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Aus Feinden werden Freunde

Das Jahr 1945 war die erste große Zäsur, weil Sieger und Besiegte erstmals erkannten, dass sie einander für eine friedliche Zukunft brauchen würden. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl im Jahr 1952, die sogenannte Montanunion, war die zweite. Dadurch haben Sieger und Verlierer, die ehemaligen Feinde Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux-Staaten die Kontrolle über die kriegswichtigen Produkte Kohle und Stahl einer supranationalen Behörde übertragen. Damit war eine in Europa bis dahin undenkbare Idee umgesetzt, nämlich dass die Nationalstaaten Souveränität aufgeben, um gemeinsam als souveräne Einheit und dadurch viel stärker aufzutreten. Dass die Montanunion nur zwölf Jahre nach dem Krieg durch die Römischen Verträge in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) mündete, war die dritte Zäsur. Der Euro sollte dann am Beginn einer politischen Union stehen. Ob die Reihenfolge die richtige war, also die Einführung des Euro ohne Wirtschaftsunion, darüber lässt sich ebenso trefflich wie sinnlos streiten. Nun aber könnte das Corona-Virus den Einigungsprozess der EU wieder zerstören. Oder im Idealfall die Wirtschaftsunion, die zur Währungsunion zwingend dazu gehört, bringen. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, stets Realist und rationaler Rechner, hat diese Hoffnung im Sommer 2020 in mehreren Interviews geäußert.

Die Generation, die nach dem Zweiten Weltkrieg die Fehler von früher nicht wiederholen und endlich ein friedliches Europa aufbauen wollte, kam von beiden Seiten des Schlachtfelds. Die Römischen Verträge unterzeichneten Männer, die kurz zuvor noch erbitterte Feinde gewesen waren. Walter Hallstein, Adenauers Staatssekretär und deutscher Mitunterzeichner, war zwar nicht Mitglied der NSDAP, aber als Universitätsprofessor aktiv in Nazi-Organisationen und ab 1942 Offizier der Wehrmacht. Aus den anderen Ländern kamen überwiegend Kriegsteilnehmer, deren Heimat von Deutschen überfallen worden war. Viele waren im Widerstand aktiv, wie der Franzose Christian Pineau. Der Sozialist wurde dafür im KZ Buchenwald interniert. Der Luxemburger Christdemokrat Lambert Schaus war als Zwangsarbeiter in Deutschland beim Bau der Autobahn eingesetzt, sein Landsmann Joseph Bech war Teil der Exilregierung in London.

Aber auch die nächste Generation, der auch ich angehöre, die den Krieg nicht mehr erlebt hat und in Frieden und wachsenden Wohlstand hineingeboren wurde, spürte noch die Auswirkungen unserer blutigen Geschichte. Als ich im Jahr 1981 als Volontär bei der Kommission in Brüssel gemeinsam mit rund hundert anderen jungen Leuten arbeitete, kamen wir manchmal beim Abendessen darauf, dass unsere Väter vielleicht aufeinander geschossen hatten oder dass Verwandte aus ihrer Heimat vertrieben wurden, entweder während des Krieges oder danach. Wir wollten für ein starkes Europa arbeiten, weil uns noch bewusst war, dass ein friedliches Zusammenleben in Europa nicht selbstverständlich ist. Diese einfache Erkenntnis ist in den letzten Jahren verlorengegangen oder sie wurde von Populisten, die Wählerstimmen durch die Abwertung anderer Nationen gewinnen wollten, bewusst torpediert.

Nationalstaaten als Spiegel für ehrgeizige Politiker

Die Corona-Krise des Jahres 2020 hat – 75 Jahre nach Ende des weltweiten Völkerschlachtens und des beispiellosen Verbrechens des Holocaust mit insgesamt rund 70 Millionen Toten – offengelegt, was in den Jahren zuvor schon gärte. Einige führende Politiker in den Nationalstaaten waren auf einmal keine Europäer mehr, die gemeinsam eine Pandemie bekämpfen wollten, sondern gaben sich als nationale Führer, die aus der größten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg einen persönlichen Sieg machen wollten. Das gilt nicht für alle, aber die Versuchung, Schlagbäume und Militär als Schutz gegen einen unsichtbaren Gegner und sich selbst als Spender von Vertrauen zu zeigen, war allzu groß.

Die gesamten Folgen der Pandemie sind noch nicht absehbar, aber deutliche Einschnitte in unser gewohntes Leben sind bereits passiert. Die Wirtschaft ist rasend schnell und massiv eingebrochen, deutlich stärker als bei der Finanzkrise in den Jahren nach 2008. Die Arbeitslosigkeit ist trotz großzügiger Kurzarbeitsprogramme so hoch wie nie seit den 1930er Jahren, Gräben tun sich auf zwischen Menschen mit sicheren Jobs und solchen, die vielleicht keine Arbeit mehr finden werden. Denn die Digitalisierung unseres Lebens wird einen weiteren Schub erfahren, und zwar zunächst mit der Konsequenz, dass Innovationen zu höherer Produktivität bei weniger Beschäftigung führen werden. Digitalisierung erleichtert die Überwachung der Menschen, wie wir aus China wissen. Diese und andere Fragen werden uns noch lange beschäftigen.

Auch China ist von der Krise betroffen, erholt sich aber bereits wieder. Chinesische Konzerne werden die Schwäche der europäischen Wirtschaft ausnützen wollen und versuchen, Unternehmen der Hi-Tech-Branche, deren Wert durch den Aktienkurs gesunken ist, billig zu übernehmen. Dagegen werden sich kleine europäische Volkswirtschaften nur schwer wehren können. Der Handel wird sich stärker ins Internet verlagern, was wiederum amerikanischen Konzernen wie Amazon nutzen wird. In Europa werden auf Dauer Arbeitsplätze wegfallen. Höhere Arbeitslosigkeit hat immer negative Auswirkungen auf die Gesellschaft. Wir sind geradezu abhängig von ökonomischem Wachstum, niemand weiß, wie wir mit einer auf Dauer schrumpfenden Wirtschaft umgehen sollen.

Aber was sind die politischen Folgen? Angela Merkel hat in einer Regierungserklärung Mitte Juni 2020, knapp vor Übernahme der halbjährlichen EU-Präsidentschaft, vor den wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie gewarnt: „Wir dürfen nicht naiv sein. Die antidemokratischen Kräfte, die radikalen, autoritären Bewegungen, warten ja nur auf ökonomische Krisen, um sie dann politisch zu missbrauchen.“ Als aus der AfD-Fraktion laute Zwischenrufe kamen, erwiderte sie: „Scheint sich jemand angesprochen zu fühlen.“

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán trat ganz unverblümt auf und schaltete das eigene Parlament aus. Er werde mit Notverordnungen regieren, solange er wolle, ließ er wissen. Hat der Druck aus dem europäischen Ausland dafür gesorgt, dass Orbán Mitte Mai einige Bestimmungen zurückgenommen hat? Sicher ist, dass es ihm wichtig war, die Nachrichten darüber in der EU zu verbreiten. Dass Verschärfungen im Strafrecht bleiben, hat er nicht erwähnt.

Viktor Orbán und seine Brüder im Geiste wollen die Krise nutzen, um ein anderes Europa zu formen. Am 9. Juli veranstaltete der ungarische Ministerpräsident gemeinsam mit dem serbischen Präsidenten Aleksandar Vučić, dem slowenischen Ministerpräsidenten Janez Janša und François-Xavier Bellamy, einem französischen Abgeordneten der Republikaner, eine Videokonferenz unter dem Titel „Europa unzensuriert“. Dabei erklärte Orbán, die Zentraleuropäer sollten die „Westeners“ mit ihrem „semi-marxistischen Konzept“ auffordern, sie in Ruhe zu lassen. Die Forderung nach Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln ist auch für Janša „kultureller Marxismus“. Heftige Konflikte für den Juli-Gipfel waren da schon vorgezeichnet, die dann auch bei der Verteilung der Milliarden des EU-Aufbauplans ausgebrochen sind. Einige westliche Staaten wollten die Förderung an die Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln binden. Orbán sprach nachher davon, dass es Versuche gab, ihn zu erniedrigen. Aber: „Ich habe den Stolz unserer Nation verteidigt.“ Der Stolz der Ungarn besteht also darin, den Rechtsstaat nicht mehr ernst zu nehmen? Wir wollen nicht glauben, dass das die Mehrheit der Ungarn so sieht.

In Österreich agierte die Regierung zunächst geschickt und band auch das Parlament ein, aber dass ausgerechnet ein grüner Gesundheitsminister, der durchaus sensible Rudi Anschober, eine Verordnung erließ, wonach geregelt wurde, wie viele Personen sich in Privathaushalten aufhalten dürfen, sorgte doch für eine böse Überraschung. Dass der österreichische Nationalrat in sehr schnell beschlossenen Gesetzen der Regierung Ermächtigungen erteilte, die in Friedenszeiten normalerweise undenkbar sein sollten, war notwendig, musste aber auch Misstrauen hervorrufen. Und erst recht, dass die Regierung Ausgangssperren verkündete, deren juristische Grundlagen fehlten. Am 15. Juni 2020 konfrontierte Armin Wolf Bundeskanzler Sebastian Kurz in der ZIB 2 mit der Tatsache, dass dieser ohne rechtliche Grundlage erklärt hatte, es gäbe nur vier Gründe, das Haus zu verlassen. Und dass Strafen verhängt wurden, die von den Verwaltungsgerichten später aufgehoben wurden. Das Land Niederösterreich hat sogar pauschal alle Strafen aufgehoben. Kurz dazu eher kleinlaut: „Das kann ich nicht beurteilen.“ Während der Pandemie hat er entschlossener geklungen. Krisen verführen von der Macht leicht zu Verführende.

Viele Regierungen verspürten auch die Versuchungen digitaler Kontrollmöglichkeiten. Wie tief diese Überwachung per Smartphone in China schon vor dem Virus gegangen war, haben die westlichen Medien schon länger verwundert beschrieben. Das könnte auch bei uns Alltag werden. Ebenfalls erschreckend: Die Grenzen, die es seit dem Schengen-Abkommen, erstmals vereinbart im Jahr 1985 und seither verfeinert, nicht mehr geben sollte, wurden dafür missbraucht, medizinisches Material zu blockieren. Eine Union, also der Zusammenschluss und gemeinsame Aktionen der Staaten, waren plötzlich die Ausnahme in Europa. 35 Jahre nach der Abschaffung der Schlagbäume existierte plötzlich wieder ein Europa der Grenzen.

Eine neue Generation von „starken Männern“

Ja, es geht – fast – nur um männliche Politiker. Wenn man von Wien in einige Staaten des Balkans blickt, dann entdecken wir Parallelen. Und es stellt sich immer stärker die Frage, was heute Menschen dazu bewegt, in die Politik zu gehen. In der Generation nach dem Zweiten Weltkrieg war das klar: Männer wie Adenauer oder De Gaulle wussten, dass ein neuerlicher Krieg den Kontinent und ihre beiden Länder endgültig zerstören würde. In Österreich hatten Leopold Figl oder der spätere ÖGB-Chef und Innenminister Franz Olah erlebt, wohin Hass führte. Im Konzentrationslager Dachau hatten sie Zeit, darüber zu reden. Das änderte nichts daran, dass sie einen klaren Kompass für ihre unterschiedlichen politischen Überzeugungen hatten und, ihrem inneren Kompass folgend, nach dem Krieg mit vielen anderen eine erfolgreiche Demokratie mit einem funktionierenden Rechtsstaat aufbauten.

Nun sind die Ausgangslagen am Balkan und in Österreich grundsätzlich verschieden, haben aber ähnliche politische Player hervorgebracht.

In Österreich ist mit Sebastian Kurz und seinem ihm ergebenen Umfeld, bestehend überwiegend aus jungen Frauen und Männern, eine ideologie- und ideenbefreite Generation angetreten, für die ein politisches Projekt lediglich die Funktion hat, eine Botschaft zu produzieren – und diese hat nur einen Zweck: Sie soll den Anführer in das bestmögliche Licht zu rücken. So lud der junge Kurz zum „24-Stunden-Verkehr“ mit der U-Bahn ein, weil das lässig klingt. Vor dem EU-Gipfel im Juli warnte er vor einer EU als „Schuldenunion“, um bestehende Ressentiments gegen Europa zu mobilisieren. Die ÖVP setzt eben auf die versprengten FPÖ-Wähler.

Fazit: Weder war in Wien ein verkehrspolitisches Konzept zu erkennen, noch zeigte die ehemalige Europapartei ÖVP bisher eine Überzeugung oder gar Ideen, wie die Institutionen der EU zum Vorteil aller besser funktionieren könnte. Das Foto von heute und die Schlagzeile von morgen sind das ganze Programm. Als Integrationsstaatssekretär ließ sich Kurz gerne beim Fastenbrechen mit Muslimen fotografieren, es schien ihm opportun. Als später viele Flüchtlinge kamen, bot das „Schließen der Balkanroute“ eine publicity-trächtige Schlagzeile. Das Prinzip ist dasselbe geblieben, aber jetzt geht es um etwas: um unsere Zukunft in Europa, um Frieden, Freiheit und Wohlstand.

Filip Radunović, österreichischer Politologe mit montenegrinischen Wurzeln und großer Analysefähigkeit, denkt auch an Österreich, wenn er vom Balkan und der Gemeinsamkeit der Erben Titos spricht: „Der montenegrinische Ministerpräsident Ðukanović, der serbische Präsident Vučić, der albanische Regierungschef Rama und andere haben die Fähigkeit, sich durch mehrere politische Metamorphosen immer dem politischen Momentum anzupassen. Sie haben noch die Ausläufer des Titoismus erlebt, dann aber ab den frühen 1990er Jahren den Zeitgeist aufgenommen, der ja zunächst frei von Werten war. Da war und ist absolute Loyalität wichtig, das beobachte ich auch in Österreich, dazu kam ein dubioses Verständnis von Rechtsstaat und eine Art ‚Orwellismus‘. Damit meine ich, dass diese Politiker die Sprache verwenden, um zu verschleiern. Vor allem der serbische Präsident Milošević konnte überzeugt Dinge formulieren, wenn er deren Gegenteil meinte.“ Wollen diese Politiker in den Balkanstaaten ihre Länder überhaupt in die EU führen, wohl wissend, dass sie Macht abbauen und Rechtsstaatlichkeit aufbauen müssten? Darum wird es in den Kapiteln Balkan und Kandidaten (ab S. 145) gehen, aber sicher ist, dass politisches Personal mit klaren Überzeugungen und historischem Bewusstsein seltener wird, in der EU und außerhalb. Zum Zusammenhalt trägt das nichts bei.

Europäische Identität als Ergebnis unserer Vielfalt

Die Europäische Union war bereits vor der Bedrohung durch das Corona-Virus im Begriff, langsam zu zerbröseln. Das haben viele gemerkt und wurden nicht gehört, andere haben diesen Prozess bewusst beschleunigt. Jetzt müssen die Regierungen und die Bürger, die es sich in der Europäischen Union recht gemütlich eingerichtet haben, endlich aufwachen, jetzt geht es darum, den Verfallsprozess zu stoppen – oder sich der Konsequenzen einer zerstörten Union bewusst zu werden.

Es gab natürlich positive Beispiele während der Corona-Krise: die Krankenhäuser, die Patienten aus anderen Staaten aufgenommen haben, die Kooperation der Wissenschaftler, die an Therapie und Impfung forschten, auch die zu Beginn recht schnellen Absprachen der Finanzminister für die erste gemeinsame Finanzierung der Folgen der Krise. Aber das starke Gefühl, dass alle Staaten diese riesige Herausforderung gemeinsam annehmen würden, die gab es im Sommer 2020 nur vereinzelt in Europa. Sonst hätten ja nicht manche Politiker durchaus in guter Absicht, aber etwas zu laut betonen müssen, dass die EU aus dieser Krise gestärkt hervorgehen würde.

Neben zahlreichen Fakten wird es in diesem Buch auch um Emotionen gehen, weil diese in unserer Social-Media-Bilderwelt immer wichtiger werden und von der offiziellen Politik der EU-Kommission ohnehin sträflich vernachlässigt werden: Wer bin ich? Ein Österreicher? Ein Wiener? Ein Europäer? Oder einfach ein Mensch, der ein Leben lang die Vielfalt Europas mit sehr viel Freude in sich aufgenommen hat? Was spüre ich, wenn ich die österreichische Bundeshymne höre und die rot-weiß-rote Fahne sehe? Mit welchen Gefühlen höre ich die Europahymne? Muss es ein Widerspruch sein, Österreichs große Söhne und Töchter zu besingen und gleichzeitig zu jubeln, dass alle Menschen Brüder werden, wie es nach Friedrich Schillers Text in Beethovens Europahymne heißt? Auch die Komponisten und Autoren der beiden Hymnen bilden mehr europäische als nationale Identität ab: Paula von Preradović war die Tochter eines kroatischen Dichters und k.u.k-Offiziers, Wolfgang Amadeus Mozart setzte in seiner Arbeit europäische Geistesgeschichte in geniale Melodien um, der in Marbach am Neckar geborene Friedrich Schiller war der deutsche Dichter der Freiheit und bekam 1792 auch die französische Ehrenbürgerschaft verliehen, und der „Wiener“ Ludwig van Beethoven aus dem rheinischen Bonn schrieb mit Fidelio eine große Freiheitsoper. Auch heute noch brauchbar ist sein Zitat über das richtige Leben: „Wohltuen, wo man kann; Freiheit über alles lieben; Wahrheit nie – auch sogar am Throne nicht – verleugnen.“

Es ist wunderbar, in einer vielfältigen Landschaft leben zu dürfen und Teil einer historisch oft mühsam gewachsenen Gesellschaft zu sein, die einen weltweit einmaligen Reichtum an Sprachen, Erfindungen und kulturellen Leistungen hervorgebracht hat und die sich ihrer schwierigen Vergangenheit stellt. Vor allem aber: Wir sind Teil einer Gemeinschaft, die sich weiterentwickelt hat, die aus der Geschichte gelernt hat, die auf hier entstandenen Menschenrechten und Werten beruht, die zumindest theoretisch überall auf der Welt anerkannt werden. Als europäische Werte und als Teil unserer europäischen Geschichte.

Es gibt die vielbeschworene europäische Identität bereits. Die 75 Jahre von Frieden, Freiheit und Wohlstand im Westen, kombiniert mit dem erfolgreichen Kampf mittel- und osteuropäischer Völker um ihre Freiheit von den kommunistischen Regimen vor über 30 Jahren ist eine einmalige Erfolgsgeschichte. Die Kriege am Balkan haben dort auf grausame Weise verdeckte Konflikte offengelegt, aber die Staaten arbeiten zum Teil recht erfolgreich am Aufarbeiten ihrer komplizierten Geschichte, die zum Teil auch unsere in Österreich ist. Wir müssen dazu stehen, dass sich die gemeinsame europäische Identität aus vielen Konflikten entwickelt hat, dann wird unser Zusammenleben ganz selbstverständlich werden. Immer mehr Menschen spüren, was diesen Kontinent ausmacht und dass wir trotz aller Unterschiede viel Gemeinsames teilen. Genau diese Vielfalt macht die europäische Identität aus, und deshalb ist sie kein Widerspruch zu einer nationalen Identität.

Und jetzt noch die Gretchenfrage: „Nun sag, wie hast du’s mit der Religion?“, heißt es in Goethes Faust. Bemüht wird dann oft die ebenso beschönigende wie unrichtige Floskel vom christlichjüdischen Erbe. Nun, dieses gibt es höchstens in dem Sinn, dass das Christentum zum Teil auf die Schriften des Judentums aufbaut. Sonst ist es das Christentum, das den Kontinent und die Menschen seit der konstantinischen Wende im Jahr 313 und der darauffolgenden Ernennung zur Staatsreligion des Römischen Reiches im Jahr 380 bestimmte. Wobei Kaiser Konstantin auch gegenüber den Juden Toleranz zeigte und im Jahr 321 ein Edikt erließ, wonach Juden in der Kölner Stadtverwaltung arbeiten dürfen. Das ist der älteste Hinweis auf jüdisches Leben nördlich der Alpen. Später wurde die jüdische Bevölkerung oft bestenfalls geduldet, um sie als Händler oder Banker zuzulassen, immer wieder ausgegrenzt oder gar in schrecklichen Pogromen verfolgt. So gehört auch der Holocaust zu unserer Geschichte. Die Erinnerung daran und ein glaubwürdiges „Nie wieder!" müssen Teil des europäischen Erbes sein. Und unser Respekt muss darüber hinaus allen Opfern des Nationalsozialismus gelten.

Das Christentum war prägend, zunächst im Untergrund, dann als katholische Staatsreligion in Verbindung mit der staatlichen Macht, wo das Versprechen des Himmelreichs gefügig machen sollte: als staatlicher Protestantismus, nationale Orthodoxie in den slawischen Ländern und schließlich als Auslöser oder auch nur Ausrede für Religionskriege. Der Wiener Kardinal Christoph Schönborn hat mir in einem Interview einmal klar gesagt, dass sich die Aufklärung positiv auf die katholische Kirche ausgewirkt hat. Das Primat des Staates über jede Religionsgemeinschaft darf nicht in Zweifel gezogen werden, das hat die katholische Kirche mühsam gelernt, das müssen manche Muslime noch verstehen, wenn sie in Europa leben wollen. Gelebte christliche Nächstenliebe haben Organisationen wie Caritas oder Diakonie im Zuge der Flüchtlingskrise bewiesen. Sie haben nicht danach gefragt, wer welcher Religion angehört, sondern einfach geholfen haben. So gesehen hat das „christliche Abendland“, das Viktor Orbán so gern beschwört, mit gelebtem Christentum nichts zu tun. Die Trennung von Kirche und Staat muss in Europa ebenso unbestritten sein wie Religionsfreiheit, aber auch das Faktum, dass nur staatliche Gesetze gelten können. Das hat jeder zu akzeptieren, der hier leben will.

Wer gefährdet das Zusammenwachsen, das Herausbilden der gemeinsamen Identität? Im Moment sind es gar nicht die rückwärtsgewandten Nationalisten, die diesen Prozess gefährden. Es sind vielmehr Politiker, die aus Unsicherheit darüber, wie ein gefährliches Virus einzudämmen ist, wieder nur in nationalen Dimensionen denken und handeln. Und Populisten, die die Angst der Menschen für autoritäre Maßnahmen nützen und noch mehr Angst schüren, um als „starke Männer“ auftreten zu können. Die Geschichte der letzten 75 Jahre beweist, dass wir die großen Herausforderungen immer nur gemeinsam bewältigt haben. Das Virus weist uns darauf hin, dass nun vieles, was selbstverständlich war, gefährdet ist: unsere Sicherheit, unser Wohlstand, generell unsere an Freiheit orientierte Lebensart. Um das alles zu erhalten, müssen wir jegliche Illusion verlieren und gemeinsam das Richtige tun.