Das Pulver

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Das Pulver
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Impressum

Das Pulver

Helmut Höfling

Published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de Copyright: © 2012 Helmut Höfling ISBN: 978-3-8442-4676-6

Ja, sein und eure Macht verhasst zu machen,

Gesteh’ ich ein die scheußlichsten Gerüchte,

Bekenne alles frei, Verbannung, Mord,

Selbst Gift - - -

- - - Man wird dir, hohe Frau, nicht glauben.

Jean Baptiste Racine: Britannicus (1669)

***

Die größten Verbrechen sind eine Bagatelle im Vergleich damit, sich acht Monate lang damit abzugeben, seinen Vater zu töten und all seine Liebe und Güte entgegenzunehmen, auf die sie dann mit einer doppelten Dosis Gift Antwort gab. Medea war eine Stümperin gegen sie.

Marquise de Sévigné, Verfasserin von 1500 kulturgeschichtlich und stilistisch bedeutsamen Briefen, über die Marquise de Brinvilliers

***

Das Menschenleben ist zu einem Handelsartikel geworden, es ist beinahe das einzige Mittel, zu dem man in allen Familienschwierigkeiten greift, Gotteslästerungen, Tempelschändungen, Gräuel aller Art sind an der Tagesordnung.

Nicolas de la Reynie, Polizeidirektor von Paris zur Zeit des

„Sonnenkönigs“ Ludwig XIV.

Der Tod des Alchimisten
Die Kassette
1

„Die Kassette!“, war ihr erster Ausruf, als die Marquise von Brinvilliers den Tod ihres Liebhabers erfuhr. Kein Schmerzensschrei, kein Zeichen von Verzweiflung, keine Träne - nur „die Kassette!“ Woran dachte sie dabei, was war ihr daran so wichtig, wichtiger als ein Menschenleben? Barg die Kassette einen Schatz: Geld, Gold, Juwelen - oder ein Geheimnis, das dem Besitzer Macht verlieh über andere, Dokumente, die jemanden ins Verderben stürzen konnten, am Ende gar sie selbst?

„Die Kassette!“ Wer die Marquise genau kannte, hätte die nur mühsam unterdrückte Besorgnis in ihrer Stimme kaum überhören können, obwohl ihre Miene nichts davon verriet, sie wirkte gefasst und beherrscht wie immer.

Sofort nach dem Ableben von Sainte-Croix hatte man sie benachrichtigt, noch ehe die Legende sich verbreitete, er sei an den Folgen eines Unfalls während eines chemischen Experiments gestorben. Die Glasmaske, mit der er sein Gesicht vor den giftigen Dünsten schützen wollte, sei, so hieß es, bei seiner gefährlichen Arbeit heruntergefallen und auf dem Boden zerbrochen. Nur ein einziger Atemzug des Gifthauchs habe genügt, ihn auf der Stelle zu töten. Ganz so abwegig klang das nicht, wenn man wusste, womit er sich seit vielen Jahren beschäftigte.

In Wirklichkeit aber war Sainte-Croix nach mehrmonatigem Krankenlager am dreißigsten Juli 1672 eines natürlichen Todes gestorben. Einige Personen, die ihn in dieser Zeit in seiner heimlichen Klause in der Sackgasse Place Maubert besucht hatten, waren Zeugen seines Siechtums gewesen. Dort in seinem sagenhaften Laboratorium befand sich auch ein „Ofen der Geheimnisse“, wo der Verstorbene sogenannte „philosophische Studien“ betrieben, mit anderen Worten: am Stein der Weisen gearbeitet hatte, dem Traum aller Alchimisten.

2

In jenen Jahren im Schatten des „Sonnenkönigs“ hatten die Alchimisten, vertreten durch Männer wie Vanens, Chasteuil, Cadelan, Rabel, Bachimont, neben den Zauberinnen und Hexenmeistern weit über Paris hinaus das Land mit einem dichten Netz überzogen, mit dem sie Menschen aller Stände, selbst des höchsten Adels, mit ihrer gefährlichen Mitwisserschaft gefangen hielten wie Spinnen ihre zappelnden Opfer, um sie nach Belieben auszusaugen. Sie waren aber als Mitwisser zugleich auch Mittäter der abscheulichsten Verbrechen und darum ebenso Gefangene ihrer Kunden.

Diese Gesellschaft der Alchimisten und sogenannten „Philosophen“, die den Stein der Weisen suchten, blickte auf einen sehr bewegten Anfang zurück. Oberhaupt, in der Sprache der Kabbalisten, der Anhänger der mittelalterlichen jüdischen Geheimlehre, „Meister“ genannt, war François Galaud de Chasteuil, der zweite dieses Namens, Spross einer bekannten Familie der Languedoc, die dem Heer, der Kirche und der Literatur bedeutende Männer geschenkt hat. Im Jahre 1625 als zweiter Sohn des Oberstaatsanwalts der Rechnungskammer von Aix geboren, ahnte noch niemand, dass vor ihm ein äußerst bewegtes Leben voller Abenteuer lag. Als Doktor der Rechtswissenschaft beendete er seine Studien und wurde mit neunzehn Jahren zum Malteserritter ernannt, einem Orden, dem er so herausragende Dienste leistete, dass ihm der Großmeister das Ehrenkreuz auf die Brust heftete. Später wurde er Hauptmann der Garden des großen Condé.

Im Alter von siebenundzwanzig Jahren zog er sich nach Toulon zurück, rüstete ein Schiff aus und nahm unter maltesischer Flagge an der Kaperfahrt gegen die Türken teil. Sein Dasein als Freibeuter fand ein jähes Ende, als algerische Seeräuber ihn gefangen nahmen. Nach zwei Jahren in der Sklaverei gelangte er nach Marseille, wo er zur Abwechslung Klosterbruder wurde und rasch zum Prior der Karmeliter aufstieg. Das asketische Leben eines Mönchs aber war seine Sache nicht, er schmuggelte ein junges Mädchen, ein schlankes blondes Kind mit großen, unschuldsvollen Augen, in die Abtei und hielt es in seiner Zelle vor den Blicken seiner frommen Brüder verborgen. Was kommen musste, kam: Sie wurde schwanger. Doch ehe das nun nicht mehr so schlanke blonde Kind mit den großen und nicht mehr so unschuldsvollen Augen zur Niederkunft kam, erwürgte Chasteuil sie im Bett, von einem Laienbruder unterstützt, und trug sie bei Nacht in die Klosterkapelle, wo er einige Steinfliesen hob und ein Grab für die Tote schaufelte. Für einen Pilger, der vom Schlaf übermannt, neben einer Säule schlummerte, war es ein böses Erwachen, als ihn dumpfe Geräusche in der sonst so stillen Halle aufschreckten und er beim fahlen Schein des Mondes die beiden Männer bei ihrer schaurigen Arbeit erblickte. Starr vor Entsetzen wagte er kaum zu atmen und blieb bis zum Morgengrauen in seiner Ecke kauern. Erst als bei Tagesanbruch die Kirche geöffnet wurde, erstattete er sofort Anzeige. Chasteuil wurde verhaftet und zum Tod durch den Strang verurteilt. Er stand schon am Fuß des Galgens, als plötzlich wie vom Himmel gefallen der Galeerenhauptmann Louis von Vanens mit einigen Soldaten aufkreuzte und seinen Freund Chasteuil befreite, der, seinen Retter im Schlepptau, nach Nizza floh.

In einem abgelegenen Winkel, wo sie sich vor ihren Häschern sicher fühlten, schlugen die beiden Freunde ihre Behausung auf und begannen mit der mühevollen Arbeit, den Stein der Weisen zu finden, das heißt, aus Kupfer Gold und Silber zu machen. Chasteuil, der sich bereits mit Alchimie befasst hatte und im Besitz des berühmten Mysteriums zu sein glaubte, weihte Vanens zum Dank für die Rettung vor dem Henker in das sorgsam gehütete Geheimnis der Herstellung von Silber ein, nicht jedoch von Gold, ein Wissensschatz, den er dem Freund nicht preisgeben wollte. Bald darauf trat Chasteuil in die Dienste des Herzogs von Savoyen als Oberstwachtmeister der Garden de la Croix-Blanche und - unglaublich, aber wahr - als Erzieher von dessen Sohn, des jungen Prinzen von Piemont. Die Hoffnung, Metalle in Gold verwandeln zu können, hielt ihn weiter an zu „philosophieren“, und dass ihm der große Wurf gelinge, davon war er erst recht überzeugt, zumal er ein Öl erfand, das ihm todsicher den erwünschten Erfolg bescheren würde.

Chasteuil hatte eben erst die Vierzig überschritten, als er und Vanens sich mit Robert von Bachimont, Herr von La Nuré, verbanden, der mit einer Kusine des Oberpräfekten Fouquet verheiratet war. Dieser Bachimont besaß in Paris ein Haus in der Nähe des Temple mit vier Schmelzöfen, einem großen im dritten Stock, zwei kleineren im Zimmer nebenan und einem großen unten im Keller; außerdem hatte er eine Wohnung in Compiègne, im Ecu de France, wo nichts als Tiegel, Retorten, irdene und gläserne Gefäße, Destillierkolben, Schmelzöfen mit offenem und geschlossenem Herd, eiserne Röste, Mörser, Ammoniaksalze, Eisenfeilspäne, tausenderlei Pulver, Pasten und Tinkturen zu sehen waren. Darüber hinaus gehörte ihm auch noch eine Niederlassung in der Abtei d’Ainay bei Lyon, aufs beste eingerichtet für das Schmelzen von Metallen, die Destillation von Heilkräutern und andere alchimistischen Verfahren. Mit dem Grafen von Castelmehor, der einige Jahre der eigentliche Regent von Portugal gewesen war, gesellte sich eine weitere wichtige Persönlichkeit zu dem Dreierbund. Er habe ihm, so erklärte Bachimont, das Geheimnis der roten Glasfarbe enthüllt.

Chasteuil und seine Genossen suchten den Stein der Weisen, dessen Berührung die Metalle in Gold verwandeln sollte und die meisten Alchimisten in der Verdichtung des Quecksilbers zu finden hofften. Die Anhänger der „hermetischen Philosophie“ entdeckten, dass die Metalle zusammengesetzte Körper sind, deren Zusammensetzung identisch ist und sich nur voneinander unterscheiden durch die verschiedenen Proportionen der Elemente, die sie zusammenfügen. Durch ein Agens, das diese Proportionen versetzt, konnte man von nun an die Körper untereinander austauschen - zum Beispiel das Quecksilber in Silber, das Blei in Gold verwandeln -, und dieses Agens sollte der Stein der Weisen sein, das Quecksilber, nicht das gewöhnliche, für den Alchimisten nur ein verkümmertes Metall, sondern das Quecksilber der Philosophen, auch „grüner Löwe“ genannt.

Doch nicht nur der Verdichtung des Quecksilbers, das den Stein der Weisen hervorbringen sollte, suchten Chasteuil und seine Mitarbeiter auf die Spur zu kommen, sondern auch das Gold zu verflüssigen und damit, so glaubten sie, ein Universalmittel zu erhalten. Nach den Vorstellungen der Alchimisten stelle das flüssige Gold, aurum potabile, Gesundheit und Kraft wieder her, gebe den Greisen die Fülle der Gestalt zurück, nehme den jungen Mädchen die Bleichsucht, heile von der Pest und dergleichen fromme Wünsche mehr. Da sie jedoch kein verdichtetes Silber besaßen, um die Metalle zu verwandeln, suchten sie jene Projektionspulver oder Öle, von denen zu jener Zeit so viel die Rede war.

 

Nachdem sich die kleine Schar um Chasteuil 1676 in Paris niedergelassen hatte, stießen noch weitere bedeutende Gleichgesinnte zu ihnen: der Empiriker Rabel, ein berühmter Arzt; der reiche Bankier Cadelan, Sekretär des Königs, sowie der junge Advokat des Parlamentsgerichts Jean Terron du Clausel, der, was allen wichtig schien, eine sogenannte Lizenz zum Destillieren besaß. Das Heilwasser, das er erfand, bestand aus einer Mischung von Alkohol und Schwefelsäure: ein zusammenziehendes Mittel bei starken Blutungen. Gemeinsam mit Vanens wohnte er im Petit Hôtel d’Angle­terre in der Rue Anjou. Rabel hatte ein anderes Elixier gebraut, dessen Vorzüge er durch marktschreierische Anzeigen in Prosa und Versen anpries, und Cadelan war deshalb willkommen im Bund, weil er seine Geldmittel beisteuerte. Wenngleich die Alchimisten heilkräftige Öle und Wasser zu bereiten verstanden und äußerst gelehrt von den Eigenschaften der Metalle und deren Verwandlung sprachen, so waren sie trotz allem Falschmünzer. Das berühmte Silber, das Vanens und Chasteuil mit Kupfer herstellten, war nichts anderes als Neusilber, also Silberersatz. Eine Barre dieses angeblichen Silbers, die Vanens geschmolzen und Bachimont auf die Stadtmünze gebracht hatte, wurde infolge eines Versehens des dortigen Beamten angenommen. Kein Wunder, dass dieser Erfolg in ihnen allen die größten Hoffnungen weckte, die jedoch jäh zerschellten, als Louis von Vanens Anfang Dezember 1677 verhaftet wurde. Statt einen Spion erwischt zu haben, wie man anfangs noch glaubte, stellte sich heraus, dass es sich um einen Alchimisten handelte, und bald darauf wurde die ganze Sippschaft festgenommen, außer Chasteuil, der bereits verstorben, und Rabel, der nach England gezogen war.

Von allen Gefangenen war Vanens, der junge Edelmann aus der Provence, die Persönlichkeit, die am anschaulichsten zeigte, wie weit verästelt die Verderbnis der Moral, die alles zersetzende Fäulnis schon bis in die höchsten Gesellschaftskreise vorgedrungen war. Er unterhielt ausgezeichnete Beziehungen zum Hof, wo er mit der stolzen Mätresse des Königs, der Marquise von Montespan, auf vertrautem Fuße stand und ihr Ratschläge zur Beseitigung ihrer Rivalin erteilte, derentwegen man ihn, wären sie ruchbar geworden, hätte zum Tode verurteilen und vierteilen lassen können. Außerdem war er ein häufiger Gast der Voisin, einer der berüchtigtsten Giftmischerinnen, eine Zeitlang sogar ihr „Meister“: ein Beweis für die enge Verbindung der Alchimisten zu den Zauberinnen. Als eifriger Anhänger hatte er, begleitet von seinem Diener und einem Geistlichen, eines Nachts im Wald bei Poissy unter Beschwörungen und Anrufung des Bösen nach Schätzen gegraben. In die Bastille, wo er mit mehreren Gefangenen in einem Raum leben musste, hatte er seinen Windhund mitnehmen dürfen, auf dessen Bauch er um Mitternacht Gebete und Segenssprüche herzusagen pflegte. Dazu nahm er ein Gebetbuch, in dem die Heilige Jungfrau abgebildet war, hielt dieses Bild gegen den Hintern des Hundes und sprach:

„Erscheine, Satan, sieh hier deine Vielgeliebte!“

Auf die Bedenken seiner Mitgefangenen über diese Gotteslästerung gab er zur Antwort, dass weder Gott noch der König ihn an seinem Tun hindern könne, so sehr war er von der Macht des Teufels überzeugt, obwohl er genau wusste, wo er sich befand und dass solche Anrufungen des Höllenfürsten ihn auf den Scheiterhaufen bringen konnten.

3

Ein Laboratorium wie all die anderen Alchimisten mit Tiegeln, Retorten, irdenen und gläsernen Gefäßen, Destillierkolben, Mörsern, tausenderlei Pulvern, Pasten und Tinkturen besaß Sainte-Croix in der Sackgasse Place Maubert gleichfalls, wenn auch nicht in solchen Ausmaßen wie Chasteuil und Konsorten. Aber den Stein der Weisen und damit die Formel, Gold zu machen, hatte auch er nicht gefunden. Im Gegenteil, mit Schulden überlastet war er gestorben. Zur Sicherung des Erbes wurden seinen wenigen Habseligkeiten Amtssiegel aufgedrückt, die erst eine Woche später Kommissar Picard im Beisein des Gerichtsdieners Creuillebois entfernte sowie zweier Notare, des Vermögensverwalters der Witwe des Verstorbenen und eines Sachwalters, den die Gläubiger bestellt hatten. Von einer Kassette, die der Marquise von Brinvilliers als erstes bei der Nachricht vom Tod ihres Liebhabers eingefallen war, fehlte jede Spur, ja niemand sonst wusste überhaupt etwas davon.

Das änderte sich jedoch, als nach den ersten drei Sitzungen, die ohne Zwischenfall verlaufen waren, ein Karmelitermönch erschien und den Schlüssel zu dem Geheimkabinett überreichte, in dem sich der Schmelzofen befand. Neugierig, was sich hinter der Tür wohl verbarg, schloss man sie sofort auf und erblickte auf dem Tisch eine Papierrolle mit der Aufschrift: „Meine Beichte“. Ohne zu zögern, erklärten alle Anwesenden, zur Wahrung des Beichtgeheimnisses dürfe man die Rolle nicht öffnen, sondern müsse sie unverzüglich verbrennen.

Bei der eingehenden Durchsuchung des geheimen Kabinetts entdeckte man schließlich in einem ebenso geheimen Fach eine länglich geformte, rote Kassette mit einem dranhängenden Schlüssel. Was zuerst ins Auge fiel, als man sie aufschloss, waren mehrere Arzneifläschchen, die einen mit einer wasserhellen, die anderen mit einer rötlichen Flüssigkeit gefüllt, sowie verschiedene Pulver. Außerdem lagen darin Briefe der Marquise von Brinvilliers an Sainte-Croix, ferner zwei von der Marquise nach dem Tod ihres Vaters und ihrer beiden Brüder unterschriebenen Schuldscheine sowie schließlich noch eine Quittung und eine Vollmacht über den Betrag von zehntausend Livre, die Pennautier, der Obersteuereinnehmer der Geistlichkeit, durch Vermittlung von Sainte-Croix Herrn und Frau von Brinvilliers geliehen hatte. Diese Quittung und Vollmacht steckten in einem versiegelten Briefumschlag mit der Aufschrift: „Papiere, dem P. P. Pennautier, Obersteuereinnehmer des Klerus, als dessen Eigentum zurückzuerstatten, und ich bitte jene, denen sie in die Hände fallen, angelegentlich, sie ihm im Falle meines Todes zu übergeben, da sie für niemanden außer ihm Wert besitzen.“

Die Kassette selbst mitsamt ihrem übrigen Inhalt hatte Sainte-Croix mit folgenden Worten für die Marquise bestimmt:

„Ich bitte jene, in deren Hände diese Kassette gelangt, ergebenst, sie persönlich der Frau Marquise von Brinvilliers, wohnhaft Rue Neuve-Saint-Paul, übergeben zu wollen in Anbetracht dessen, dass alles, was sie enthält, nur diese allein angeht und ihr allein gehört und überdies niemandem von Nutzen wäre, ihr eigenes Interesse ausgenommen; und im Falle sie vor mir sterben sollte, bitte ich, die Kassette mit allem, was darin ist, zu verbrennen, ohne etwas zu öffnen oder zu verändern. Und damit man nicht Unwissenheit vorschützen kann, schwöre ich vor dem Gott, zu dem ich bete, und bei allem, was es Heiligstes gibt, dass ich nichts sage, was nicht auf vollster Wahrheit beruhte. Wenn je meinen Bestimmungen, die bei völlig gesundem Verstand gegeben wurden, zuwidergehandelt werden sollte, falle es in dieser und in einer anderen Welt auf ihr Gewissen, zur Entlastung des meinigen, und ich erkläre hiermit, dass dies mein Letzter Wille ist.

Gegeben zu Paris am 25. Mai nachmittags im Jahre 1670.

Unterzeichnet: Sainte-Croix.“

Als Nachschrift hatte er noch hinzugefügt: „Es ist ein einziges Paket an Pennautiers Adresse, das zurückgegeben werden muss.“

Der nachdrückliche Ton, mit dem der Verstorbene über die Auslieferung der Kassette samt Inhalt an die Marquise persönlich verfügt hatte, machte alle stutzig.

Was für Schätze waren es, die der Verstorbene dem Schutz Gottes und allem was am heiligsten ist, anheimgegeben hatte?

Warum trug das mit acht Siegeln von verschiedenen Wappen gesicherte Päckchen die Aufschrift: „Papiere, die nach meinem Tod zu verbrennen sind, da sie niemandem etwas nützen können. Ich bitte sehr inständig darum, und ich gebe es denen, in deren Händen sie kommen, aufs Gewissen, dass sie es tun, ohne das Paket geöffnet zu haben!“

Was hatte es mit dem sechsfach versiegelten Umschlag mit siebenundzwanzig Papierstückchen auf sich, jedes beschriftet mit „Verschiedene sonderbare Geheimnisse“?

Wozu hatten Sainte-Croix die vielen Chemikalien, teils in versiegelten Päckchen, wie Vitriol, Merkur, Höllenstein, Opium, gedient und wozu eine große, achteckige Flasche mit klarem Wasser und eine andere kleinere Flasche mit ebenfalls klarem Wasser, in der sich ein weißlicher Bodensatz befand? Auf den ersten Blick ließ sich nichts Auffälliges daran erkennen, man müsste wohl erst Versuche damit anstellen.

Klar war dagegen die Anweisung des Alchimisten über ein Pulver aus gedörrten Quittenknospen und Blättern, wie sich später herausstellte: „Das Blut der Weiber zu stillen“; hatte er auf dem Umschlag vermerkt.

Doch was war mit allem anderen?

Ohne Genaueres zu wissen, schien Kommissar Picard zu ahnen, dass damit mehr verbunden war als auf den ersten Blick ersichtlich, ein Zündstoff vielleicht, mit noch unabsehbaren Folgen. Er schloss daher das rote Kästchen mit dem Gerichtsstempel und trug den beiden Gerichtsdienern Cluet und Creuillebois auf, es sorgfältig zu verwahren, um dem Zivilrichter Gelegenheit zu geben, das Inventar höchstpersönlich zu sichten. Einer der beiden, Creuillebois, nahm die Kassette an sich.

Noch am gleichen Tag, an dem man die Kassette gefunden hatte, am achten August also, ließ die Witwe von Sainte-Croix die Marquise de Brinvilliers in Picpus davon in Kenntnis setzen, dass der Kommissar das Behältnis mit allen ihr gehörenden Gegenständen gerichtlich versiegelt habe. In der Annahme, die Witwe habe die Kassette in ihrem Besitz, schickte die Marquise einen Boten dorthin mit der Bitte, ihr alles auszuhändigen, woraufhin Frau Sainte-Croix einen Diener mit der Nachricht zu Picard sandte, die Marquise von Brinvilliers wolle ihn unverzüglich sprechen. Um Zeit zu gewinnen, verfiel der Kommissar auf die Ausrede, er bedauere sehr, ihrem Wunsch nicht nachkommen zu können, da er leider anderweitig zu sehr in Anspruch genommen sei.

Des Wartens müde war unterdessen die Marquise, von Unruhe getrieben, bereits selbst zu Frau Sainte-Croix geeilt, ungeachtet der späten Stunde gegen neun Uhr abends, und forderte ungestüm die Herausgabe der Kassette. Sie beschwerte sich, dass man Siegel angebracht hatte, und schlug vor, gegen einen Geldbetrag, den die Witwe ihrer Ansicht nach sicherlich gut gebrauchen könne, diese Siegel zu entfernen und den Inhalt herauszunehmen. Dafür solle man dann etwas anderes hineinlegen.

Als Frau Sainte-Croix ihr versicherte, die Kassette sei weder im Haus ihres verstorbenen Ehemannes noch in ihren eigenen vier Wänden, rief die Marquise unwirsch aus:

„Das ist ja reizend, dass dieser Kommissar einen Gegenstand, der mir gehört, einfach mir nichts dir nichts mitnimmt!“

Aufgebracht über das ihrer Ansicht nach rechtswidrige Verhalten Picards und zugleich auch aus Furcht wegen gewisser Papiere oder sonstiger irgendwie enthüllender Gegenstände, die Sainte-Croix in dem Kästchen aufbewahrt hatte, in verhängnisvolle Schwierigkeiten zu geraten, ließ sie sich zu dem Gerichtsdiener Cluet führen. In ihrem Wagen sitzenbleibend, beorderte sie ihn herunter auf die Straße und erklärte ihm, Herr Pennautier habe sie aufgesucht und ihr mitgeteilt, er sei sehr in Sorge wegen der Kassette und bereit, fünfzig Louisdor für deren Inhalt zu zahlen. Denn alles, was in jener Kassette liege, gehe nur ihn und sie selbst etwas an und dass sie nichts ohne sein Einverständnis getan habe.

Für den Gerichtsdiener war diese Kriegslist nicht zu durchschauen, für die Marquise von Brinvilliers aber ein Versuch, sich mit dieser dreisten Lüge selbst aus der Schusslinie zu bringen, wusste sie doch, dass verschiedene Schriftstücke in der Kassette für Pennautier von Interesse waren. Deshalb suchte sie ihre Angelegenheit mit jener des Finanzmannes, auf dessen einflussreiche Stellung sie baute, geschickt zu verquicken.

Der Name eines so hochgeachteten Mannes wie des Obersteuereinnehmers war dem Gerichtsdieners nicht unbekannt, änderte aber nichts daran, dass ihm die Hände gebunden waren. Ohne den Kommissar Picard könne er leider nichts tun, erwiderte er höflich, und außerdem habe er die Kassette überhaupt nicht, sondern sein Kollege Creuillebois, der sie ebenso wenig herausrücken dürfe.

 

Nur einen Augenblick lang verzerrte die Wut die sonst so lieblichen Gesichtszüge der Marquise von Brinvilliers: Gewohnt, ihren Willen immer und überall durchzusetzen, ertrug sie eine Niederlage nur schwer. Sie forderte Gehorsam, erst recht von einem Individuum wie dem Gerichtsdiener. Fest entschlossen, sich die Kassette zu holen, fuhr sie zum Haus des Kommissars, wo sie um elf Uhr in der Nacht anlangte und selbst heftig gegen die Tür pochte: Sie wünsche ihn augenblicklich zu sprechen. Aber auch dort musste sie einen Fehlschlag einstecken: Picard ließ sich gar nicht erst blicken, sondern durch seinen Schreiber Pierre Frater ausrichten, er sei schon zu Bett gegangen. Daraufhin forderte sie Frater auf, dem Kommissar zu melden, sie sei wegen der Kassette gekommen, die sich unter den versiegelten Sachen von Sainte-Croix befinde und ihr gehöre und die sie ungeöffnet zurückverlange. Die Antwort, die der Schreiber überbrachte, lautete, sein Herr könne die Frau Marquise nicht vor dem nächsten Morgen empfangen.

Statt selbst am folgenden Tag bei ihm vorzusprechen, erhielt Picard am Vormittag den Besuch eines gewissen Delamarre, der sich als Sachwalter des Châtelet auswies, wie das Pariser Gerichtsgebäude kurz genannt wurde, und erklärte, die Marquise von Brinvilliers habe ihn beauftragt, ihre Interessen zu vertreten. Sie lege größten Wert auf die Kassette und ersuche den Herrn Kommissar, ihm das rote Kästchen auszuhändigen. Dafür, fügte er mit Nachdruck hinzu, wolle sie ihm alles geben, was sie auf der Welt besitze.

Das ist gewiss nicht wenig, dachte Picard, hielt aber der Versuchung stand. Die hartnäckige Belagerung durch die Marquise ließ in ihm sogar den Verdacht aufkeimen, dass mit der Kassette weit mehr verbunden sein musste, als er bisher angenommen hatte. In dieser Vermutung wurde er sogar bestärkt, als ihn bald darauf auch noch ein schwarzgekleideter junger Mann aufsuchte, Briancourt mit Namen, der sich als langjähriger Bekannter und enger Vertrauter der Marquise de Brinvilliers vorstellte. Als armer Kandidat der Theologie hatte er jahrelang ihre Kinder unterrichtet, vor einiger Zeit die Stellung als Hauslehrer jedoch aufgegeben und sich von Picpus nach Aubervilliers zurückgezogen, wo er die Tage einsam verbrachte und wiederum Unterrichtsstunden erteilte, diesmal in der dortigen Anstalt der Oratorianer. Gut sieben Monate nach seinem Umzug hatte ihn die Marquise zum ersten Mal an seinem neuen Wohnort besucht und später dann und wann Erkundigungen über ihn eingeholt. Dort erreichte ihn auch eines Abends ihre dringende Aufforderung, unverzüglich zu ihr nach Picpus zu kommen, da sie ihm etwas Wichtiges mitzuteilen habe, was unberechenbare Folgen nach sich ziehen könne: Es war der Tod von Sainte-Croix am dreißigsten Juli.

Über diese Eilnachricht und die Besorgnis der Marquise ging Briancourt bei seinem Gespräch mit Picard stillschweigend hinweg. Dafür brachte er umso eindringlicher sein Anliegen vor oder vielmehr das seiner Auftraggeberin: die Herausgabe der Kassette. Die Marquise von Brinvilliers, so versprach er dem Kommissar, wolle ihm gern schenken, was er sich wünsche, wenn er die Kassette freigebe.

Zwei Bittsteller mit demselben Auftrag! Bildete sich die Marquise wirklich ein, ihn, den aufrechten Kommissar, der Verbrechen verfolgte, selbst zum Verbrechen zu verleiten, durch Bestechung ihn, den Gesetzeshüter zum Gesetzesbrecher verführen zu können? Mit Geld erreicht man zwar viel bei vielen, bei mir aber nicht, dachte er erbost. Da hat sich die Dame gründlich verrechnet. Eine Unverschämtheit, die sie noch teuer zu stehen kommt, vielleicht sogar viel teurer als sie und ich das jetzt ahnen.