Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens
Font:Smaller АаLarger Aa

Helmut Lauschke

Namibia - Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens

Band 1

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

Namibia – Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens

Band I

Ein erster Rückblick

Die letzten Jahre der Apartheid

Medizin inmitten des Krieges

Charakter gegen Charakterlosigkeit; vom interkontinentalen Genpool

Gesichter und Gespräche im International Guesthouse

Der erste Arbeitstag für Dr. Ferdinand

Der Intrigant und das Verhör

Jahre der Entscheidung

Perspektiven in die Zukunft

Aus den Tiefen der Daseins- und Glaubenskonflikte

Von großen Ärzten und ihrer Menschlichkeit in der schweren Zeit

Die orthopädische Arbeit an verkrüppelten Menschen

Die Dorfsirene heult

Anhang

Impressum neobooks

Namibia – Von der Weite der Landschaft zur Enge des Denkens

Band I

Den Menschen, die in der schwersten Zeit Menschlichkeit zeigten und Vorbild waren, zum Dank.

Ihr steht da und hofft vergebens, weil da nichts kommt, was längst hätte kommen müssen.

Im Gedenken der Kinder, die ihre Väter oder Mütter oder beide verloren haben, der Kinder, die vor Hunger Steine schluckten, der Kinder mit den Wasserbäuchen auf stelzigen Beinen und den großen Augen, die das Leben nicht mehr packten, der vielen Kinder, die die Minen in der Luft zerrissen, denen, weil sie überlebten, Arme und Beine abgeschnitten wurden, der Kinder, denen die Geburt den Nachteil brachte, und jener, die es zur Geburt nicht schafften.

Ein erster Rückblick

Jahre später, es war an einem Junidienstag, sollte Dr. Ferdinand endlich begreifen, dass das Leben auch für ihn seine Grenzen hatte. Es waren persönliche Gründe, dass er vor gut dreißig Jahren den Jahreswechsel in dem afrikanischen Land, das noch den alten Namen "Südwest-Afrika” trug, mit dem Gefühl höchster Einsamkeit verbracht hatte. Menschen, mit denen er zusammen war und sich als Freunde ihm gegenüber bekannten, sprachen vom guten Leben, das sie führten, und vom Wohlstand, zu dem sie es gebracht hatten, und Dr. Ferdinand es auch bald bringen werde. Diese Gespräche, zu denen Kaffee und Kuchen oder südafrikanische Weine aufgetischt wurden, offenbarten die aufs Materielle zusammengeschrumpfte Sichtweise dieser Erfolgsmenschen, denen es an geistigen Inhalten in erschreckendem Maße fehlte. Sie konnten es nicht erfühlen, was in seinem Herzen vorging. Ihre Oberflächlichkeit berührte ihn nicht. So blieb er innerlich allein. Doch Windhoek war nur die erste Zwischenstation, die er nach wenigen Tagen in Richtung Norden verlassen sollte.

Es war die Bundesrepublik Deutschland der achtziger Jahre, wo Dr. Ferdinand in einer kleinen Stadt im Flusstal der Lahn, die sich zwischen den Hügelketten des Taunus und Westerwalds in kurzen Kurven entlangschlängelt, als Chirurg und Unfallarzt in einem Krankenhaus tätig war, dessen erstes Fundament auf die Töchter des Reichsfreiherrn Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein, geboren am 26. Oktober 1757 in Nassau an der Lahn, zurückging. In diesem Tal mit seiner dahinfließenden Idylle hielten sich in großer Zahl jene Menschen auf, die die Ausübung ihrer Berufe mehr oder weniger abgeschlossen hatten. Menschen, die das Leben in Ruhe zu Ende gehen wollten, waren auch jene, die die Großzahl der Patienten von Dr. Ferdinand ausmachten.

Die letzten Jahre der Apartheid

Im Norden des Landes, wohin ihn Dr. Witthuhn in seinem Wagen als Superintendent eines dortigen Krankenhauses in einer Tagesfahrt über die siebenhundertdreißig Kilometer lange, kochendheiße Teerstrasse gebracht hatte, wo die afrikanische Sonne erbarmungslos sengte, war alles anders. Das Hemd mit weit geöffnetem Kragen war schweißdurchtränkt und klebte widerspenstig auf der Haut, als Dr. Ferdinand mit dem unwohlen Gefühl der Trockenheit im Munde den Eingang betrat, dessen Türen aus den oberen Angeln herausgebrochen waren und den Durchgang halb versperrend spitzwinklig gegen die Seitenwände lehnten. Ungewöhnlich war für ihn der penetrante, atemberaubende Uringestank, der ihm beim Betreten des Hospitalgeländes entgegenschlug. Seine Schritte wurden schneller, als wäre er in großer Eile. Doch diesem Gestank konnte er nicht entrinnen, auch nicht bei dem kurzfristigen Versuch, den Atem anzuhalten.

So kam es, dass Dr. Ferdinand seiner Begleitung fast entschlüpfte, durch den Eingang eilte und in einer hitzekochenden Halle stehenblieb, in der Menschen auf dem Boden wie verdrückte Trauben hockten, saßen und lagen und sich in ätzenden Schweißgerüchen verballten. Da bewegte sich kein Lüftchen, und die Menschen warteten geduldig auf einen Arzt. Der Anblick nahm ihm fast die Luft, denn so etwas hatte er noch nicht gesehen. Dr. Witthuhn, der Superintendent des Hospitals, folgte ihm mit auffallender Gelassenheit und ging mit der Sicherheit des Instinkts zwischen den menschlichen Knäuels, die das Gefühl der Trostlosigkeit erweckten, hindurch und zielsicher auf den fast verloren dastehenden Kollegen zu, um ihn mit den Gegebenheiten bekannt zu machen. “Es ist alles nicht so schlimm”, brummte Dr. Witthuhn vor sich hin und nahm den Kollegen am Arm und bahnte sich einen Weg durch die wartenden Menschenmassen, um ihm den Operationsraum im ‘Outpatient department’ zu zeigen. Dr. Ferdinand bahnte sich den engen Pfad zwischen Menschentrauben hindurch, über denen eine schwere Wolke scharfer Schweißgerüchen stand. Dieser Pfad war gesäumt von barfüßigen Müttern mit den Gesichtern der Hilf- und Trostlosigkeit, die abgemagerte Kinder mit großen Augen auf den Armen hielten, wenn sie nicht, weil völlig erschöpft, mit einem Tuch hochgebunden auf den Rücken der Frauen und anderer kindlicher Begleitpersonen wie der nur wenige Jahre älteren Schwestern schliefen. Der Pfad war auch gesäumt von alten Männern und Frauen in dürftiger, oft zerrissener Körperbedeckung. Ihre Gesichter schienen bereits zu erkennen, was dem diesseitigen Dasein abgekehrt war; manche von ihnen trugen hochgradige Zeichen der Abmagerung und Entkräftung mit den spindeldürren Armen und Beinen, einer gespensterhaften Fleischausdünnung bis aufs Skelett.

Es gab Kinder in diesen Trauben, die weinten; andere schrien vor Angst oder Schmerz, wieder andere lagen mit ihren Mündern an den schlaff herabhängenden Brüsten ihrer von Zweifel und Armut gezeichneten Mütter. Daneben gab es Männer und Frauen, die ihre Hände oder Füße bei der Feldarbeit verletzt, von einem Skorpion oder einem tollwütigen Hund gebissen wurden, oder jene, die durch unfreundliche Akte anderer Menschen an den Augen oder sonst wo verletzt waren. Der Gang durch die dichten Menschentrauben mit den Schweißgerüchen und Gesichtern, in denen das Leid stand, war ein erstes erschreckendes Erlebnis für Dr. Ferdinand. Es war ein erster Gang durch eine ihm vom Ausmaß her unbekannte menschliche Armut und Not hindurch bis zu der reichen Erkenntnis, die später folgen sollte, wie vielseitig und prägend der Alltag an dem war, was dem Leben alles fehlte, und wie der Mangel über Generationen ihr Leben ausgeformt hatte. Der Pfad zwischen den wartenden Menschen hindurch wurde noch enger, je mehr sie sich der Stelle näherten, auf die Dr. Witthuhn mit seiner hochgestreckten linken Hand zeigte und die der Operationsraum zur ambulanten Wundversorgung sein sollte. Auch hier, wie schon am Eingang zum Hospital, waren die Türflügel von den harten Schlägen vergangener Jahre zerschunden; der linke Flügel war aus den Angeln gerissen, und das Glas im rechten Türflügel war zerschlagen. Spitz ragten messerscharfe Scherben aus dem Glasrahmen heraus.

Der erste flüchtige Blick erkannte einen völlig veralteten Operationstisch, vom Typ Heidelberg, wie ihn sein Vater schon hatte, der deutliche Rostflecken aufwies, und an dessen Halterungen der Nickelüberzug zum großen Teil abgeblättert war, so dass der rostgebräunte Stahl zum Vorschein kam. Ein junger Arzt in der Uniform der südafrikanischen Armee machte sich an ihm zu schaffen, um eine Handverletzung eines auf dem Tisch liegenden jungen Mannes, dessen Gesicht vom Schmerz verzerrt war, zu versorgen. Da eine an der Wand befestigte Klimaanlage nicht arbeitete, grenzte der Hitzegrad ans Unerträgliche. Von den sieben Lichtkreisen der schief über dem Tisch hängenden Operationslampe waren drei erleuchtet. Es wunderte nicht, dass dem jungen Militärarzt der Schweiß im Strahl von der Stirn tropfte. Ihm zur Seite stand eine junge Schwester mit dem Gesicht einer schwarzen Madonna, die ihm behende Skalpell, Schere und Pinzette, welche teilweise von einer Rostpatina überzogen waren, von einem dürftig bestückten Instrumententisch reichte, dessen Rollen jede Bewegung quietschend bremsten. Eine ältere Frau mit einem Mädchen auf den Schenkeln saß auf einem gebrechlichen Stuhl mit wackelnder Lehne auch in diesem Raum. Es konnte eine Pflegeschülerin gewesen sein, die sich fast unbeholfen damit abmühte, dem Mädchen einen Fußverband anzulegen. Die Enge des Raumes, in die sich die wartende Menschentraube langsam vorschob, und die atemnehmende Hitze mit der raumfüllenden Palette penetranter Schweißgerüche nahmen zu, so dass Dr. Witthuhn seinem Kollegen vorschlug, den Rückweg anzutreten, um ihn durch die chirurgischen Stationen zu führen. “Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo unsere Patienten liegen.” Der Rückweg war noch beschwerlicher, da die Menschen in der Hoffnung auf eine baldige Behandlung noch enger gestaut standen. Denn mit Sonnenuntergang trat das Ausgehverbot in Kraft, das bedeutete, dass sie den Heimweg nicht mehr antreten konnten. Nachdem sie die dichte Menschentraube durchschritten hatten, als hätten sie sich einen Pfad durch den dichten Dschungel zu schlagen, waren sie draußen auf einem von Rissen durchsetzten betonierten Gang gelangt, der durch eine Überdachung von der erbarmungslosen Strahlung der sich neigenden Sonne auf halber Breite verschont war. Dr. Witthuhn, breitschultrig mit hervortretendem Bauch, wischte sich den Schweiß von der Stirn. “Gleich werden Sie sich selbst ein Bild machen können von dem, was unsere Ärzte und Schwestern leisten”, sagte er mit rückwärts gewandtem Kopf dem ihm folgenden Kollegen, während sie Patienten mit Kopf- und Armverbänden und andere passierten, die sich an selbstgefertigten Krücken unbeholfen vorwärts bewegten. .

 

“Jetzt folgen wir der blauen Linie.” Dr. Witthuhn zeigte auf einen vom Wetter verblichenen, ins irgendwo hinziehenden, blau gewesenen Strich, der neben nicht weniger blassen roten, grünen und gelben Strichen links auf dem von Rissen durchsetzten Betonboden verlief. “Diese Striche sind Wegweiser. Sie führen zu den verschiedenen Stationen und erleichtern den Patienten und ihren Angehörigen das Finden”, fügte er hinzu. Es war also der blaue Strich, den Dr. Ferdinand ins Auge nahm, als er Patienten, die sich kaum auf den eigenen Beinen halten konnten, Müttern mit abgemagerten Kindern auf den Armen oder auf den Rücken gebunden, alten Menschen mit zerfalteten Gesichtern und erblindeten Augen, die am Stock von einem vorangehenden Kind geführt wurden, den Weg frei machte. Sie folgten der langgezogenen, blauen Markierung mit den nach rechts und links abgehenden Winkeln und kamen schließlich an einem Flachbau mit einem Blechdach an, dessen Mauern Zeichen der fortgeschrittenen Verwitterung aufwiesen. Die sandbraun gestrichene Tür am Eingang war verfleckt und ramponiert. In diesem Moment wurde ein frisch Operierter mit einem dicken Verband an seinem kurz geratenen, linken Oberschenkelstumpf auf einer Trage hereingefahren, die statt auf vier nur auf drei Rollen rollte. Es war ein Jugendlicher, der noch nicht zu vollem Bewusstsein zurückgekehrt war, als zwei Krankenpfleger ihn auf der wackligen Trage in den ersten Raum fuhren und ihn ins Bett herüberhoben. In diesem Raum waren vier Betten links und vier Betten rechts. Alle waren von Männern belegt, die in den letzten Tagen operiert worden sind. Fünf von ihnen wurden wegen Verletzungen an den Armen oder Beinen chirurgisch versorgt.

“Es vergeht kein Tag, an dem nicht Verletzte gebracht werden”, bemerkte Dr. Witthuhn, “viele von ihnen kommen mit schweren Verletzungen, nachdem sie auf eine Personenmine getreten sind und die Explosion überlebt haben oder angeschossen wurden.” Die Männersaal verströmte den ätzenden Geruch von Schweiß und Urin und war hoffnungslos überfüllt. Was Dr. Ferdinand das erste Mal sah, war die Situation, dass außer den acht Patienten in den Betten noch weitere Patienten mit frischen Verbänden an einer oder beiden Händen auf Decken zwischen den Betten auf dem Boden lagen. Zwei ältere Männer waren an den Leisten operiert. Der mit vierunddreißig Betten bestückte Männersaal wurde von zwei Schwestern, einem Krankenpfleger und einer Krankenpflegeschülerin im zweiten Ausbildungsjahr pflegerisch betreut. Trotz der unverkennbaren Überlastung begrüßten sie Dr. Ferdinand mit ausnehmender Höflichkeit, die an Herzlichkeit reichte, und gaben ihm die Hand. In Afrikaans, der offiziellen Landessprache, fragten sie ihn, ob er nicht am Hospital arbeiten wolle, da die wenigen Ärzte überlastet seien, und ein Chirurg ganz fehle. “Eine Entscheidung wird bald fallen”, erwiderte er vorausahnend, dass da eine Herausforderung auf ihn zukommt, die er noch nicht hatte, wozu die völlig ungewohnten, klimatischen Bedingungen kamen, unter denen ein solches Arbeitspensum zu bewältigen war. Da erschienen ihm die Stunden des Tages kaum ausreichend. “Kommen Sie”, sagte Dr. Witthuhn, “es ist alles nicht so schlimm. Wir werden die Dinge in Ruhe in meinem Dienstzimmer besprechen.”

Das Dienstzimmer war auffallend geräumig, mit einem Sammelsurium unterschiedlicher Stühle, einem riesigen Schreibtisch, alten Regalen und einer großen Wandtafel im Rücken des leicht erhöhten, auf fünf Rollen beweglichen Schreibtischstuhls bestückt und durch eine arbeitende Klimaanlage auf eine angenehme Temperatur gebracht. Die beiden Kollegen setzten sich gegenüber, Dr. Ferdinand auf einen harten Stuhl, während sich Dr. Witthuhn mit dem Stöhnen der Erleichterung in den gepolsterten Stuhl mit erhöhter Rückenlehne und den abgegriffenen Armlehnen hinter dem Schreibtisch einsinken ließ. Der Polsterbezug war an der Rückenlehne eingerissen, und der vergilbte und durchlöcherte Schaumgummi trat hervor. Dr. Witthuhn schaute auf seine Armbanduhr, rief die Sekretärin und bestellte Tee mit Zucker und Milch. Währenddessen fragte er Dr. Ferdinand, ob er sich einen ersten Eindruck vom Hospital machen konnte. Dessen Blicke fuhren die Fensterfront ab, fixierten die schütter behängten Äste eines alten Baumes mit einigen herausragenden, dicken Aststümpfen, der sich zwischen dem Administrationsgebäude mit den Klimaanlagen und dem gegenüberliegenden Krankensaal ohne Klimaanlagen gehalten hat. In diesem Krankensaal war die Intensiv-Station für Patienten im kritischen Zustand sowie zwei Krankenzimmer für Privatpatienten. “Der erste Eindruck sprengt meine bisherigen Erfahrungen, ich habe eine solche Ansammlung von Patienten und Verletzten noch nicht gesehen”, sagte Dr. Ferdinand, dessen Augen die Aststümpfe, nachdem er sie gezählt hatte, verließen und den gegenübersitzenden Kollegen betrachteten. Dr. Witthuhn war ein Mann der Mittvierziger mit einem leicht geschwollenen Gesicht und tiefbraunen Augen unter dem dunklen Wildwuchs der Brauen. Seine Nase hatte einen breiten Rücken mit den ersten Zeichen der knolligen Entartung. Sein Mund führte dicke Lippen europäischer Ausmaße und zeigte beim Öffnen blendende Zahnreihen. Das Schwarz seines buschigen Haarwuchses wurde an den Schläfen von den ersten Grautönen des frühen Alterns durchzogen. “Herr Ferdinand”, sagte Dr. Witthuhn, “seitdem ich hier Superintendent bin, und das ist seit fünf Monaten, haben sich die Dinge bereits gebessert. So konnten einige alte Instrumente gegen neue ausgetauscht werden, zwei der vier Operationstische wurden überholt, und die Zahl der Ärzte konnte von elf auf vierzehn erhöht werden. Es ist richtig, dass diese Zahl für eine ordentliche Versorgung der Patienten noch immer zu klein ist. Doch bedenken Sie, dass hier Kriegsgebiet ist. Dafür ist diese Zahl schon beachtlich.”

Die Sekretärin, eine junge schwarze Frau mit den stimmenden Proportionen, die durchaus als schön zu bezeichnen war, brachte auf einem Tablett eine Kanne mit Tee, zwei Tassen, Zucker und Milch. Beim Abstellen des Tabletts auf den Schreibtisch sagte sie mit wohlklingender Stimme zu Dr. Witthuhn, dass Dr. Erasmus, der Sekretär der zentralen Gesundheitsverwaltung, aus Windhoek angerufen und um einen Rückruf gebeten habe, und dass Dr. Hutman ihn sprechen möchte. “Die Unterredung kann jetzt nicht stattfinden”, erwiderte Dr. Witthuhn, “Sie sehen, dass ich mit dem Kollegen im Gespräch bin, der aus Deutschland kommt, um hier als Chirurg zu arbeiten.” Die Sekretärin brachte Dr. Ferdinand ein Lächeln der Erleichterung entgegen, weil sie um die Ärztenot am Hospital wusste. “Sagen Sie Dr. Hutman, dass ich heute keine Zeit habe”, sagte Dr. Witthuhn, “wir können erst morgen früh nach Morgenbesprechung miteinander reden.” Mit einiger Mühe erhob er sich aus seinem gepolsterten Stuhl und goss Tee in die Tassen. “Nehmen Sie Zucker und Milch?” Dr. Ferdinand bat um Tee ohne Milch, dafür mit zwei Löffeln Zucker. Am Schreibtisch stehend rührte Dr. Witthuhn den Zucker in die gefüllten Tassen ein. Mit der Tasse in der Hand erwähnte er, dass für die Arbeitserlaubnis, die unbedingt erforderlich war, das “Medical & Dental Council” in Pretoria zuständig sei und diese von dort eingeholt werden müsse. Die Prozedur würde wahrscheinlich eine Woche in Anspruch nehmen. Dr. Witthuhn war zweckoptimistisch, als er bemerkte, dass das “Council” bisher immer behilflich war. Des Weiteren bot er dem deutschen Kollegen an, vorerst in seinem Haus zu wohnen, bis eine andere Möglichkeit der Unterbringung gefunden sei.

Es klopfte heftig an der Tür, und ein mittelgroßer Mann mit blassem Gesicht, rechts gescheiteltem Haar und auffallend dunkelbraunen Augen, die Feuer sprühten und den Angriff signalisierten, trat in korrekt gebügelter Leutnantsuniform der südafrikanischen Armee in den Raum, ohne auf das "Herein" zu warten. Dr. Witthuhn stellte den knapp dreißigjährigen Arzt mit dem Namen Dr. Daryll Hutman vor. Dieser setzte sich in einen gepolsterten Stuhl neben Dr. Witthuhn, während Dr. Ferdinand seinen harten Stuhl wieder einnahm. Der junge Arzt hielt seine Zunge für geraume Zeit unter Kontrolle und musterte mit seinen dunklen, nervös hin und her fahrenden Augen den Neuankömmling aus Deutschland mit einer nicht zu übersehenen Feindseligkeit. Diesem jungen Arzt machte es nichts aus, dass er das orientierende Gespräch zwischen den beiden anderen unterbrach und Dr. Ferdinand mit unerwarteter Aufdringlichkeit fragte, ob er hier auf Urlaub ist, ein Spezialist sei und ob er gar beabsichtige, hier zu arbeiten. Da sollte er den Krieg nicht unterschätzen, der in den vergangenen Monaten an Schärfe erheblich zugenommen habe, wodurch die Zahl der Verletzten stark gestiegen sei.

Dr. Hutman zeigte im Sprechen deutlich mehr Talent als im Zuhören. Das wurde deutlich, als er einen Beschwerdezettel aus der Brusttasche zog, mit den Beschwerden loslegte und schlichtweg keine Rücksicht darauf nahm, dass die beiden anderen Kollegen miteinander sprechen wollten, ohne dabei gestört zu werden. Er beschwerte sich über mangelnde Zusammenarbeit mit den Schwestern und Pflegern im Männersaal, die die Verbände nicht zu der vorgeschriebenen Zeit wechselten, die Infusionen und Bluttransfusionen nicht pünktlich anhängten und die Injektionen nicht wie vorgeschrieben gaben. Sie verweigerten schlichtweg ihre Kooperation. Der Versuch, das Problem in friedlicher Weise zu klären, scheiterte daran, dass Dr. Hutman den Superintendenten nicht aussprechen ließ. Bei seinem langen Beschwerdemonolog mit dem Herausstellen seines persönlichen Einsatzes, in dem er sich nicht unterbrechen ließ, konnte sich Dr. Ferdinand des Eindrucks nicht erwehren, dass das Uniformtragen eine Zurschaustellung von Macht an einer völlig falschen Stelle war. Da erinnerte er sich an seine Kindheit zurück, als Uniformträger in oft unerträglicher Weise ihre Macht zur Schau stellten und sich wichtig taten, so dass es für die Erwachsenen entweder lächerlich oder gefährlich wurde.

Dr. Witthuhn war dagegen Zivilist, und als solcher war er es, der mit dem ärztlichen Direktor, Dr. Eisenstein, welcher es sich in der Uniform eines Colonels auf seinem Sessel in einem geräumigen und angenehm klimatisierten Büro bequem machte, im Clinch lag. Die Sorgen des Dr. Eisenstein kreisten um die zahnärztliche Behandlung seines persönlichen Gebisses und seine Tätigkeit beschränkte sich auf die Herausgabe von Erlassen, die am laufenden Meter kamen, von Woche zu Woche schärfer wurden und in denen Zeichen der Diskriminierung nicht zu überlesen waren. Diskriminiert wurden Menschen der schwarzen Bevölkerung, die im Norden des Landes, unweit der angolanischen Grenze, wo der Krieg hauste, am meisten litten. Für diese „Bantu“-Menschen setzte sich Dr. Witthuhn als Superintendent des Hospitals ein, kämpfte für sie mit den Argumenten eines gebildeten Zivilisten gegen bornierte und machtbewusste Uniformträger, die ihre Aufgabe offensichtlich in Beschwerden und der Fließbanderarbeitung von Erlassen sahen. Dr. Witthuhn war ein Arzt mit Herz, der seine Arbeit in der Hilfe für die Menschen sah, und dem das Herz schwer wurde, wenn es wegen dieses Helfens zu Zusammenstößen mit den Uniformträgern kam. Er setzte sich dafür ein, dass das Hospital für die Zivilbevölkerung offen stand, um den leidgeplagten Menschen die Hilfe zukommen zu lassen, die sie so dringend brauchten. Einen Unterschied in der Hautfarbe durfte es für ihn in der ärztlichen Behandlung nicht geben, diese sollte für alle Menschen gleich sein. Dr. Hutman ließ den Superintendenten nicht aussprechen, der erst auf Englisch, dann in Afrikaans versuchte, auf die Beschwerdepunkte und ihre Ursachen einzugehen. Der Superintendent musste energisch werden, bat den jungen Arzt, ihn nicht ständig zu unterbrechen und schlug ihm vor, die intravenösen Injektionen und Infusionen selbst vor Operationsbeginn zu verabreichen. Er versuchte den jungen Kollegen davon zu überzeugen, dass eine gute Zusammenarbeit mit dem Pflegepersonal durchaus zu erreichen ist, wenn er als Arzt freundlich ist und mit mehr Geduld und Verständnis auf die Probleme im Krankensaal eingehe. Das Problem mit dem Fehlen von Antibiotika und bestimmter Infusionslösungen könne er auch nicht lösen, da er wie das ganze Hospital auf die Zuteilung von der Zentralapotheke in Windhoek angewiesen sei. Das wollte der junge Arzt in seiner geschniegelten Uniform nicht begreifen, und am wenigsten den Vorschlag, die Spritzen an den Patienten selbst zu setzen und die Infusionen vor Operationsbeginn selbst anzulegen. Für dieses Mehr an persönlichem Engagement und Verständnis für die Saalprobleme hatte der junge Arzt kein offenes Ohr. Eine diesbezügliche Belehrung lehnte er nachdrücklich ab. Der Eindruck entstand, dass das Tragen einer Leutnantsuniform der süd-afrikanischen Streitmacht mit dem Vorrecht verbunden war, einem Superintendenten kategorisch zu widersprechen. Das wollte sich Dr. Witthuhn nicht gefallen lassen. Den Kompromiss der Vernunft gab es nicht. Dr. Hutman, dessen Jähzorn sich mit dem Blut im Gesicht staute, stand auf und machte sich durch die Bemerkung unbeliebt, dass er sich beim ärztlichen Direktor beschweren werde, jenem Militäroberst, dessen zentraler Sorgenkreis die persönliche Zahnsanierung war. Der freche Arztkerl beschwerte sich, die Beschwerde hatte Erfolg, und der neue Erlass ließ nicht lange auf sich warten. In ihm war dann zu lesen, dass das Pflegepersonal den Anweisungen des Arztes strikt zu folgen und wegen der permanenten Überlastung der Ärzte auch ärztliche Aufgaben in den Sälen auszuführen hätte. Gezeichnet war er, wie alle Erlasse, von Dr. Eisenstein, „Colonel, Direkt or of Health & Welfare“.

 

Mehr über die verzwickte Situation im Gesundheitswesen des Landes und in der regionalen „Administration for Ovambos“ sollte Dr. Ferdinand am ersten Abend im Hause von Dr. Witthuhn erfahren, der als Sohn eines deutschen Missionars in der Kap-Provinz geboren und für einige Jahre sogar als Fliegerarzt beim Luftgeschwader „Richthofen“ im Oldenburgischen tätig war. Er sprach das Deutsch fließend mit einem südafrikanischen Akzent, wobei es gelegentlich zu „afrikaansen“ Verwechslungen kam. „Kommen Sie, ich zeige ihnen ihr Zimmer.“ Dr. Ferdinand folgte ihm und fand einen engen, vollgestopften Raum vor, wo auf dem Bett Hemden, Hosen, Socken und viele andere Dinge neben beschriebenen und unbeschriebenen Blättern und Zeitschriften lagen. Dr. Witthuhn räumte die Sachen mit wenigen Griffen vom Bett und schob übervolle und halb gefüllte Kartons zur gegenüberliegenden Wand, wo er sie zu einer Pyramide übereinander stapelte, deren Spitze bis zur Zimmerdecke reichte. Während Dr. Ferdinand sich in der Enge zu drehen und zurechtzufinden versuchte, ging Dr. Witthuhn ins Wohnzimmer zurück, legte eine Platte auf den Plattenteller und ließ Mozarts Zauberflöte erklingen. Im Auf und Ab dieser wunderbaren Flöte erfreute er sich besonders an der Papageno-Arie, die er musikalisch begleitete. Er war vor vielen Jahren Mitglied des Windhoeker „Cantare audire“-Chores und schwärmte davon, wie der Chor anlässlich des irischen Musikfestivals 1976 in Dublin den dritten Preis ersang. Dr. Witthuhn hätte ebenso Musiker sein können. Auch kannte er sich glänzend in der zeitgenössischen Malerei aus. Das zeigten die ausgesuchten, meist schief hängenden Bildreproduktionen an den Wänden seines ihm von der Owambo-Administration zur Verfügung gestellten Flachbauhauses mit Asbestwänden und Wellblechdach, das sich aus vier Zimmern, Küche, Duschraum und einer separaten Toilette zusammensetzte. Ein nicht weniger wichtiges Augenmerk in seinem Leben galt dem Gaumen und seinen Genüssen. Es schien zu seinen Abenden zu gehören, dass er mit Beginn des Sonnenuntergangs ungleich zerhacktes Ast- und Wurzelholz in die durchlöcherte Blechwanne in genialischer Unordnung übereinander legte, das Feuer entfachte und dabei den Papageno imitierte. „Ist das nicht herrlich?“, entzückte sich Dr. Witthuhn mit Blick gegen den sich rot färbenden Himmel mit der untergehenden Sonne, während unter leichtem Quietschen der Grammophonnadel in den ausgefahrenen Rillen der zu viel gespielten Platte Mozarts Zauberflöte aus der offenen Tür und dem gekippten Oberfenster des Wohnraums in der Wiedergabe der Wiener Philharmoniker unter Karl Böhm drang. „Das ist meine Medizin nach einem Tag Oshakati Hospital“, lachte er. Dann ging er zu seinem blauen BMW der Mittelklasse, den er als Superintendent eines Hospitals von der Gesundheitsadministration gratis bekam, öffnete den Kofferraum, holte Fleisch verschiedener Sorten, „Boerewors“ (Burenwurst), ein Zweikilonetz mit Kartoffeln, eine Plastiktüte mit vegetarischem Zubehör und eine Zwölferlage Bierdumpies der Marke „Guinness“ heran. Das Feuer in der durchlöcherten Wanne brannte lichterloh, als er die ersten zwei Dumpies öffnete, den Willkommensgruß für Dr. Ferdinand in Oshakati aufsagte, mit seiner Flasche leicht gekreuzt gegen dessen stieß und nach dem „Prost!“ sein Bier fast austrank.

Als die Flammen mit dem Züngeln aufhörten, verteilte Dr. Witthuhn die Glutstücke in der Wanne, wobei kleinere Stücke durch die Wannenlöcher glühend auf den Boden fielen, so dass man mit den Füßen aufpassen musste. Er legte den alten Rost mit den weit auseinander liegenden Quer- und Längsstäben auf die Wanne und die Schweinekoteletts, die Filetstücke vom Rind und die „Boerewors“-Kringel auf den Rost. Ein köstlicher Bratenduft begann aufzusteigen, dass einem das Wasser im Munde zusammenlief. Steaks und „Boerewors“ schmorten auf dem Grill, Dr. Witthuhn öffnete die nächsten Dumpies, man prostete sich zu, als plötzlich schwere Kanonenschüsse losdonnerten, Geschosse über Haus und Grill zischten, in der Ferne einschlugen und fürchterlich detonierten. Dr. Ferdinand erschrak dermaßen, dass ihm die Flasche aus der Hand rutschte und das auslaufende Bier seine Hose bekleckerte. Er erinnerte sich an die Fliegernächte seiner Kindheit in Köln, als die Bomben vom Nachthimmel runterzischten und in die Häuser krachten und sein Vater ihn, als er acht Jahre alt war, aufforderte, ihm mit einem Eimer Sand zu folgen, um die Brandbombe mit dem roten Streifen um den Zylinder gemeinsam zu löschen, die in die Bodenetage der Nippeser Zweigstelle der Kölner Stadtsparkasse eingeschlagen war. „So etwas kommt hier häufiger vor“, sagte Dr. Witthuhn, als er ihm eine neue Flasche öffnete, „besonders dann, wenn die Brigade ausgewechselt wird.“ Dickbereifte Militärfahrzeuge, die gefürchteten „Casspirs“ mit MGs über dem Fahrerhaus und aufsitzenden Mannschaften rasten über die Straße und wirbelten riesige Sandwolken auf, die über Haus und Grillplatz zogen und erst dahinter niedergingen. „Jetzt trinken wir erst einmal, das ist alles nicht so schlimm. Prosit der Geselligkeit!“ Nach diesen aufmunternden Worten leerte er seine Flasche, legte Kartoffeln auf den Rost zwischen die dampfenden Steaks und die „Boerewors“ und drehte und verschob mit der verrußten, fettverschmierten Zange die Dinge auf dem Rost wie ein Küchenmeister. Beide tranken auf eine gute Zusammenarbeit und eine bessere Zukunft und bestätigten einander, dass es nichts Besseres gegen den Durst gibt als ein gut gekühltes Bier. Für Dr. Ferdinand war der Satz, dass es sich hier im Norden auch unter den Granaten leben lässt, mit Zweckoptimismus gekoppelt, wobei die Kopplung für jene Menschen zutraf, denen es schon dreckig genug erging. Aus dem „guten Leben im Norden“ konnte er seine ersten Vermutungen ziehen, in welcher Lebenssituation Dr. Witthuhn steckte.