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»Ja, das ist mir klar. Ich will es auch nicht allein machen. Die Sache mit Huub muss geregelt werden. Dann versuche ich, kompetente Hilfe zu bekommen. Ich weiß nicht weshalb, aber ich habe ihm die Fundstelle verheimlicht. Irgendein Gefühl verhinderte, sie ihm zu zeigen. Ich verstehe ihn nicht mehr. Er ist ein verträglicher und sehr hilfsbereiter Kollege. Es muss ihm jemand sehr viel Geld geboten haben. Im Moment kann ich sowieso nichts tun«, sie fasste an ihre verletzte Seite, die komplikationsfrei verheilte. Die Ärzte des Krankenhauses hatten gute Arbeit geleistet und die Wunde mit einigen Stichen verschlossen. Der Wundrand färbte sich nicht einmal rot. »Ich muss nach Den Haag, mit einem befreundeten Professor sprechen. Willst du mitzukommen? Du hast doch Zeit.«

Erschrocken schaute er sie an. Er lebte nun ungefähr ein dreiviertel Jahr, mit sich beschäftigt, zurückgezogen. Sollte er das aufgeben? Die letzten Tage gefielen ihm. Die Reste des Selbstmitleids bröckelten. Die, ansonsten um die Krankheit kreisenden Gedanken, fielen in sich zusammen. Im Grunde ging es ihm gut und er fühlte sich gesund. Er konnte alles tun. Zwar langsam und mit Überlegung, weil er sonst meinte, sein Unterbauch zerplatze, aber er konnte, wenn er wollte. Warum eigentlich nicht?

Sie beobachtete, wie er sein Gehirn zermarterte und las von seinem Gesicht, dass er eine positive Entscheidung traf.

»Klasse. Ich freue mich, dass du mit mir kommst.«

»Woher willst du das wissen?«

»Ich lese Gedanken. Nein, dein Gesicht ist wie ein Buch.«

»Na ja. Daran muss ich arbeiten. Wann geht es los?« Er grinste, wie ein übermütiger Junge.

Pauls Haus lag am Rande eines kleinen Dorfs. Idyllisch versteckte sich der Ort in einer langgestreckten Mulde. Im Winter ragten die Dächer heraus, die, die anderen Jahreszeiten mit Vegetation verbargen. Er liebte diesen Flecken und die Menschen. Vom Typ kamen sie Rheinländern am nächsten, also herzlich und doch eigenwillig. Zugezogene blieben ihr Leben lang Fremde, wenn sie nicht die ungeschriebenen Gesetze beachteten.

Paul arbeitete bis zum Beginn seiner Krankheit als Elektronikingenieur in Düsseldorf. Die Ehe ging nach acht Jahren zu Ende. Gott sei Dank hatte er keine Kinder aus der Verbindung. Vor fünf Jahren erbte er sein Elternhaus und hatte seitdem keine finanziellen Sorgen mehr. Den alten Bauernhof, in dem er die Kindheit und Jugend verbrachte, betrieb er als Hobby. Mit Liebe zum Detail ließ er ihn modernisieren und restaurieren. Seit drei Jahren lebte er, nach zehnjähriger Abwesenheit, wieder im Dorf.

Es fiel ihm schwer, Fuß zu fassen. Die alten Kontakte waren abgerissen und er hatte keine Lust, sie zu erneuern. So lebte er zurückgezogen und genoss die morgendlichen Spaziergänge. Natürlich traf er hier und da, den ein oder anderen. Doch mehr als Belanglosigkeiten tauschte er nicht aus.

Mit der agilen Holländerin kam Leben ins Haus. Am ersten Tag ihrer Bekanntschaft, also an dem Tag, wo sie verletzt wurde, bettete er sie am frühen Abend fürsorglich in einen Liegestuhl auf der Terrasse. Sie stießen mit Stubbis an und prosteten einander zu.

»Ich möchte dir eine Geschichte erzählen«, begann sie mit dem bezaubernden Akzent und wandte ihm das interessante Gesicht zu.

Paul nickte lediglich bestätigend.

»Du wirst mich für verrückt halten, aber aufgrund dieses jungen Kelten, von dem du jetzt hören wirst, wurde ich Anthropologin.« Sie schloss die Augen für einen Moment und musterte ihn geheimnisvoll. »Also dann … aber zuvor noch ein Satz von Caesar.«

*

drei

Griet erzählt:

»Den Druiden obliegen die Angelegenheiten des Kultus, sie richten die öffentlichen und privaten Opfer aus und interpretieren die religiösen Vorschriften. Eine große Zahl von jungen Männern sammelt sich bei ihnen zum Unterricht, und sie stehen bei den Galliern in großen Ehren.«

(Caesar: De bello gallico)«

Kendric der sechzehnjährige junge Mann wurde, seit dem zweiten Lebensjahr, von Labhruinn, dem Druiden, darauf vorbereitet, ein mächtiger Zauberer des Volkes zu werden, dem er angehörte. Labhruinn, ein finsterer Mann, flößte ihm mehr Angst als Respekt ein. Der Druide führte die Schule mit harter Hand. Die alt überlieferten Bräuche und Riten wurden getreu der Worte und Bewegungen gelebt und auswendig gelernt. Abweichungen und Interpretationen gehörten nicht zum Lehrplan. Labhruinn predigte, dass die Seelen der Menschen und die Welt unvergänglich seien. Durch Feuer und Wasser erneure sich alles. Die Menschen starben nicht, sondern lebten in ihren Verwandten weiter. Deshalb brauche auch niemand Angst zu haben, ehrenvoll im Kampf zu sterben. Er wurde wiedergeboren.

Kendric dachte eigene Gedanken. Hatte er doch häufiger erlebt, dass Labhruinn den Stamm, nicht selten mit einem kleinen Trick, auf seine Seite brachte. Die Menschen lebten in Angst vor ihm. Unbestreitbar stand Labhruinn mit den Göttern in Verbindung. Weshalb gebrauchte er dann Scharlatanerie? Er besaß ein Pulver, welches Nebel erzeugte, aus dem er, bei großen Festen, mit erhobenen Händen heraustrat. Der Stamm und auch alle anderen Menschen liebten ihn nicht. Der Druide lebte als notwendiges, aber geachtetes Übel unter ihnen.

Kendric gehörte mit der hochgewachsenen Gestalt zu den Größten des Stammes. Schlank wie eine Tanne, und trotz des jungen Alters mit tanzenden Muskeln auf dem Körper, wirkte er mehr wie ein Krieger, als ein angehender Druide. Aus dem ansprechenden Gesicht sahen kühle, auffallend blaue Augen auf die anderen nieder. Häufig spielte ein Lächeln um die Lippen, dessen er sich nicht bewusst war.

Heute ging er in den Wald. Nur zu diesem Vollmond im Jahr bestand die Möglichkeit, eine bestimmte Pflanze zu sammeln. Sie bewirkte einen Zauber. Zu Heffyn, dem Eichenfest, wurde daraus ein Trank zubereitet. Nur wenigen Menschen gestattete der Druide, diese Kräuter zu ernten. Sie wurden einem Ritual unterzogen, das sie reinigte. Er hatte davon jetzt noch die Striemen auf dem Rücken. Labhruinn schlug die bösen Gedanken mit Weidenruten aus ihm heraus. Kendric verschwieg mittlerweile immer häufiger, wenn er selbstständig dachte, auch auf die Gefahr hin, auf immer verdammt zu sein.

Doch Labhruinn ließ immer Vorsicht walten und reinigte auf Verdacht.

Falls Kendric heute die Zauberpflanze finden sollte, würde sie so oder so keine Wirkung haben. Als er am frühen Abend losging und nicht wie vorgeschrieben die Augen senkte, begegnete ihm Bronwyn, die fünfzehnjährige Tochter des Stammesführers. Sie warf ihm einen kecken Blick zu, der ihm bis in Fußspitzen fuhr. Der Verstand, eine besonders große Sünde, und sein Körper gerieten in Aufruhr. Von diesem Zeitpunkt an dachte er an nichts anderes mehr. Bronwyn stand vor seinem inneren Auge. Die Grübchen ihrer Mundwinkel lockten versprechend. Ihre schlanken Beine zeichneten sich unter dem Gewand deutlich ab.

Das Chaos in seinem Kopf lenkte ihn ab. Mit Macht versuchte er, die unreinen Gedanken zu verdrängen, aber es gelang ihm nicht. Nicht auszudenken, wenn der Energiefluss der Eiche durch seine fehlende Disziplin nicht auf die Menschen überging. Er störte das Gleichgewicht. Labhruinn würde ihn schlagen und unter Umständen verstoßen. Der Baum des Lebens hielt die Welt zusammen.

Er ließ sich auf dem Boden nieder und sammelte die Gedanken, wie er es gelernt hatte. Alles glitt von ihm ab. Sein Inneres wurde leer. Gott Cernunnos erschien ihm. Das mächtige Geweih wogte über dem Hirschkopf. Schemenhaft und schwerelos glitt das mächtige Tier durch den Wald. Die Konturen strahlten in hellem Licht. Kendric versank in den Augen des Traumtieres und folgte den Bildern, die sich einstellten. Vor ihm lag eine andere, unbekannte Welt. Die Anderwelt. Er machte den kurzen Schritt hinein, dorthin wo die mächtigen Geister über die Menschen wachten. Undurchdringliche Nebelwolken empfingen ihn. Ein Lichtstrahl drang aus der dunstigen Masse und ließ die Sterne zum Greifen nah erscheinen. Eine Spirale geriet in Drehbewegung und zog ihn hinein. Plötzlich stand er inmitten der Rotation der Planeten und erkannte ihre Umlaufbahnen. Die Zusammenhänge des Lebens offenbarten sich ihm. Alles gehörte zusammen. Die Bewegung der Planeten untereinander hielt die Welt zusammen. Sie stellte Gleichgewicht her. Die Sonne gab das Licht und die Kraft. Doch weit hinten, zwischen den vielen, vielen Sternen, lauerte eine weitere nebelartige Wolke, aus der, zwar undeutlich und verschwommen, ein Gesicht lauerte. Dort lockte das Böse.

»Kendric«, schreckte ihn die mächtige Stimme wie ein Donnerschlag aus der Betrachtung. Er erschrak nicht. Hier geschah ihm nichts. »Du hast den Schritt in die Anderwelt getan und damit Mut bewiesen, den andere Druiden bisher nicht aufbrachten.«

»Ich bin kein Druide. Ich muss noch viel lernen. Labhruinn sagte, ich werde es nie schaffen.«

»Labhruinn ist ein guter Mann und verlangt von seinen Eleven alles, was sie zu geben in der Lage sind. Dadurch stehen ihm alle Wege offen, die Geheimnisse für den Stamm zu nutzen und zum Besten anzuwenden.« Gott Cernunnos stand in Menschengestalt vor ihm. Jedoch mit dem riesigen Geweih versehen, das er vorhin schon als Hirsch trug. Gewaltige Kraft strömte aus den Augen des göttlichen Wesens auf ihn hinüber. Die Veränderung kam schneller, als sein Denkprozess ablief. Nicht körperlich. Sie geschah im Inneren. Bevor er den Gedanken zu Ende führte, saß er wieder auf dem Waldboden. Oder saß er dort immer noch? Er konnte es nicht sagen.

Zumindest wusste er nun, dass Labhruinn unrecht hatte. Die bösen Gedanken schadeten nicht. Das neue Wissen gab ihm Freiheit. Erleichtert erhob er sich und setzte den Weg fort. Die Stimmen des Waldes klangen anders als vorhin. Sie schwangen im Inneren und zeugten vom Gleichgewicht mit der Natur. Nach wenigen Minuten sah er die geheimnisvolle Pflanze, die für das Fest Heffyn benötigt wurde. Er sprach die überlieferten, komplizierten Worte und schnitt vorsichtig einige Zweige mit der heiligen Sichel ab. Sie wurde nur benutzt, um die heilige Pflanze zu schneiden.

Auf dem Rückweg wanderten die Gedanken zu dem alten Druiden des Dorfes. Er verstand nun dessen strenge Erziehung. Der wichtigste Sinn des Lebens lag darin, aus der Vergangenheit für die Gegenwart zu lernen. Der Zusammenhalt der Welt, das Überleben der Menschen hing davon ab. Seine künftige Aufgabe bestand nun darin, die Welt zu festigen und vor der fernen Erscheinung in der Anderwelt, zu schützen.

Labhruinn erwartete ihn am Eingang ihrer Siedlung und zog ihn zu seiner Hütte. Während der Stamm in einem Langhaus hauste, lebte der Druide seinem eigenen Refugium. Er schob Kendric hinein. Gemessen trat dieser in den halbdunklen Raum, der vom vollen Mond etwas Licht abbekam.

»Wo hast du die Pflanze?«, Labhruinn stand ungeduldig vor ihm. Die Hände zuckten wie Klauen aus dem dunklen Stoff des Gewandes.

»Hier«, Kendric hielt die Stängel hin.

»Was? Nicht mehr?«

»Das reicht«, kam die ruhige Antwort des jungen Mannes.

»Was erdreistest du dich?« Labhruinn stürzte auf ihn zu, die Hand zum Schlag erhoben. Mitten in der Bewegung hielt er inne. »Du warst in der Anderwelt«, stammelte er leichenblass.

»Ja. Ich habe mit Cernunnos selbst gesprochen.«

»Dann ist es also an der Zeit?«

»Ja. Ich denke schon.«

»Gehst du? Oder gehe ich?«

»Ich gehe.« Kendric sah ihn ruhig an. »Ich werde Bronwyn mitnehmen. Aber ich muss noch bis Beltane, dem Frühlingsfest, warten.«

»Das ist gut. Dann kann ich noch eine lange Zeit von dir lernen.«

»So sei es«, nickte Kendric und wandte sich ab, um zu gehen.

»Warte. Du kannst nicht mehr im Langhaus schlafen. Du bist geweiht.« Der Alte hielt ihn auf.

»Ich weiß«. Er ging hinaus.

*

»So. Erst einmal genug.« Griet unterbrach den Redefluss und hob die leere Flasche.

*

vier

»Oberkommissar Bauer.« Heinz hielt Paul Grebner den Ausweis hin. Den Mann kannte er.

»Professor. Komm rein.« Paul deutete in den Flur. Er nannte den Spitznamen des Oberkommissars, unter dem er im Dorf bekannt war.

»Klar«, sagte Heinz. »Paul … bei mir hätte es früher klingeln müssen.« Er kannte Grebner aus der Dorfkneipe, wo er nach Feierabend schon einmal ein Bier trank. »Ich bin dienstlich hier.«

»Das dachte ich mir. Möchtest du etwas trinken?«

»Danke. Du hast einer Holländerin, Griet van Houten, geholfen. Ich muss deine Aussage aufnehmen.« Er sah ihn fast entschuldigend an.

»Macht nichts. Ich habe, nach dem Krankenhausbesuch, damit gerechnet. Aber deine uniformierten Kollegen haben den Vorgang schon aufgenommen. Weshalb Kripo? Was willst du wissen?« Sie saßen im Esszimmer.

»Messerstecherei. Da sind wir auch zuständig. Also wie war es?« Heinz stellte sein altes Diktiergerät, das noch mit Kassetten arbeitet, auf den Tisch und schaltete es ein. Von dem neuen digitalen Kram hielt er nichts. Während Paul erzählte, nahm er die Atmosphäre der Wohnung auf. Weil das Haus von außen im alten Stil restauriert war, rechnete er an und für sich damit, dass das Innere antik aussah. Doch die typischen kleinen Zimmer, für diese Art Haus, gab es nicht mehr. Zumindest Parterre bildete einen großen Raum, von etwas mehr, als hundert Quadratmetern, aus dem eine freischwingende Treppe nach oben führte. Die Möblierung war eher karg und keiner Stilrichtung zuzuordnen. Heinz saß mit Blickrichtung zur Außenanlage, in die man über eine großzügige Terrasse gelangte. Kurz dahinter sah er den Saum der Heide.

»Ein Mann sagst du? Hast du den Namen?« Heinz hatte von der Krankheit Grebners gehört. Die Strapazen lagen immer noch auf seinem Gesicht. Ja … so eine Chemo ging nicht spurlos vorbei.

»Huub. Mehr weiß ich nicht.« Er hielt die Augen aufmerksam auf Heinz gerichtet. »Aber warum fragst du sie nicht selbst?«

»Werde ich noch tun. Oder meine niederländischen Kollegen, sobald wir eine Adresse haben.«

»Sie ist hier. Wusstest du das nicht?« Paul wirkte erstaunt. »Ich hab es deinen Kollegen gesagt.«

Heinz schüttelte lediglich den Kopf und stöhnte innerlich. Solch kleine Pannen passierten immer wieder, doch jedes Mal wurde sein Pulsschlag schneller.

»Huub Smeets«, sagte Griet van Houten wenig später. Sie hielt den Oberkörper ein wenig steif, ansonsten fiel ihre Verletzung nicht auf.

»Ein Kollege von Ihnen?« Heinz nahm ihre Gesamterscheinung auf. Eine große Frau, mit fast athletischem Körperbau und doch sinnlicher Ausstrahlung. Eine Figur, der fast jeder Mann einen zweiten Blick schenkte. Das sympathische Gesicht wies ungewöhnliche Merkmale auf. Nicht klassisch schön, jedoch ungemein anziehend. Nicht geschminkt, stellte er fest. Das dunkelbraune naturgelockte Haar reichte bis auf die Schultern.

»Ja. Wir arbeiten schon drei Jahre zusammen. Ich weiß nicht, weshalb er mich angegriffen hat.« Sie sprach fast akzentfreies Deutsch.

»Junge Frau. Niemand sticht jemanden einfach nieder. Zu einer solchen Tat gehören in der Regel zwei.« Sie versuchten es immer wieder, wenn sie befragt wurden. Dabei war klar, dass alles irgendwann auf den Tisch musste. »Hatten Sie Streit?«

»Wir haben gestritten. Ich weiß jedoch nicht weshalb.«

Heinz verdrehte die Augen. »Falls Sie nicht kooperieren, muss ich die niederländischen Kollegen einschalten. War es privat? Sind Sie mit Smeets liiert?«

»Ich? Mit Huub? Nein.« Sie schüttelte vehement den Kopf. »Wir haben ein Keltengrab entdeckt und unbefugt gegraben. Es gab Streit darüber, was wir mit den Grabbeigaben machen. Huub wollte verkaufen. Ich nicht.« Sie hatte mal gehört, dass man am besten ziemlich nah bei der Wahrheit blieb, wenn man etwas verschleiern wollte.

Das war möglich, wusste Heinz. In einem Streifen von Holland bis zum Niederrhein wurden immer wieder Keltengräber entdeckt. Seit seiner Kindheit verfolgten ihn die Geschichten um geheimnisvolle Druiden. Früher wurden sie ihm von seinen Eltern erzählt, heute gab er sie an seine Enkelkinder weiter. Doch anderseits wurde die Heide nach einigen Bränden, der letzte 1975, aufgeforstet, dort wäre ein solches Grab sicherlich entdeckt worden. Aber das wollte er zunächst beiseitelassen. »Welcher Art sind die Grabbeilagen?«

»Das Übliche. Krüge, also Geschirr und Münzen. Auf dem Schwarzmarkt gibt es dafür gutes Geld.« Sie verschwieg die künstlerisch gestaltete Scheibe.

»Melden Sie den Fund«, meinte er väterlich und schaltete das Diktiergerät aus. »Ich will nicht päpstlicher als der Papst sein. Wir werden Huub Smeets zur Fahndung ausschreiben.«

*

fünf

»Mein Zuhause.« Griet umfasste mit einer Handbewegung das geschmackvoll eingerichtete Zimmer. Hier gab es kein überflüssiges Möbelstück.

Vor wenigen Minuten stand er staunend vor dem alten Haus in der Paviljoensgracht. Griet schien kein Kind, armer Eltern zu sein. In der Nähe musste auch das Spinozahaus liegen, in dem der Philosoph bis zu seinem Tod gelebt hatte. Die Fassade war typisch holländisch. Schmal gebaut, mit kleinen Fenstern. Am Giebel ragte ein Balken heraus. Hier wurden die Möbel, die nicht durch das schmale Treppenhaus passten, hochgezogen und durch die Fenster ins Haus verbracht.

»Dort ist das Bad«, sie wies nach links. »Und dort oben kannst du dich einrichten«, sie zeigte nach rechts auf die Treppe. »Meine Schlafkammer ist unten und hier nach hinten heraus die Küche. Solch ein Haus ist neu für dich?«, lächelte sie. »Ich sehe es. Alles, was bei dir auf einer Ebene ist, verteilt sich hier über das ganze Haus. Aber ich liebe es. Komm, ich mache uns schnell einen Kaffee.«

»Was hast du als Nächstes vor?«, fragte Paul, der in einem Sessel lümmelte.

»Ich weiß noch nicht so genau. Aber warte mal.« Sie ging zur Wand und schob einen gerahmten Kunstdruck zur Seite, hinter dem ein Tresor zum Vorschein kam. Sie drehte an den beiden Rädchen, öffnete die Tür und griff zwischen einen Stapel Papiere.

»Hier.« Sie hielt ihm einen, in ein Tuch, gewickelten Gegenstand hin. »Guck dir das mal an. Ich werde mich eben umziehen. Ich habe keine Lust mehr, in deinen Klamotten rumzulaufen.« Sie trug immer noch Jeans und Shirt von ihm. Die Hose hatte sie umgeschlagen, denn, trotz ihrer Größe, passten die Sachen nicht.

Schon mehr als eine Woche war vergangen, seit er sie in der Heide aufgegabelt hatte. Es kam ihm wie gestern vor. Die Stichverletzung verheilte sehr gut. Sie hatte keine Bewegungseinschränkungen mehr, wie er feststellte.

Paul entfernte das Tuch von dem Päckchen und hielt eine ungefähr fünfzehn Zentimeter im Durchmesser messende, matt glänzende, Scheibe in den Händen. Ein Meisterwerk von unschätzbarem Wert. Wenn er nicht vorher von Griet gehört hätte, dass der Gegenstand mindestens zweitausenddreihundert Jahre alt war, hätte er ihn für eine industrielle Fertigung der Gegenwart gehalten. Nicht ein Hammerschlag verunstaltete die Oberfläche. Makellos und deutlich reihten sich Zeichen aneinander. Ehrfürchtig drehte er die Scheibe in den Händen.

»Was sind das für Zeichen?«, rief er in Raum.

»Ich weiß es nicht.« Sie kam von unten hoch und kämmte das schulterlange Haar. »Wir haben schon darüber gesprochen. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Kelten keine Schrift besaßen. Bisher gibt es zumindest nichts, was darauf schließen ließe. Sie benutzten hauptsächlich die lateinische Sprache, aber auch Griechisch. Es scheint fast unwahrscheinlich, dass sie eine eigene Schreibweise besaßen. Das passte nicht in ihre Lebensphilosophie. Sie glaubten, später, in einer anderen Person, weiterzuleben. Die wichtigen Dinge wurden von Druiden bewahrt und mündlich in den Generationen weitergegeben. Hinzu kam die sogenannte Anderwelt. Wie wir heute vermuten, der physikalische Bereich, also die Welt mit all ihren Planeten und Sonnensystemen sowie weiteren Geheimnissen. Ich verliere mich wieder …, wenn ich einmal anfange, höre ich nicht mehr auf«, sie hob entschuldigend die Schultern und grinste leicht.

»Mach nur weiter.« Er drehte die Platte in den Händen. »Ich finde es sehr interessant. Wer bekommt schon die Möglichkeit, von einer solch reizenden Dozentin, eine Vorlesung zu erhalten.«

»Mach mir später keinen Vorwurf. Ich will einfach nicht glauben, dass die Kelten keine eigene Schrift besaßen. Das und nichts anderes möchte ich beweisen. Ich bin wie besessen davon.« Sie umfasste seine Hände, die, die Scheibe hielten. Die grauen Augen blitzten und hypnotisierten ihn. »Dieses Teil hier wird mich weiterbringen. Das spüre ich genau. Immer wenn ich es in die Hände nehme, habe ich das Gefühl, mich zu erinnern. Ja, und das ist blöd, ich denke, ich habe die Scheibe in einem anderen Leben selbst gemacht. Nein, nein! Ich bin nicht verrückt. Ich sage ja, dass ich es selbst nicht glaube. Jedoch ist ein Teil der Keltenphilosophie die Wiedergeburt.«

»Es ist auch schwierig, zu glauben, dass du eine wiedergeborene Keltin bist. Du siehst so frisch aus.« Paul lächelte verhalten.

»Was höre ich da? Du baggerst mich an?« Grübchen zogen in ihre Mundwinkel. »Das ist verlockend. Aber im Moment ist mir nicht danach.«

»Dann versuche ich es später noch einmal.« Er nahm die Abfuhr gelassen. In den wenigen Tagen hatten sie einen Weg gefunden, ungezwungen miteinander umzugehen. »Was geschieht denn jetzt mit den Sachen, die wir aus dem Grab geholt haben?«

Im Verlaufe der Woche, kurz nach dem Besuch des Kriminalpolizisten, schlichen sie zur Heide. Griet wollte bergen, was ging, bevor hier Kommandos anrückten und das Gebiet sperrten. Sie legten das Grab vorsichtig frei, vermaßen es und schossen Hunderte von Fotos. Unglaublich, was sie zutage brachten. Kunstvoll gefertigte Schmuckstücke, irdene Töpfe, ein Schwert und römische Münzen, die fünfundsiebzig bis siebzig vor Christus datierten. Natürlich stammte auch die Silberscheibe aus dem Grab. Sie hatte Griet vorher mitgehen lassen.

In der Regel wurden solchen Gräbern nicht so üppige Gegenstände beigegeben. Neben dem normalen keramischen Urnengefäß, ein Schmuckstück. Die Person, die hier beerdigt wurde, schien etwas Besonderes.

Die Grabungen strengten an. Wenn sie nicht immer wieder eine kleine Scherbe oder ein Schmuckstück gefunden hätten, wäre es die langweiligste Arbeit gewesen, die Paul je verrichtet hatte. Griet gab nur Anweisungen und schoss Fotos. Dazu fertigte sie die Notizen, die, die jeweilige Fundstelle millimetergenau belegten. Die Wunde behinderte sie sehr. Die Artefakte lagerten nun verpackt in Pauls Keller.

»Ich muss zur Uni. Dort werde ich mit meinem Team das weitere Vorgehen besprechen.«

»Und Huub?«

»Das ist ein Problem, da hast du recht.«

»Ich muss mal für kleine Jungs.« Er stand auf und ging zur Toilette. Gedankenlos nahm er die silberne Platte mit. Mitten im Geschäft drang gewaltiger Krach ins Bad. Die erste Reaktion, nach draußen zu stürzen, unterdrückte er. Vorsichtig lugte er durch die Tür in den Raum. Drei Männer. Einer hielt Griet an den Armen und redete auf sie ein. Holländisch, aber so schnell, dass er es nicht verstand. Sie antwortete ebenso temporeich und wirkte wütend, jedoch nicht ängstlich. Die Person, links von ihr, ohrfeigte sie.

»Raus mit der Sprache. Wo ist die Silberscheibe? Wir bekommen es sowie aus dir heraus.« Ein Deutscher. Er schlug wieder zu.

»Ich habe sie nicht. Huub hat sie. Er hat sie mir weggenommen.«

Der Schläger sah zu Huub hinüber. Der schüttelte den Kopf.

»Nee, ik heb hem niet. Zij is slim en wil ons tegen elkaar uitspelen (Nein, ich habe sie nicht. Sie ist clever und will uns gegeneinander ausspielen).« Er ging auf sie zu und trat gegen das Schienbein.

Griet fiel mit schmerzverzerrtem Gesicht zu Boden und rutschte aus dem Griff, der sie hielt.

Paul nutzte den Augenblick und fegte aus dem Badezimmer. Er trat dem Deutschen mit voller Wucht gegen die Wirbelsäule, der daraufhin mit einem Aufschrei zu Boden ging. Mit der gleichen Bewegung schlug er Huub die Fäuste in den Nacken. Den Dritten hielt Griet im Schwitzkasten. Paul trat ihm seitlich gegen Kopf.

»Los komm, wir verschwinden.« Er packte sie am Arm.

»Hast du die Scheibe?«

»Nein. Sie ist im Bad.«

Griet stürmte ins Bad und dann weiter die Treppe hinunter. Paul trat dem Deutschen, der mit den Beinen strampelte, noch einmal vor den Kopf und verschwand ebenfalls.

»Wohin?«, fragte Griet, die hinter dem Steuer saß. Sie fuhr einfach los.

»Zu mir nach Hause. Ich denke nicht, dass sie uns dort vermuten. Sie wissen hoffentlich nicht, wer ich bin.«

»Ich habe nichts bemerkt. Sonst knarrt die Treppe, du hast es selbst gehört. Ich verstehe nicht, wie sie uns so überraschen konnten.«

Sie befuhren die Autobahn nach Rotterdam und über Antwerpen und Heerlen.

»Was sollte das jetzt?«, fragte Paul, nach einiger Zeit auf der Autobahn. »Tut dein Gesicht weh? Oder dein Schienbein? Die haben ja ordentlich zugelangt.«

»Es geht. Die Stichverletzung schmerzt schlimmer.«

»Soll ich fahren?«

»Nein. Es verschafft mir Ablenkung. Die wollten die Scheibe. Ich weiß nicht, warum sie mit solcher Gewalt agieren. Auf dem Schwarzmarkt bekommt man einiges dafür. Jedoch nicht so viel, als dass sich dieser Einsatz lohnte. Da steckt noch etwas anderes dahinter. Übrigens. Vielen Dank für deine Hilfe.«

»Habe ich gern getan. Es wurde Zeit, dass ich aus meinem Loch herauskam. Ich hatte ganz ordentlich Bammel. Aber es funktionierte. Ich wusste nicht, dass ich so viel drauf habe.« Er grinste stolz und rieb die Fäuste. »Was meinst du damit, dass da noch etwas anderes dahinter steckt?«

»Nur ein Gefühl. Ich muss darüber nachdenken. Da ist etwas, das ich nicht packen kann.«

»Ich spreche mit einem Bekannten, der bei uns im Dorf lebt. Ein seltsamer Kauz, jedoch in Geschichte ungemein beschlagen. Wenn er erzählt, habe ich den Eindruck, er sei selbst dabei gewesen.«

»Versuchen wir es. Vielleicht bringt es etwas. Wir wissen so wenig über die Kelten, da ist jeder Hinweis wichtig.«

Es dunkelte, als sie auf Pauls Hof fuhren. Im Haus hatte sich nichts verändert, das sah er sofort. Also wussten die Ganoven scheinbar nichts von ihm.

»Kann ich mein altes Zimmer wieder haben?« Griet lächelte. Ihm wurde flau in der Magengegend.

»Sicher«, brachte er heraus. Die sanfte Abfuhr in Den Haag hatte er nicht vergessen.

»Gut. Dann mache ich mich jetzt mal frisch.«

»Ich fahre nach Teveren zum Griechen und hole etwas zu essen.«

*

Sie saßen am Tisch und schauten sich abwartend an. Griet und Paul an der einen sowie auf der anderen Seite der Kauz und eine junge Frau, die Paul vom Sehen kannte. Sie lebte abseits des Hügels, der die Senke des Ortes abschloss. Sie oder ihre Eltern besaßen das mit Abstand größte Anwesen im Dorf. Das Alter der Frau lag um die Zwanzig. Sie trug lange blonde Haare und sah ihn mit den blauesten Augen, die ihm je unterkamen, an. Die gleichen ungewöhnlichen Augen, wie bei dem Alten. Von beiden ging Charisma aus, bei dem sich die Härchen auf den Unterarmen aufstellten.

Der Mann schien, bei näherer Betrachtung, in mittleren Jahren.

Griet musterte ihn von der Seite. Ungewöhnlich, er sieht aus wie ein Neandertaler, dachte sie. Vielleicht eine Genveränderung? »Ich bin Griet«, sagte sie in ihrer unkomplizierten Art, »Paul ist euch bekannt ... denke ich doch.« Sie sah ihn an.

»Wir begegneten uns hier und da.« Er nickte zu der jungen Frau hinüber. »Mit Arget unterhielt ich mich einige Male.«

»Ich bin Kyra. Du wohnst im Haus an der Heide«, stellte sie fest.

»Genau. Ich bin vor einigen Jahren wieder ins Dorf gezogen.«

»Paul, du wolltest mich zu einer wichtigen Angelegenheit sprechen«, unterbrach Arget, als wenn er keine Zeit habe. Er steuerte direkt aufs Ziel. »Nachdem, was du mir erzähltest, bat ich Kyra, dem Gespräch beizuwohnen. Ich muss ehrlich sagen, aus deinem Kauderwelsch bin ich nicht schlau geworden. Sie weiß viel mehr als ich. Wenn jemand euch helfen kann, dann sie.« Er sprach mit seltsamem Akzent, den Griet nicht lokalisieren konnte. Nein! Vielmehr schien es so, als müsse er mühsam Worte formen. Doch es geschah so schnell und automatisch, dass es kaum auffiel.

»Ihr habt einen Keltenschatz entdeckt? Na ja, zumindest …, das hat Arget verstanden. Ich möchte euch helfen.« Kyra lächelte und ihre Augen musterten sie zwingend. »Über meine Qualifikation reden wir später.«

»Genau. Griet hat ein Keltengrab gefunden.« Paul sah vorwurfsvoll zu Arget, der ohne Absprache dieses Mädchen hinzuzog. »Es ist jedoch anders, als es im Moment scheint. Sie ist Anthropologin an der Universität in Leiden, also Den Haag und …, indem sie einer falschen Person vertraute, zwischen die Fronten dubioser Gestalten geraten.«

»Das weiß Kyra. Ich habe ihr erzählt, was du mir sagtest. Vertraue ihr, wie mir.« Argets zerklüftetes Gesicht wandte sich ihm zu. Er runzelte die fliehende Stirn.

»Ich dachte, du hast nichts verstanden«, entgegnete Paul.

Fasziniert betrachtete Griet, mittlerweile ungeniert, den Kauz. Sie konnte sich nicht losreißen. Eine Ahnung überkam sie. In Argets Augen erschien ein spöttisches Funkeln. Er rückte seine Figur in Positur, legte die überlangen Arme auf den Tisch und betonte dadurch den Buckel, den er hatte. »Ich denke, das Wichtigste ist die silberne Scheibe … oder eben ein Teller? …, die ihr gefunden habt. Darf ich sie sehen?«

»Gern.« Griet reichte ihm die silberne Platte über den Tisch. »Ich hoffe, dass diese Zeichen die Existenz einer keltischen Schrift belegen.«

Arget und Kyra tauschten einen erstaunten Blick, als sie den Gegenstand sahen. Vorsichtig nahm Arget das Relikt und vertiefte den Blick auf die Oberfläche. Nach einer schier endlosen Zeit, so erschien es Griet, stand er auf und wanderte hin und her. Von diesem Augenblick an interessierte Griet der Keltenfund nicht mehr. Sie sah nur noch Arget ... und der war kein Mensch. Aber was? Etwas, dass sie kannte, jedoch nicht festmachen konnte. Die sehr langen Arme schlenkerten am Körper und der Gang sah unbeholfen und wiegend aus. Mit einer Hand federte er die Schaukelbewegungen des Körpers auf dem Boden ab. Ihre Gedanken glitten zum Gesicht. Was sie für eine fliehende Stirn hielt, gab es nicht. Anstatt der Nase befanden sich zwei Löcher in seinem Gesicht. Ein breitflächiges Antlitz ohne sichtbares Kinn. Das Gesicht war nicht geschaffen, um Gefühle zu zeigen. Aber sie sah die tiefe Nachdenklichkeit und den Ernst seiner Gedanken. Er trug Jeans und ein Shirt, das über den Oberkörper spannte.