Vitalzeichen - Wohin geht die Reise Ihres Lebens?

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Vitalzeichen - Wohin geht die Reise Ihres Lebens?
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Vitalzeichen
Wohin geht die Reise Ihres Lebens?


Henry Bocala

Aus dem Englischen von Matthias Caspers übersetzt.

Originaltitel: Vital Signs: Where is Your Life Heading?,

Leonine Publishers, 2015

Alle Bibelzitate sind der Einheitsübersetzung entnommen.

Coverbild: eigene Fotografie

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2015 für das Original: Henry Bocala

© 2020 für die Übersetzung: Matthias Caspers

Verlag und Layout:

Matthias Caspers

Dorpsstraat 6

4356 AJ Oostkapelle

Niederlande

ISBN: 978-3-750285-39-2

1. Auflage vom 2. Februar 2020.

Vorwort

„Von Kindern fernhalten!“

„Zahlen Sie Ihre Bestellungen!“

„Trinken Sie mit Maß!“

„Fahrspuren treffen aufeinander – Vorfahrt gewähren!“

„Einhalten, Hinschauen und Zuhören!“

Ü berall, wo wir hinkommen, sehen wir alle Arten von Erinnerungshilfen in Form von Straßenschildern, Produktkennzeichnungen und Gefahrenhinweisen. Sie sind so vertraut und alltäglich geworden, dass wir ihnen kaum noch Beachtung schenken. Doch in diesen öffentlichen Hinweisen steckt mehr als man denkt - sie helfen uns, Ordnung und Sicherheit zu erhalten; sie fordern uns alle zu gutem Benehmen auf, ohne uns unmittelbar zu einem tugendhaften Leben zu berufen.

Wenn wir innehalten, um die Lektionen in diesen Zeichen zu betrachten, werden wir uns realisieren, dass sie an unser Empfinden für Rationalität und Moral appellieren. Warum? Denn das ist es, was wir sind – uns selbst erkennende und rationale Wesen, die denken und entscheiden – basierend auf unserem Sinn für gut und böse. Wenn wir uns diese Zeichen zu Herzen nehmen, sind wir auf dem richtigen Pfad. Nein, sie geben keine detaillierten Hinweise dafür, was wir im Einzelnen tun müssen, um geformt zu werden. Es handelt sich hier um einfache, schnörkellose Anzeigen, die das Verhalten der Menschen ein wenig zu beeinflussen versuchen. Außerdem „hat Gott selbst den Menschen der Macht seiner Entscheidung überlassen“ (Sir. 15, 14).

Wenn moralische Ressourcen knapp sind, können einfache Hinweise, wie „Warten Sie, bis Sie an der Reihe sind!“ oder „Videoüberwachung in Betrieb“, eine große Hilfe sein, wenn nicht sogar eine Verpflichtung. Der erste Hinweis meint, dass wir die Ordnung einhalten sollen, während der Zweite die Warnung ausspricht, keinen Unsinn zu machen. Irgendwie müssen wir das ABC der guten Manieren und des richtigen Verhaltens, wie es uns im Kindergarten beigebracht wurde, von Neuem erlernen. Diese Hinweise haben uns viel über unsere menschliche Identität zu sagen: darüber, wer wir wirklich sind und wie wir unser Leben führen sollten.

Diese direkten, einfachen, prägnanten Botschaften enthalten eine Menge verborgenen Wissens. Sie sind kurz, weil sie für einen Leser in einem schnellen Fahrzeug oder für eine Person in Eile gedacht sind. Sie sind kurzgefasst, damit die Botschaft in einem Augenblick vermittelt werden kann und bündig, weil wir den Rest mit gesundem Menschenverstand leicht hinzufügen können. Es wird eben von uns erwartet, dass wir erwachsen sind, zu fundierten Einschätzungen fähig.

Waren Sie jemals am Ort eines Unfalls oder Verbrechens? Die Polizei trennt die Umgebung oftmals mit einem rot-weißen Plastikband ab, auf dem manchmal die Aufschrift „Unfallort! Betreten verboten!“ steht, womit gemeint ist, dass die Passanten nicht weiter gehen dürfen beziehungsweise fernzubleiben haben. Vor einigen Jahren gab es in einer Urlaubsgegend mit vielen Nachtklubs eine gewaltige Explosion, wobei zweihundert Menschen getötet wurden, von denen die meisten Touristen waren. Ein kleinerer Knall war ihr jedoch vorausgegangen. Wer auch immer die Bomben hochgehen ließ, hat die menschliche Furcht und Neugierde mit eingerechnet. Die erste Sprengung war nämlich dafür gedacht, die Menge herbei zu locken. Als der Tumult voller neugieriger Augen sich dann in der Nähe zusammengekauert hatte, kam der große Kracher. Durch diesen Trick konnten die Täter die Opferzahlen maximieren. Vielleicht hatte die Polizei keine Zeit gehabt, die Umgebung vor der zweiten Detonation zu sichern. Aber der Punkt ist, dass, wo immer es sichtbar ist, das Plastikband der Polizei eine moralische Lektion enthält.

So ist das auch der Fall mit Hinweisen wie „Zerbrechlich, mit Vorsicht zu behandeln!“, „Herumlungern verboten!“, „Langsam fahren, Kinder überqueren die Straße!“, „Ohne Ausweis kein Eintritt!“, „Lassen Sie Ihre Wertsachen nicht unbeaufsichtigt!“, „Helmpflicht!“, „Entflammbar: nicht rauchen im Umkreis von 50 m!“. Wie Sie wissen, ist die Liste solcher Vorschriften noch um einiges länger. Jede einzelne Botschaft spricht Sie und mich als verantwortungsbewusste Einzelperson an.

Obwohl die Hinweisschilder hauptsächlich zu Regulierungszwecken und nicht so sehr, um uns vom Gutsein zu überzeugen, aufgestellt wurden, fördern sie dennoch unser Tugendleben und helfen uns somit bessere Personen zu werden. Die Gesellschaftsordnung ist auf Werten und letztendlich auf menschliche Tugenden aufgebaut. „Zahlen Sie Ihre Bestellungen!“, erinnert uns an unsere Verpflichtungen der Gerechtigkeit. Im weiteren Sinne meint es auch, „Zahlen Sie Ihre Schulden!“ oder „Bringen Sie zurück, was Sie ausgeliehen haben!“ oder „Seien Sie aufmerksam gegenüber anderen!“. „Trinken Sie maßvoll!“, ermuntert uns nüchtern und maßvoll zu sein und uns selbst in allem, was wir angenehm finden, unter Kontrolle zu haben.“ „Anhalten, hinschauen und zuhören!“ ist eine andere Weise, um zu sagen: „Seien Sie klug und sorgfältig, suchen Sie Rat, lernen Sie von der Vergangenheit, denken Sie nach, bevor Sie handeln und seien Sie nicht leichtsinnig!“ So können wir diese Reihe immer weiter fortsetzen.

Es ist natürlich nicht die Aufgabe der Gesellschaft Heilige hervorzubringen. Sie werden wohl in den Einkaufszentren oder entlang den Straßen niemals Plakate sehen mit Texten, wie „Seien Sie ehrlich!“ oder „Leben Sie keusch!“. Von Natur aus vertritt die öffentliche Autorität oder der Staat nur eine sehr minimalistische Ethik. Die Aufgabe der Charakterbildung gehört richtigerweise in die Familie, Schule und Kirche. Die Aufgabe der Beamten des Staates geht hier nicht weiter als die Aufrechterhaltung der allgemeinen Ordnung.

In der medizinischen Fachsprache verweist der Ausdruck Vitalzeichen auf grundlegende Körperfunktionen, wie Herzschlag, Körpertemperatur, Blutdruck oder Atmungsfrequenz. Anders ausgedrückt, auf den Zustand der körperlichen Gesundheit. In diesem Buch nehme ich mir die Freiheit, den Begriff Vitalzeichen bildlich zu verstehen um Leitfäden zu geistiger Gesundheit zu bezeichnen, wie Produktaufschriften, Verkehrschilder, Gefahrenhinweise und ähnliches. Was ist die Verbindung? Nun, der Mensch ist eine Einheit von Fleisch und Geist, Leib und Seele, wobei letztere das Prinzip des Lebens ist.

Was mich inspiriert hat, Vitalzeichen zu schreiben, war der Mangel an eine eindeutige Richtung in dem Leben vieler Menschen und das Fehlen von moralischen Wegweisern in unserer verwirrenden Zeit. Die gesellschaftlichen Werte von früher sind weitestgehend verschwunden. Es gibt nur wenige Rollenmodelle, die oftmals auch noch weit entfernt sind. Viele ethische Systeme haben kein Bein, auf dem sie stehen könnten. Die Grenze zwischen Gut und Böse ist verwischt oder sogar komplett ausgewischt. Wenn Sie einen moralischen Kompass suchen inmitten einer Wüste des Relativismus, ist die Aussicht auf Erfolg ziemlich gering. Es ist wie die Suche nach seltenen Edelsteinen.

Wirklich wertvolle Materialien, wie Bücher über Tugenden (wo sie denn gefunden werden) sammeln Staub im Bücherregal an. Nur wenige machen sich die Mühe, diese zu lesen und noch weniger setzen das Gelesene auch um. In der Zwischenzeit tastet sich der Mann auf der Straße im Dunkeln herum. Somit müssen wir den geringsten Hinweis oder die kleinste Hilfe zu gutem menschlichen Verhalten wertschätzen. Der meist rudimentäre Plan zur persönlichen Entwicklung ist es wert, angesehen zu werden. Dies sind die Vitalzeichen, die wir oftmals als selbstverständlich erachten. Ich lade Sie ein, die Goldklümpchen Weisheit zu betrachten, die sie enthalten. Jedes Kapitel dieses Buches diskutiert eine Tugend, ausgehend von einem passenden Zeichen, das an und für sich nicht viel zu bedeuten haben mag, aber wenn es aus einer anderen Perspektive verstanden wird, eine Menge über menschliche Werte zu sagen hat. Dieses Buch ist leicht verständlich, aber machen Sie sich bereit dafür, etwas zu lernen.

Wir erkunden häufig die äußere Welt. Wir wissen allerdings nur wenig über uns selbst. Rund um die Uhr füllen wir unseren Tag mit zahlreichen Aktivitäten, während wir von der einen zur Nächsten eilen. Wir surfen im Internet, wir verbringen Zeit mit Freunden, kaufen viele Sachen, lesen die Tageszeitung, fahren mit dem Auto, pflegen den Garten oder treiben Sport. Wir scheinen voller Leben zu sein, aber das ist oftmals nur die Oberfläche. Unterhalb dieses Aktivismus findet sich oftmals nur eine gähnende Höhle innerer Leerheit. Das ist der Grund, wieso so viele Menschen nach außen hin glücklich erscheinen wollen, aber tief in ihrem Inneren von Trauer erfüllt sind.

Die hohe Geschwindigkeit des modernen Lebens lässt uns nur wenig Raum für Reflexion. Zahllose Bilder verwirren unseren Verstand. Da entsteht leicht ein Rausch, die Spitze zu erreichen und materiellen Komfort an erster Stelle zu stellen. Wenn wir uns nur Zeit nehmen könnten innezuhalten und uns selbst zu prüfen, würden wir unser inneres Leben entdecken; Gedanken, Emotionen, Überzeugungen und Werte – kurz gesagt, das Verlangen des Herzens nach einem wirklich sinnvollen Leben. Auf dem ersten Blick sind die Vitalzeichen, die wir an jeder Ecke sehen bloß offizielle Regeln, die jedermanns äußere Manieren lenken sollen. Aber sie zeigen ebenfalls auf unserer inneres Selbst; sie geben den Bereichen und Tendenzen unserer Seele eine Richtung an. Nächstes Mal also, wenn Sie über die Autobahn fahren, in einem Restaurant essen, einkaufen gehen oder eine Flasche Cognac öffnen, halten Sie Ihre Augen für diese Vitalzeichen offen! Sie werden so zu Lebensprinzipien, Hinweisen zur Erfüllung Ihres Selbst. Sie werden Ihnen helfen der Frage ins Auge zu schauen, die jeder Mann und jede Frau beantworten muss: „Wohin geht die Reise Ihres Lebens?“

 

Henry P. Bocala

Manila, 1. November 2014

Allerheiligen

1 Fahrspuren treffen aufeinander – Vorfahrt gewähren!

R egeln und Vorschriften für den Verkehr sind heutzutage in den meisten Orten der Welt in Kraft, aber die tatsächliche Situation draußen auf den Straßen kann viel komplexer sein, als die ausführlichsten Richtlinien vorhergesehen haben. Vielleicht haben Sie mal erlebt, als Sie in hoher Geschwindigkeit über die Autobahn gefahren sind, dass auf einmal ein Verkehrsschild erschien, das Ihnen mitteilte, dass eine Fahrspur endet und von Ihnen erwartet wird, dass Sie das Reißverschlussverfahren anwenden. Ein Blick zur Seite verrät Ihnen, dass ein Auto rechts neben Ihnen auf der Fahrspur fährt, die in kurzer Entfernung in die Ihrige aufgehen wird.

Wer hat in dieser Situation Vorfahrt? Würden Sie abbremsen und dem anderen Fahrer erlauben vor Ihnen einzufädeln? Manche sagen, das Auto, das von rechts kommt, hat immer Vorfahrt. Andere meinen, dass Nutzer der endenden Fahrspur warten müssen. Wieder andere denken, dass, wer die Nase vorn hat, auch zuerst fahren darf. Vielleicht liegt die richtige Antwort ja in der richtigen Vereinigung all dieser Auffassungen.

Passen Sie Ihre Geschwindigkeit an, treten Sie auf die Bremse oder auf das Gaspedal, je nach Straßenlage. Hier sind Reflex und Intuition von entscheidender Bedeutung, denn trotz Straßenverkehrsordnung ist die Grundregel im Verkehr, dass Kollisionen zu vermeiden sind, auch wenn man eigentlich zuerst fahren darf. Vorsicht und Augenmaß können uns vor fatalen Unfällen behüten.

Über allen Normen zur Verkehrssicherheit stehen Höflichkeitsregeln und Gebote der Nächstenliebe, die von zivilisierten Menschen befolgt werden sollten. Sie sind nicht in Gesetzestexten niedergelegt worden. Sie sind in das menschliche Herz eingeschrieben worden.

Am Steuer eines Fahrzeugs sitzt immer ein Mensch, eine Person, die unabhängig von ihrem Temperament, ihrer sozialen Etikette und ihrem fahrerischen Können ein wenig Verständnis, ein Körnchen Nächstenliebe verdient.

Lebenswege

Bildlich gesprochen ist unsere Reise durch das Leben voller „aufeinander treffender Fahrspuren“. Jeden Tag kreuzen wir den Weg der verschiedensten Menschen - zu Hause, im Büro, in der Schule, auf öffentlichen Plätzen, auf den Korridoren und Nebenstraßen des modernen Lebens. Andauernd begegnen wir verschiedenartigen Einzelpersonen aus Gründen wie Arbeit, Familie, Geschäft, Bildung, Religion, Gesundheit und Erholung. Rund um die Uhr befinden wir uns in vielerlei „Querstraßen“ zu unseren Mitmenschen. Unser eigener Lebensweg führt zur persönlichen Begegnung mit zahllosen Männern und Frauen.

Wir müssen an diesen Stellen achtsam sein, so dass wir nicht jemand anderen auf die Füße treten, ihn an seinem Weg hindern, ihn weg drängeln oder ihn zu einem abrupten Halt nötigen. Und wenn gegen uns in diesen Punkten falsch gehandelt wurde, dann lassen Sie es durchgehen, wenn Sie können. Es ist die Sache nicht Wert, viel Aufhebens um eine Kleinigkeit zu machen und die Dinge überproportional aufzublasen. Das wäre unter Ihrer Würde, abgesehen von der Beeinträchtigung Ihres Tages. Ausgedrückt in der Sprache des Autoverkehrs wäre das so, als wenn Sie einen extrem aggressiven Fahrstil an den Tag legen würden, nur weil das Fahrzeug neben Ihnen in einer Kurve ziemlich nahe an Ihre Stoßstange geriet. Seien Sie besonders vorsichtig! Sie werden bald über diese Sache hinwegkommen. Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf wichtigere Angelegenheiten.

Menschen, die zusammen leben oder arbeiten, können kleine Konflikte nicht vollständig vermeiden. Reibereien sind gleichsam vorprogrammiert, weil wir unterschiedlich denken oder verschiedene Auffassungen vertreten oder weil mein Weg, eine Sache zu tun, nicht genau dem Stil eines anderen entspricht. Einige Leute scheinen Schwierigkeiten zu haben das zu akzeptieren. Meinungsverschiedenheiten sind ziemlich normal in menschlichen Beziehungen. Wir sind nicht wie ein Bündel Dollarnoten, die von jedermann jederzeit gerne gemocht werden - auch dann nicht, wenn wir versuchen jedem gefällig zu sein. Wir leben in einer unvollkommenen Welt.

Wir können sehr vorsichtig sein, wenn wir am Verkehr teilnehmen, aber dennoch dem Risiko unterliegen, dass ein Unfall geschieht, denn die Straßen dort draußen sind voller leichtsinniger Fahrer. Eine amerikanische Studie, die mittels eines Fahrsimulators erstellt wurde, zeigt, dass manche Männer eine solche Leidenschaft für das Autofahren entwickeln, dass es zu einem sehr obsessiven Verhalten wird. Sie betrachten ihr Auto als eine Verlängerung ihrer eigenen Existenz und werden somit aggressiv, wenn sie an-gehupt oder geschnitten werden.1 Ein penetranter Fahrstil ist für manche Menschen der Weg ihre überzogene Männlichkeit zu zeigen, gestützt von einer Kultur, die in bestimmten Klischeevorstellungen des Männlichen untergeht. Diese Kraftfahrer bilden eine eigene Kategorie „Unannehmlichkeiten“ auf der Straße.

Fallen wir in diese Gruppe? Sind wir auf der Beobachtungsliste der Autobahnpolizei? Wenn ja: das Problem liegt in unseren Charaktereigenschaften. Sowohl auf der Straße wie anderswo geraten wir leicht in Schwierigkeiten, wenn wir unsere arroganten Verhaltensweisen, sarkastischen Kommentare, Aura der Selbstgerechtigkeit und Neigung das Leben anderer zu erschweren, nicht zügeln.

Die Straßen wären dann ein wenig sicherer, wenn Sie einfach zu Hause blieben. Gehen Sie dennoch hinaus, fahren Sie wohin Sie wollen! Bewegen Sie sich, wenn es notwendig ist, entlang der Kreuzungen ihrer gewöhnlichen Beschäftigungen, denn es ist über unsere häufige Begegnungen mit anderen, dass wir in der Tugend der Nächstenliebe wachsen können. Nur seien Sie von nun an rücksichtsvoller. Jene scharfe Bemerkung kann besser nicht ausgesprochen werden, es sei denn wir möchten nachher die unschönen Folgen bedauern. Eine snobistische Ausstrahlung oder kalte Abfertigung anderer kann uns in einen Kollisionskurs hineinführen (sogar unabhängig von hörbaren Worten), weswegen es besser ist, dass Sie höflich und zuvorkommend sind. Wir mögen die Eigenschaft haben, andere zu unterbrechen, wenn sie sprechen. Wenn Sie sich einmischen wollen, machen Sie es bitte in einer gefälligen Art. Vielleicht sind wir nicht gewohnt, dass man uns widerspricht. Es geht uns auf die Nerven. Es ist allerdings heilsam, eine aufgeschlossene und demokratische Gesinnung zu haben. Wir würden es nicht mögen, als in der Öffentlichkeit schreiender und brüllender Hitzkopf bekannt zu sein. Bleiben Sie ruhig! Unser aufkochendes Blut muss sich abgekühlt haben, bevor wir reagieren. Es zahlt sich aus, zu sagen „Es tut mir leid“, vor allem, wenn wir wirklich falsch lagen. Anschließend sollten wir danach streben, unseren rauen Charakter zu glätten.

Hüten Sie sich vor der Maxime des Teufels, die da lautet: „Vermuten Sie von anderen immer das Schlechte, damit Sie nicht zu kurz kommen werden!“ Einer meiner Freunde verspürte einen Ruck, als ein Geländewagen auf seine Fahrbahn schlitterte, der ihn zwang auszuweichen, wodurch er kurzzeitig die Kontrolle über sein Auto verlor. Wutentbrannt hielt er rasch an, warf die Türe seines BMWs weit auf und sprang hinaus um dem „Saukerl“, dessen Auto quietschend zum Stillstand gekommen war, lautstark die Meinung zu sagen. „Du betrunkener Fahrer, sei verdammt,“ brüllte er. Stattdessen erlebte er sein blaues Wunder als er entdeckte, dass der Kerl eine schwere Herzattacke erlitten hatte. Er eilte mit dem Mann zu einem nahegelegenen Krankenhaus, während die Reue sein Gewissen füllte: „Dummkopf! So schnell bist du damit, andere zu verurteilen.“ Der Fremde starb in seinen Armen.

Aufeinander treffende Fahrspuren, Vorfahrt gewähren. In einem positiven Licht gesehen sind „zusammentreffende Wege“ keine Bedrohung für uns. Weder signalisieren sie eine mögliche Rivalität, noch eine Gelegenheit zur Zwietracht, noch einen Grund für Uneinigkeit. Lebenswege, die zusammentreffen, sind dafür geschaffen, gemeinsame Interessen mit anderen zu teilen, sich an ihrer Gesellschaft zu erfreuen, ihre Beiträge willkommen zu heißen, ihnen von unserem Besitz etwas anzubieten, zusammen mit ihnen zu arbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen. Durch die aufeinander treffenden Wege des Alltags lernen wir, eher etwas aufzubauen, als es zu zerstören, eher eine Brücke zum anderen zu bauen, als sich von ihm zu trennen.

Auf manchen Straßen gibt es als Variante auf das Schild, das uns zum Gewähren der Vorfahrt anhält, ein Schild, dass uns ausdrücklich anhalten lässt: das Stoppschild. Etwas ähnliches machen wir auch, wenn wir andere von ihren Fehlern freisprechen, Menschen mit einem Bedürfnis nach Aufmerksamkeit zuhören, anderen den besseren Teil überlassen oder niedergedrückte Freunde aufheitern. Ebenfalls „halten“ wir inne, wenn wir vergeben, eine schwierige Aufgabe übernehmen, eine helfende Hand reichen, Trost bieten und über kleinliche Streitereien hinweg sehen. Manchmal müssen wir Wege sich gleichsam kreuzen lassen, wenn wir in einer Position sind, eine Atmosphäre des vertrauensvollen Miteinanders zu schaffen, wenn es Streit gibt, um jeden Hass in der Quelle der Liebe zu ertränken.2 Wir sehen, dass „aufeinander treffende Fahrspuren – Vorfahrt gewähren!“ stellvertretend für eine große Zahl an Manifestationen der Nächstenliebe in unserem Alltagsleben stehen kann.

Es ist in Ordnung ein Ziel ein wenig verspätet zu erreichen, sogar wenn uns das an die Grenze unserer Geduld bringen würde. Es ist besser etwas später wohlbehalten anzukommen, als in einem Krankenhaus oder gar auf dem Friedhof zu enden. Somit ist es auch in Ordnung, bei den „aufeinander treffenden Fahrspuren“ des menschlichen Austausches „Vorfahrt“ zu gewähren, auch wenn es unseren Stolz verletzt. Es ist besser, einen kleinen Vorteil zu „verlieren“ und dabei unsere guten Beziehungen zu erhalten, als den ersten Platz auf Kosten entzweiter Freundschaften einzunehmen. Ein defensiver Fahrstil hat zahllose Vorzüge. Menschliche Diskretion hat einen unermesslichen Wert.

Vielleicht wünschen wir uns, dass sich unsere Fahrspur niemals mit der eines anderen kreuzt, so dass wir die lange, breite Straße für uns alleine hätten. Sicherlich könnten wir unsere Routinearbeit schneller und unterbrechungsfrei erledigen, wenn niemand uns jemals stören würde. Wir würden verschont bleiben von Ärger, wie er von nörgelnden Ehefrauen, tyrannischen Vorgesetzten, allwissenden Kollegen, unverschämten Nachbarn oder eingebildeten Kunden verursacht wird, - wenn wir uns täglich für jeweils 24 Stunden in unserem Zimmer einsperren. Das wäre jedoch kein wirkliches Leben.

Schnellstraßen stehen jedem offen, der fahren möchte: Männern und Frauen, Reichen und Armen, Jungen und Alten, Schwarzen und Weißen, Kranken und Gesunden, Klugen und Dummen. Nächstenliebe diskriminiert nicht, denn sie ist ein Weg für jedermann. Besser noch, sie eröffnet neue Wege für andere. Unsere Pflicht zur Nächstenliebe entstammt der Tatsache, dass wir alle Mitglieder der menschlichen Familie sind, alle völlig gleichwertig, gesegnet mit einer gemeinsamen Würde, geschaffen als Bild und Gleichnis Gottes (vgl. Gen. 1,26-27) und erlöst vom Blut Christi. Das ist die unermessliche Würde unseres Nächsten, auch wenn wir seinen Namen nicht kennen.

Wenn wir wissen, wie zu lieben, lernen wir unterschiedliche Charaktereigenschaften zu würdigen. Freundschaften und menschliche Beziehungen jeglicher Art gedeihen durch Vielfältigkeit. „Wir brauchen die lebendige, sprudelnde Person, die jede Begegnung belebt. Wir brauchen die warmherzige, kontaktfreudige Person, die unseren Geist aufrichtet. Wir brauchen die aktive, aus sich herausgehende Person, die uns motiviert unsere Aufgaben zu Ende zu bringen. Wir brauchen die stille, introvertierte Person, dessen Gesellschaft so erholsam und entspannend ist. Wir brauchen die nüchterne, besonnene Person, an die wir uns in Zeiten der Verwirrung wenden dürfen um einen guten Rat zu bekommen.“3