen eingeschnitten hat.«

Sie fuhren die AutoRoute du Soleil bis Montélimar und von dort über Aubenas nach Vallon Pont d´Arc. Griet begeisterte sich an der Landschaft der Provence und drehte den Kopf schneller als während eines Ballwechsels beim Tennis. Paul verbrachte vor Jahren einige Tage in dieser Gegend. In einem anderen Leben, wie ihm schien. Er erinnerte sich an eine kleine Pension. Am frühen Nachmittag fuhren sie darauf zu. Ende Juli gab es kein freies Zimmer. Nach einigen Stunden bekamen sie im Nachbarort Chandolas ein Doppelzimmer zu einem sündhaften Preis.

Sie machten sich sofort auf den Weg zum Felsentor, das die Ardèche überspannte.

Der vom Wasser durchbrochene Felsen und bot ein gigantisches Schauspiel. Ratlos standen sie davor. Sie besaßen keine Vorstellung davon, wie es weitergehen sollte. Am Fluss lag ein Campingplatz, direkt an der Biegung, ungefähr hundert Meter vom Tor entfernt. Träge zog das Wasser zur Rhône und umspülte einige kleine Inseln, die sich aus dem Wasser erhoben.

»Wir sind richtig.« Griet schaute sinnend in das fließende Nass. Sie hob ihren Kopf in Luft und blähte schnüffelnd ihre Nasenflügel, um die Spur aufzunehmen, die ihr, Sicherheit gab. »Wir müssen den Fluss ein Stück hinunter. Dort hinten zieht es mich hin.« Ihre Hand deutete auf die Felsen, die sich in ungefähr zwei Kilometer Entfernung rechts und links in den Himmel reckten.

»Da kommst du nirgendwo mehr raus. Ich bin hier schon einmal mit dem Paddelboot heruntergefahren. Zu beiden Seiten steile Wände. Und das mehr als zwanzig Kilometer.«

»Nenne es Intuition. Wir müssen den Fluss hinunter. Morgen früh mieten wir uns ein Boot und paddeln unserem Ziel entgegen.«

»Bist du nicht etwas zu euphorisch?«

»Lass mich doch.«

Den Abend verbrachten sie im Restaurant des Hotels und versuchten, die losen Fäden zu verbinden. Es gelang ihnen nicht. Schließlich landeten sie, leicht beschwipst, in ihrem Zimmer. Linkisch stand Paul herum und wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.

»Komm schon. Wir sind keine dreizehn mehr.« Griet gab ihm einen Schubs. »Ich gehe ins Bad und mache mich Bett fein.«

Sie ließ die Badtür offen und er hörte, wie sie sich auszog. Kurze Zeit später rauschte das Wasser der Dusche. Er spitzte die Ohren und bekam heiße Gedanken.

»Willst du mir nicht den Rücken waschen«, schreckte ihn ihre fröhliche Stimme aus dem Traum.

Aufgeregt stolperte er zum Bad. In einer flüssigen Bewegung riss er das Shirt herunter. Tatsächlich wie ein Dreizehnjähriger, schoss ihm durch den Kopf.

*

Griet lag, mit einem glücklichen satten Lächeln auf den Lippen, in seinem Arm. In der vergangenen Stunde erforschten sie ihre Körper und stellten fest, dass die nunmehr rote Narbe des Messerstichs der Belastung des Liebesspiels standhielt.

»Schön«, wisperte Griet leise. »Jetzt erzähle ich die Geschichte weiter. Doch sie wird anders, als die, die ich beim Beginn meiner Erzählung im Kopf hatte. Es sind so viele Fakten hinzugekommen.«

»Du glaubst die Geschichte tatsächlich«, stellte er verwundert fest, während sein Daumen sanft über die verheilende Narbe strich.

»Zweifelst du daran?« Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe eine ungefähre Ahnung, wie das damals abgelaufen ist.«

*

Fassungslos stand Kendric vor der Asche der Siedlung. Die Ahnung hatte ihn nicht betrogen. Vor ihm lag ein grauenhaftes Schlachtfeld. Die Natur nahm keine Notiz davon. Vögel jubilierten, die Freude in den Himmel und die Blätter sangen ihr ewig friedliches Lied. Dennoch, die Menschen, für die Kendric die Verantwortung trug, lagen niedergemetzelt in der Gegend. Er stolperte fassungslos und mit halb blinden Augen durch den Ort des Grauens. Ab und zu starrte ihn ein Rabe oder eine Krähe mit kalten Augen an, um dann träge und vollgefressen, davon zu schwingen.

Da lag Bronwyn, geschändet und mit durchtrennter Kehle. Ihre Arme wiesen anklagend in den Himmel. Das Gesicht zerstört und schrecklich verzerrt. Die nackten Beine und der Schoß boten sich ihm obszön dar. Mit einem Aufschrei stürzte er nieder, zog ihr die Kleidung über die Blöße und bettete den Kopf in seinen Schoß. Das Blut beachtete er nicht. Sanft wiegte er den Leichnam. Er erzählte unsinnige Geschichten und flüsterte die vielen Koseworte, die sie in ihrem kurzen gemeinsamen Leben miteinander geteilt hatten. Nach langer Zeit erwachte er aus der Erstarrung und schritt den Friedhof ab. Die furchtbare Metzelei rumorte in den Därmen und Galle stieg bitter hoch.

Weshalb taten Menschen anderen Menschen so etwas an?

Endlich fand er Cedric. Der gespaltene Kopf des Jungen sah grässlich aus. Die kleinen Gliedmaßen hingen mehrfach gebrochen in verzerrter Anordnung neben dem Körper. Ein unmenschlicher Schrei entfloh Kendrics Lippen. Sein Verstand machte sich auf den Weg in immerwährende Dunkelheit. Kendrics Seele zerbrach.

»Vater«, schreckte ihn Alaynas dünne Stimme aus der Finsternis. Schluchzend packte er die Tochter, die mit angsterfüllten weit aufgerissenen Augen vor ihm stand. Das Grauen stand in ihnen. Kendric umfasste sie fest mit beiden Armen.

»Was ist geschehen?« Die Worte kamen mühsam und krächzend über die Lippen.

»Römer. Es ging so schnell. Wir bekamen keine Chance.«

»Aber weshalb?«

»Sie suchten dich. Sie haben unsere Freunde, bevor sie, sie umbrachten, nach dir gefragt.«

»Ich habe nichts getan, womit ich so etwas herausforderte.«

»Sie suchten etwas und sprachen von großer ewiger Macht. Du sollst es haben. Sie meinten, deine Magie zerstöre das Reich der Römer. Eine große Belohnung ist auf dich ausgesetzt.«

»Wer war der Anführer?«

»Lucius, wenn ich es richtig verstanden habe. Ein großer dämonischer Mann. Er agierte unheimlich brutal und schlug Cedric immer wieder gegen den Baum. Aber er spürte keine Schmerzen. Ein Soldat verletzte ihn zuvor mit einem Schwert am Kopf.«

»Und du? Hast du dich versteckt?«

»Nein überhaupt nicht. Ich stand an der Hütte. Niemand beachtete mich. Eine Lähmung überfiel mich. Ich konnte den anderen nicht helfen.« Sie brach in Tränen aus.

Kendric strich ihr über den Kopf. »Es ist gut so. Jetzt habe ich wenigstens noch dich. Ich werde diesen Lucius verfolgen, bis an das Ende der Tage.« Er hob die Arme gen Himmel und die Augen glühten wie brennende Kohle. Er schien zu wachsen. Unbestimmbare Macht ging von ihm aus.

Die nächsten Tage verbrannten sie die Leichen, gemäß den vorgegebenen Riten und bestatten die Urnen. Viel gaben sie den Toten nicht mit auf ihrem Weg zur Anderwelt. Die Römer hatten alles geplündert.

Nach der Bestattung der Toten versank Kendric tief in seine Gedankenwelt. Er brütete über Rachegedanken und malte immer neue Bilder, wie er den Römer Lucius hinrichten würde. Alayna nahm er nicht mehr wahr. Seine Welt war nun eine andere. Er führte lange gedankliche Gespräche mit Bronwyn und Cedric.

Nach endloser Zeit erwachte er aus der Lethargie und sah Alayna an. Sie hatte ihm ein Lager gerichtet und sorgte dafür, dass er mit allem, was er zum Leben brauchte, versorgt wurde. Tiefe Scham erfüllte ihn. Was für ein Vater war er? Anstatt für seine Tochter zu sorgen, versank er in Mitleid und brütete dunkle Gedanken. Der Aufenthalt an diesem Unglücksort bekam ihm und Alayna nicht. Sie gaben die Siedlung auf.

Kendric zog mit Alayna zur alten Heimat und durchdachte drei Jahre den Racheplan. Aus dem stolzen Druiden wurde ein gebrochener, verwahrloster Mann, der nur dank seiner Tochter nicht verhungerte. In den wenigen klaren Augenblicken, die er hatte, übermannte ihn Scham und trieb ihn wieder in die Depression zurück.

Alayna hingegen bemühte sich, ihn aus dem dunklen Gefängnis zu befreien. Es dauerte bis zum Beginn des dritten Sommers nach der Ermordung ihrer Familie und Nachbarn. Er stand frisch gewaschen vor der baufälligen Hütte, die sie abseits des Dorfes bewohnten, weil die Menschen ihn fürchteten. Graue Fäden durchzogen das Haar und den Bart. Die blauen Augen musterten sie klar aus dem hohlwangigen Gesicht.

»Alayna. Ich gehe für lange Zeit von hier weg«, begann er das Gespräch. »Ich danke dir für alles, was du für mich getan hast. In deinem Alter solltest du frei sein. Jetzt erst sehe ich, wie selbstsüchtig ich dir gegenüber handele. Du hast die Mutter und den Bruder verloren. Ich verstehe nicht, wie ich das vergaß. Du bleibst bei unseren Verwandten.« In ein oder zwei Jahren, konnte sie einem Mann zur Gefährtin gegeben werden.

»Ich gehe mit dir. Meinst du, ich wüsste nicht, was du zu tun beabsichtigst? Du willst Mutter und Cedrick sowie die Menschen unseres Dorfes rächen.« Ihre blitzenden Augen schossen wütende Pfeile. So wie jetzt sah sie aus, wie einst Bronwyn. Eine weit über ihr Alter hinaus, selbstsichere Person. »Ich besitze das gleiche Recht wie du.«

Er gab die Hoffnung auf, es ihr auszureden. Außerdem entschieden die Frauen frei, da hatte sie schon recht. Es bestand kein Unterschied zu den Männern.

»Gut. Wir brechen in zwei Tagen auf. Die Jahreszeit ist günstig. Die Natur erwacht und wir gehen der Wärme entgegen.«

Sie wanderten gemächlich, nur mit dem Nötigsten ausgestattet, früh morgens los. Ohne Bedauern nahmen sie Abschied. Ihre Wurzeln lagen woanders. Nach einem Mondumlauf lag der Ort der zerstörten Siedlung vor ihnen. Die Natur hatte das ihre getan und die Spuren der Anwesenheit von Menschen an diesem Ort getilgt. Selbst seine Hütte, die das Massaker verschonte, existierte nicht mehr.

»Die Natur hat sich wiedergeholt, was ihr gehörte. Es ist, als wenn wir nie hier gewesen wären«, sagte Kendric wehmütig zu Alayna.

»Alles wird wiedergeboren. Wir erneuern uns immer wieder«, antwortete sie ihm, wie sie es gelernt hatte, und wandte sich ab. Sie ertrug den Schmerz in seinen Augen nicht.

Er hielt sie am Arm zurück. »Hier ist jemand«, flüsterte er. Blitzschnell bewegten sie sich und veränderten ihre Haltung. Sie verschmolzen mit der Natur.