Unrecht, Irrtum und Gerechtigkeit

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Unrecht, Irrtum und Gerechtigkeit
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Helfried Stockhofe:

Unrecht, Irrtum und Gerechtigkeit

Text und Umschlaggestaltung: © 2019 Copyright Helfried Stockhofe

Verlag: Helfried Stockhofe, Untere Ringstr. 22, 93455 Traitsching

Druck: epubli, ein Service der Neopubli GmbH, Berlin

Unrecht, Irrtum und Gerechtigkeit ist ein inhaltsgleicher Auszug aus dem Sammelband:

Flinker und Birtele - Falsche Fährten

Als sie aber im Bett lag, kam er gekrochen und sprach: "Ich bin müde, ich will schlafen so gut wie du: Heb mich herauf, oder ich sag´s deinem Vater." Da ward sie erst bitterböse, holte ihn herauf und warf ihn aus allen Kräften wider die Wand: "Nun wirst du Ruhe haben, du garstiger Frosch."

(aus Grimms Märchen)

Teil 1: Wer entkommt der Enttäuschung und Gewalt?

1

"Wo willst du hin?"

Sie sagte kein Wort. Sie wandte sich ab und ging. Sie hob nur die Schultern. Das war ihre Antwort. Hieß das "Ich weiß nicht"? Oder zog sie den Kopf ein, aus Angst, er würde sie schelten wie der Vater der Kindheit, weil sie schon wieder nicht funktionierte und sich davonmachte? Auf jeden Fall ging sie weg und ihr Schritt beschleunigte sich.

Er lief ihr nicht nach, hielt sie nicht fest. Er rief nur: "Warte doch!" Aber sie blickte sich nicht um, ging noch etwas schneller und verschwand um die nächste Häuserecke. Jetzt, wo sie ihn nicht mehr sehen konnte, eilte er ihr nach. An der Straßeneinmündung stoppte er und schaute vorsichtig um die Ecke. Sie lief wie ein junges Mädchen, das schnell nach Hause wollte, machte kleine, flinke Schritte, sah sich nicht um, sondern blickte auf das mausgraue Pflaster, so als müsste sie hundert Kaugummis ausweichen oder Hundekot oder vielen Glasscherben, dabei waren es nur Steinchen, die ein unbedachter Mensch von der Baustelle nebenan auf den Gehsteig geworfen hatte. Auch Steinchen können einem in den Weg gelegt werden, auch über Steinchen kann man stolpern. Und schon wieder bog sie ab.

Er hätte sie wohl nicht fragen dürfen, nach den vielen Jahren, in denen sie sich nicht gesehen hatten, hätte bei einem Smalltalk bleiben müssen. Dabei fing das Gespräch gut an, sogar eine scheue Umarmung war drin. Er vermied es, "Wie geht es dir?" zu fragen, weil er diese Anfangs-Floskel hasste. Vielleicht, weil er selbst darauf nicht antworten mochte, weil er nicht lügen konnte, aber die Wahrheit niemand etwas anging, sie auch niemand wirklich hören wollte. Nein, er sagte: "Ich freue mich, dich zu sehen" und das stimmte. Sie konnte ihn immer noch nicht duzen, antwortete: "Ich freue mich auch, Sie zu sehen!" Und auch das stimmte. Da war er sich sicher.

Zehn Jahre hatten sie sich nicht gesehen, vielleicht fast elf. Sie war erwachsen geworden, eine junge Frau, und er war immer noch zehn Jahre älter als sie. Seine jetzigen Schülerinnen waren zwanzig Jahre jünger als er, aber der Altersunterschied zu ihnen schien ihm immer noch gering. Die Schülerinnen mochten es wohl anders erleben. Damals jedoch, bei nur zehn Jahren Altersunterschied, wagten sie es, sich in ihren jungen Lehrer zu verlieben. Sie stießen bei ihm mit solchen Gefühlen nicht auf viel Gegenliebe, denn sie waren für ihn nur Schülerinnen. Er bemerkte kaum einmal ihr weibliches Äußeres, bei den meisten zumindest. Es gab auch einige besonders auffällige, nämlich sehr schlanke oder sehr dicke Mädchen, sehr geschminkte oder besonders schick gekleidete. Doch die meisten sahen äußerlich wie Jungs aus, seiner Wahrnehmung nach zumindest.

Sie war immer eine Dünne. Aufgefallen war sie ihm aber wegen ihrer Gescheitheit und ihrer geistigen Reife. Nein, auch ihr verlegenes Lächeln gefiel ihm. Und ihre langen brünetten Haare, hinter denen sich, wenn sie schrieb, ihr Gesicht verbarg. Er musste nie fürchten, dass hinter dem Haarvorhang ihre Blicke zur Nachbarin schweiften. Sie hätte nie abgeschrieben! Zu gewissenhaft war sie.

Doch eines Tages war sie weg! Ganz verschwunden. Nicht nur abgebogen hinter dem alten Haus dort unten am Ende der Straße. Nein, vor zehn Jahren war sie ganz weg, einfach abgehauen.

"Warum bist du einfach abgehauen?" Er hätte das nicht fragen sollen. "Wo bist du damals hin?" Warum sollte sie es ihm erzählen, jetzt, bei dem zufälligen Treffen irgendwo in der Stadt. Wie konnte er glauben, dass das große Rätsel mit einer ganz banalen Antwort nun geklärt werden würde, so einfach auf der lärmenden Straße zwischen den scheinbar kreuz und quer laufenden Leuten, die nicht ahnten, welche Dramen sich damals abgespielt hatten. Dramen, von denen nur sie wusste, und Dramen, die damals viele wussten, weil sie verschwand, die Jugendliche, fast schon junge Erwachsene. Die Eltern suchten sie, die Polizei, auch schon User sozialer Medien. Nicht einmal die emotionalen Aufrufe im Fernsehen brachten sie zurück. Knapp zwei Jahre später hörte man, dass sie noch am Leben wäre, keinen Kontakt wünsche, nicht gefunden werden wolle. Nun, sie war da alt genug, durfte ihr Leben selbstbestimmt führen. Es gab keine Nachforschungen mehr.

Das alte Haus am Ende der Straße war seit vielen Jahren unbewohnt. Die Fenster waren blind oder gar eingeworfen und ebenso wie die Tür mit Brettern zugenagelt. An den Außenmauern hatten unbekannte Sprayer versucht, dem Grau etwas Leben einzuhauchen. Wenn man vorbei ging, wehte ein dumpfer Geruch aus dem Haus, der einem das Vorbeieilen erleichterte. Ein Schandfleck in der Stadt. Nicht, dass es keine anderen Schandflecken gegeben hätte, aber hier in der eher noblen Gegend ...

Er wusste nicht, ob sie da irgendwie hineingelangt war. Ob sie da drin etwas suchte. Womöglich eine Zuflucht, ein Versteck. Sie war schon immer eine Zerbrechliche, die vor etwas davonlief und die nach etwas suchte, was sie daheim wohl nicht gefunden hatte. Also einen sicheren Ort, eine Zuflucht. Vermutlich suchte sie nicht Nähe. Solche Bedürfnisse gibt es erst nach der Sicherheit. Nähe ist ein Wagnis. Er bildete sich damals ein, dass er ihr eine Sicherheit hätte geben können, wenigstens hätte er es versuchen sollen, dachte er. Vor Nähe wäre sie ohnehin zurückgeschreckt. Spätestens dann, als er die Briefchen erwähnte, die er auf ihm nicht erklärlichen Wegen zugesteckt bekam, die er in seiner Aktentasche fand, wenn er sie im Lehrerzimmer öffnete. Auch die Briefe öffnete er. Anfangs. Doch nachdem er die Briefchen vor der Klasse mit den ältesten Schülerinnen ansprach und nebenbei die Bemerkung fallen ließ, er könnte sie dem Direktor vorlegen, hielten sich die Schreiberinnen zurück, auch die jüngeren Schülerinnen, die aus anderen Klassen. Auch bei den Jüngeren hatte sich seine Drohung wohl herumgesprochen.

Die Briefe waren nicht von seiner Scheuen, die hinter ihrem Haarvorhang ihr Gesicht verbarg, denn deren Schrift war auffällig, extrem klein, er hätte sie erkannt. Sicher hätte er die Schriften einer oder mehreren Schülerinnen zuordnen können, aber er wollte es gar nicht wissen. Er wollte auch niemand aus dem Kollegium darüber informieren. Wer weiß, wie die Kolleginnen und Kollegen reagiert hätten ... Vielleicht sich lustig gemacht, jemand bloß gestellt. Vermutlich ihn zuerst.

Er hatte es immer als Fehler gesehen, dass der Direktor der Schule seine Tochter nicht auf eine andere Schule geschickt hatte. Doch dieser war so von seiner "Lehranstalt" überzeugt - und von sich natürlich - dass er sein begabtes Mädchen unbedingt an "seiner" Schule unterrichten ließ und selbstverständlich sich oft nach ihrem "Auftreten" erkundigte. Er ahnte wohl schon, dass die Leistung weniger ein Problem war als das Verhalten seiner Tochter. Der Lehrer vermied es, die Scheue dem Vater gegenüber zu outen, vielleicht war das ein schlimmes Versäumnis. Er hätte sie als "schwierig" darstellen müssen, dann hätte der Vater reagiert und es wäre nicht zu ihrer Flucht gekommen.

Er hatte sie verloren.

Dieses Gefühl, dass ihm damals sehr zu schaffen machte, tauchte am Tag des Wiedersehens erneut auf. Freilich nicht mit dieser Wucht, sondern eher als eine eingebrannte Erinnerung, wieder hervorgeholt durch das Verschwinden der jungen Frau irgendwo hinter den Mauern dieses herabgekommenen Gebäudes - oder vielleicht woanders. "Ich habe sie verloren ... oder hatte ich sie hinter ihrem Haarvorhang nie wirklich gesehen, nie wirklich erreicht?"

Am nächsten Tag konnte er nicht anders. Irgendjemand musste er doch dieses Wiedersehen mitteilen. Er gab seine Begegnung forsch in die Runde hinein. Ja, sagte man ihm, das sei doch bekannt, dass die Schülerin nun bei ihrer Mutter lebe. Keiner hatte es für nötig befunden, ihn das auch einmal wissen zu lassen. Für die anderen war sie noch "die Schülerin", einige sagten "die Ausreißerin". Offenbar hatte man sie nicht selbst gesehen, sonst hätten sie von der "ehemaligen Schülerin" oder von der "jungen Frau" gesprochen. Ihrem reifer gewordenen Gesicht sah man die zehn Jahre an, auch der Frisur, die das Langhaar junger Mädchen hinter sich gelassen hatte.

Die jungen Kolleginnen kannten sie gar nicht, doch sie interessierten sich für den damaligen Fall - vielleicht, weil sie auch junge Frauen waren. Wenigstens bei diesen konnte er sich ein wenig ausreden. Er wagte es auch, ihnen von den Briefen zu erzählen. Das kam nicht so gut an. Die Me-Too-Debatte war in aller Munde ... Er sei damals eben auch noch sehr jung gewesen, frisch von der Uni, sagte er, quasi sich rechtfertigend, "und noch attraktiv", ergänzte er grinsend. Dieser Scherz kam auch nicht gut an ... Es war damals vielleicht auch ein Fehler, dass er allen das "Du" anbot. Er fühlte sich vor elf Jahren noch so jung. Er betonte bei den jetzigen Kolleginnen, dass es nicht nur Liebesbriefe gewesen seien ...

Sie lebte also bei ihrer Mutter, seit einigen Monaten. Der Vater, der "Herr Direktor", war verstorben, kurz nachdem sich damals seine davongelaufene Tochter Kori, gerade volljährig geworden, aus ihrem "Exil" gemeldet hatte. Man sprach beim Vater von einem Unfall, aber Genaueres wussten niemand. Alle empfanden es als dramatisch, dass genau zu dem Zeitpunkt als klar war, dass die Tochter noch lebte, der Vater verstarb, ohne sie noch einmal gesehen zu haben. Man munkelte, es habe ihm das Herz gebrochen, dass seine Tochter ihn nicht wiedersehen wollte - und manche glaubten an Suizid. Ob Kori den Tod ihres Vaters überhaupt mitbekam, ist nicht bekannt. Womöglich lebte sie im Ausland und erfuhr nichts davon. Kontakt zur Mutter soll auch nicht bestanden haben. In der Todesanzeige wurde die Tochter aber als Trauernde erwähnt.

 

Die Todesanzeige ... Der Lehrer hatte damals darüber mit seinen Schülerinnen diskutiert, über die neue Art, Traueranzeigen zu schreiben, die "Du-Formulierung", also die direkte Ansprache des Verstorbenen, öffentlich in der Zeitung, so als würde der Verstorbene die Zeitung lesen und sich über die emotionalen Worte freuen. "Wir vermissen dich so sehr!" ... "Deine dich liebende Tochter Kori". Diese Traueranzeige hätte der scheuen Kori nicht gefallen. Solche Irrationalitäten mochte sie nicht. Das wusste der Lehrer. Und dass Kori ihren Vater wirklich so sehr geliebt hatte, glaubte er nicht.

Kori schien ihm immer den anderen weit voraus, nicht nur mit ihrer Intelligenz, sondern mit einer geistigen Reife, die ihn eher an eine welt- und gotterfahrene Nonne erinnerte als an eine Jugendliche. Womöglich ließ er sich durch ihre Zurückhaltung, ja ihr Zurückgezogensein täuschen, das er als ein In-sich-ruhen missverstand. Aber auch wenn sie Unterrichtsbeiträge lieferte - selten genug und nur auf Aufforderung - sagte sie immer etwas Gescheites. Solche ruhige und gescheite Schülerinnen wünschen sich viele Lehrer. Ihm wäre etwas mehr Engagement, mehr Extravertiertheit lieber gewesen. Natürlich war sie eine Außenseiterin, aber niemand mobbte sie, irgendwie hatten alle Respekt vor ihr. Das lag vielleicht auch ein wenig daran, dass sie die Tochter des Direktors war, doch auch daran, dass sie niemals etwas Negatives über ihre Mitschülerinnen sagte, obgleich diese ihr mit ihrer Oberflächlichkeit auf die Nerven gingen. Manchmal rollte sie hinter ihrem Vorhang abfällig mit den Augen, wenn die Kolleginnen über Kleidung oder Jungs sprachen. Eine Heilige war sie sicher nicht.

Ihre Kleidung war dunkel, meist schwarz. Wohl nicht, weil Schwarz angesagt war, wie bei Kabarettisten, Satanisten oder anderen, die Schwarz wohl als eine Art Berufskleidung sehen, sondern weil Schwarz unauffällig, neutral erscheint. Sie wollte niemals auffallen! Ihre dunkelgrauen Pulloverärmel zog sie weit nach vorne, nur die Finger blieben frei, so dass ihre Arme ungewöhnlich lang erschienen, ihre eng anliegenden Hosen hoben die Schlankheit ihrer Beine noch mehr hervor. Es schien, als ob sie das Dicke verbergen und das Dünne präsentieren wollte. Dass sie damit dann doch auffiel, war ihr wohl nicht bewusst, es war ein unbewusstes Signal.

2

Auch Hauptkommissar Flinker trug wie eh und je dunkle Kleidung, die sein blasses Gesicht noch mehr hervorhob. Seine Haare waren auch kürzer, aber vor allem weniger geworden und grauer. Alle glaubten, dass sein Äußeres ein Tribut an seine Arbeit wäre, denn es bleibt ja nicht - oder nicht nur - in den Kleidern hängen, wenn man ständig mit Gewaltverbrechen konfrontiert wird. Er glaubte das nicht. Er wusste, er war schon seit seiner Kindheit ein blassgrauer Typ.

Flinker kam es auch seltsam vor, dass Kori wieder verschwunden war, zehn Jahre nach dem ersten Mal. Damals hatten seine Nachforschungen zu nichts geführt - worüber er eigentlich auch froh war, denn er ging seinerzeit von einem Gewaltverbrechen aus. Diese kamen gelegentlich auch in der Oberpfalz vor, gelegentlich. Er hoffte aber, dass auch dieses Mal die junge Frau wieder ein Zeichen geben würde, dass ihr Verschwinden ein freiwilliger Akt sei und es ihr gut gehe.

Koris Mutter bestellte er nicht ins Kommissariat, sondern besuchte sie in ihrem großen Haus etliche Kilometer außerhalb der Stadt. Er liebte es, Ausfahrten zu machen, war ein Fan seiner hügeligen oberpfälzischen Heimat. Von jedem Hügel aus, über den sich die Straße legte, sah er auf die dunkelblaue Kette der Berge des Oberen Bayerischen Waldes. Er fuhr alleine zu Koris Mutter, hatte seine "Rechte Hand", den Kommissar Birtele, diesmal in der Dienststelle gelassen, ihm andere Aufgaben angetragen. Der nahm es verwundert hin und Flinker wusste, dass er ihn später fragen würde.

Der Garten war gepflegt, das Haus in bestem Zustand. Flinker hatte nichts anderes erwartet. Die Witwe hatte seit dem Tod ihres Mannes immer alleine im Haus gelebt. Genügend Geld besaß sie, um sich Hilfen zu organisieren. Koris Rückkehr war mehr als eine Überraschung, es war eine Sensation, die sich schnell herumsprach. Ihr abermaliges Verschwinden hatte noch niemand registriert. Die Mutter hatte drei Tage gewartet, bevor sie sich an Flinker wandte. Er beruhigte die ängstliche Mutter:

"Sie wissen doch noch, wie es damals war. Da ging sie auch Knall auf Fall weg. Keinen hatte sie vorgewarnt ... Nicht mal Sie als Eltern."

"Und niemals haben wir herausbekommen, warum sie ging - und wohin. Warum musste sie jetzt schon wieder weg?" Die Mutter schaute ihn hilflos flehend an.

Er zuckte mit den Schultern. "Das weiß auch diesmal niemand. Sie will ja auch, dass es niemand weiß."

Es entstand eine lange Pause. Der Mutter kamen die Tränen. Sie verschwand in der Küche und bereitete einen Grüntee. Ihr Gedächtnis war ausgezeichnet. Grüntee hatte Flinker auch damals getrunken. Der Kommissar blieb im tiefen Sessel sitzen und sah sich um. Auf der Kommode standen Fotos des verstorbenen Schuldirektors, aber auch ein Foto von Kori mit langen Haaren, aus der Jugendzeit. So als wäre auch sie verstorben. Man braucht Bilder von Menschen, die man vermisst. Oder die einem nahe stehen, ohne nahe zu sein.

Die Mutter kam mit einer Kanne und einer Tasse zurück. "Kurz gezogen wie immer ?", fragte sie. Er nickte. Sie schenkte ihm ein und setzte sich ihm gegenüber, ohne selbst etwas zu trinken.

Flinker dankte, trank, lobte und fragte:

"Ist denn etwas vorgefallen?"

Die Mutter schüttelte mit dem Kopf. "Nichts. Nichts Besonderes."

"Nichts Besonderes?"

"Sie hat am Handy nur erzählt, dass sie ihren Lehrer von damals wiedergesehen habe. Dann brach das Telefonat ab. Davor war alles wie immer."

"Wie immer?"

"Na ja, sie war wie immer nur auf ihrem Zimmer, wollte nie weggehen. Vielleicht mal zum Einkaufen. Auch ich hab sie ja kaum gesehen. War immer auf dem Zimmer ..."

"Und der Lehrer?"

"Der Lehrer? Was soll mit ihm sein?" Sie dachte nach. "Den mochte sie. Glaube ich."

"Hat sie Ihnen nichts von dieser Begegnung erzählt?"

"Nein. Ich bin schon erstaunt, dass sie mich überhaupt angerufen hat, um es mir zu sagen."

Flinker nickte. Er überlegte. "Der Lehrer ist noch an der Schule Ihres Mannes. Pardon, ich meine, an derselben Schule wie damals?"

"Kann schon sein. Ich weiß nicht."

"Ich werde mit ihm reden", kündigte Flinker an. "Dann sehen wir weiter. Machen Sie sich keine Sorgen. Das wird schon."

Flinker kannte den Lehrer Weiner. Mit ihm hatte er sich damals auch unterhalten.

Er besuchte ihn an der Schule. Wieder eine Ausfahrt. Diesmal aber nur den Stadthügel hinauf. Schulen werden oft auf Hügel gebaut.

Als er hineingehen wollte, kam ihm Weiner schon auf dem Schulhof entgegen. Auch Weiner war älter geworden. Die Anzahl seiner grauen Haare konnte aber mit denen Flinkers nicht mithalten. Der Lehrer erkannte den blassen Kommissar sofort und lächelte ihm zu. Natürlich wusste er, dass es um Kori gehen musste. Dennoch zeigte er sich erstaunt und ernst. Er wisse nicht, dass Kori wieder verschwunden sei.

"Haben Sie eine Erklärung, warum sie wieder weg ist?", fragte Flinker.

"Bei dem Mädchen - nun, jetzt ist sie ja eine junge Frau - bei ihr weiß man nie, was sich in ihrem Kopf abspielt." Weiner sagte es verharmlosend, wollte es vor sich selbst nicht wahrhaben, dass es wieder eine ernste Situation sein könnte.

"Sie haben die Kori getroffen?"

"Ja, zufällig auf der Straße."

"Hat sie wieder keine Andeutung gemacht?"

"Nein, wir haben eh kaum miteinander geredet."

"Worüber haben Sie denn gesprochen?"

Weiner dachte nach. "Sie meinen, ich habe sie erschreckt?" Er mühte sich ein Lächeln ab. "Womit soll ich sie denn erschrecken?"

"Sagen Sie es mir!"

"Also nein, ich hab sie nicht erschreckt."

"Worüber sprachen Sie denn mit ihr?"

"Mein Gott, worüber spricht man nach zehn Jahren? Wie man ausschaut, was man so macht ..."

"... Wie es einem geht ..."

"Nein, das nicht. Sie hätte es mir sowieso nicht gesagt."

"Und was hatten Sie für einen Eindruck? Geht es ihr gut?"

"Eigentlich schon, aber sie hat das Gespräch dann doch abrupt beendet."

"Warum?"

"Keine Ahnung."

"Haben Sie ihr irgendetwas gesagt?"

"Nur gefragt, wo sie damals war."

"Aha. Das hat sie erschreckt."

"Erschreckt? Kann sein. Aber warum?"

"Sie wollte es Ihnen nicht sagen."

"Ja. Möglich."

Flinker hatte den Eindruck, dass Weiner ihm etwas verschwiegen hatte. Das konnte doch nicht alles gewesen sein. Noch am selben Abend klingelte er deshalb an seiner Wohnungstür. Weiner lebte noch immer in derselben Stadtwohnung wie vor 10 Jahren.

"Entschuldigung! Darf ich Sie noch einmal stören?"

Weiner bat Flinker herein und stellte ihm ein Glas Wasser hin.

Der Lehrer lebte allein. Seine Wohnung war ordentlich, durchaus gemütlich.

"Sie leben immer noch allein?", fragte Flinker lächelnd.

"Wie Sie sehen. Offenbar halten es Frauen nicht mit mir aus", scherzte Weiner.

"Die Kori war noch nie da?"

Weiner stutzte, er wurde etwas ärgerlich, ließ es sich aber nicht anmerken. Er erinnerte sich: "Das haben sie mich vor Jahren auch schon mal gefragt". Er grinste. "Nein, auch dieses Mal war Kori nicht bei mir."

"Verzeihen Sie!", erwiderte Flinker. "Ich muss so etwas fragen." Demonstrativ ließ Flinker die Augen schweifen. "Einen schönen Schreibtisch haben Sie. Und Schach spielen Sie auch." Dabei deutete er auf eine Schachuhr, die auf dem Regal stand.

"Offenbar sind Sie auch ein Schachspieler'", antwortete Weiner. "Sonst werde ich immer gefragt, was das sei."

"Sie bekommen also doch öfters Besuch?"

"Gelegentlich. Zu Beginn meines Referendariats, also nach dem ersten Schuljahr meine ich, war mal die komplette Schulklasse da." Und er fügte hinzu, weil er Flinkers fragenden Blick sah: "Nicht die Kori! Die war nicht dabei, die war schon weg. Kurz davor ist sie abgehauen."

"Deswegen?"

Weiner schüttelte verständnislos mit dem Kopf. "Sie kommen auf Ideen!"

"Und die anderen Klassen. Haben Sie die nicht eingeladen?"

"Nein. Das damals war das erste und letzte Mal. Da haben wir nochmal über die Kori und über die Briefe gesprochen."

Flinker dachte nach. "Ach ja, Sie hatten ja Liebesbriefe bekommen."

Weiner lächelte, aber er ersparte dem Kommissar einen blöden Scherz. "Ich hab sie noch da. Aber sie sind privat. Es sind nicht nur Liebesbriefe. Und als ich hier mit der Klasse über alles sprach, sagten sie mir, dass sich einige einen Spaß daraus gemacht hätten, wer es schafft, mir einen Brief in die Aktentasche zu schmuggeln. Der Inhalt war offenbar nur Nebensache."

Flinker lachte. "Da hat man sie ja ganz schön reingelegt!"

"Na ja, ich in meiner jugendlichen Unbekümmertheit fühlte mich wohl doch geschmeichelt und hab falsche Schlüsse gezogen."

Das erinnert mich an meinen Kollegen Birtele, dachte Flinker, der meint auch immer, alle Frauen stünden auf ihn. "Single-Fehler", sagte er trocken.

"Soll alten Nicht-Singles auch noch passieren", konterte Weiner.

Wie wahr, dachte Flinker. Doch er wurde wieder ernst: "Kori hatte Ihnen also keinen Brief geschrieben. So sagten Sie damals."

"Nein. Ich hätte es an der Schrift erkannt." Weiner ging zum Schreibtisch und holte die Briefe heraus.

"Ach, Sie haben die noch."

"Zur Erinnerung an die erste Zeit."

"Ja, später bekommt man keine mehr," sagte Flinker und warf einen scharfen Blick auf den kleinen aufgefächerten Stapel, den Weiner auf den Tisch gelegt hatte. Er zeigte darauf: "Einige sind aber noch ungeöffnet."

 

"Kann schon sein. Ich wollte dann gar nicht mehr wissen, was drin steht."

Flinker fischte einen der Briefe heraus. "Auf diesem hier steht außen nichts drauf. Die anderen sind an Sie adressiert."

Weiner tat erstaunt. "Das ist mir noch gar nicht aufgefallen."

"Das wundert mich!", erwiderte Flinker skeptisch. "Vielleicht ist der von Kori!"

"Quatsch!", meinte Weiner. "Die hätte mir nie geschrieben!"

"Sie könnten trotzdem mal nachschauen!"

Weiner rollte mit den Augen und öffnete widerwillig das Kuvert. Heraus fiel ein DIN A4 - Blatt. In Schreibmaschinenschrift standen einige Zeilen darauf, ein Gedicht, kein Liebesgedicht. Weiner las es leise für sich. Er wurde blass. Dann gab er es Flinker, wortlos.

3

Als der Kommissar am nächsten Tag von der Mutter informiert wurde, dass ihre Tochter wieder daheim sei, etwas verstört zwar, aber sonst bei bester Gesundheit, erreichte ihn fast zeitgleich die Nachricht über einen Todesfall. Es war ihm sehr recht, dass sich die Akte Kori so schnell erledigt hatte, zumindest vorerst und aus kriminalistischer Sicht, und dass seine ganze Aufmerksamkeit nun einem neuen Fall gelten konnte. Er nahm seinen Kollegen Birtele mit, der sich nicht verkneifen konnte, auf der gemeinsamen Autofahrt zu stänkern.

"Wollten Sie mich nicht dabei haben bei der Kori-Sache?"

"Sie wieder ...", gab Flinker zurück, "... sind Sie wieder mal mit dem falschen Fuß aufgestanden?"

Birtele schwieg. Seine Mutmaßung, dass Flinker vorsichtig war, ihn mitzunehmen, wenn es um junge Frauen ging, war nicht so weit hergeholt. Doch Flinker kam ihm entgegen:

"War doch ein alter Fall. Damals waren Sie noch gar nicht bei uns."

Birtele steckte den Kopf rein, kam sich blöd vor. Er lenkte ab:

"Und was haben wir diesmal?"

"Eine männliche Leiche", antwortete Flinker, das männlich betonend und vor sich hingrinsend. "Sieht verdächtig aus", ergänzte er.

"Ein Mord?"

"Wahrscheinlich."

Das Zweierteam von der Kriminalpolizei war inzwischen allen bekannt und durchaus beliebt. Die am Tatort weilenden Streifenbeamten begrüßten ihre Kommissare freundlich.

Der tote Mann, etwa Ende vierzig, lag auf der Seite und hatte eine Wunde am Hinterkopf, mit dem er auf einem großen Stein im Garten aufgeschlagen war. "Ruhe in Frieden!" stand auf dem Stein.

"Das passt ja", bemerkte Birtele sarkastisch.

Der Stein lag auf einem frisch hergerichteten Grab, von seiner Größe her vermutlich für einen Hund, so vermuteten die Ermittler. Der Tote hatte noch einen Gartenschlauch in der Hand, der am Boden in mehreren Schleifen übereinander lag.

"Er könnte rückwärts darübergefallen sein", mutmaßte ein Kriminaltechniker, der inzwischen dazugekommen war.

"Ich denke, er wurde gestoßen", erwiderte Flinker. "Nehmt mal vom Wasserhahn die Fingerabdrücke, denn irgendjemand muss ja das Wasser abgedreht haben. Mord oder Totschlag", sagte er nüchtern. "Der Pathologe wird wohl keine Abwehrspuren finden."

"Dann kann es auch ein Unfall gewesen sein!", behauptete Birtele.

"Ja, dann hätte der Täter die Rettung rufen müssen oder uns", ergänzte Flinker. "Nach der Obduktion werden wir wissen, ob er sofort tot war."

"Oder besoffen. Oder krank!", warf Birtele ein.

"So besoffen, dass er, ohne den Hahn aufzudrehen, seinen Garten goss?" Alle Umstehenden grinsten.

"Vielleicht", behauptete Birtele unbeeindruckt.

Der endlich eingetroffene Arzt sprach von einer Todeszeit am frühen Morgen, was natürlich zu den Gieß-Aktivitäten an diesem heißen Tag passte.

Die Kommissare gingen ins Haus und staunten über die Ordnung in der Wohnung.

"Keine typische Single-Wohnung!", frotzelte Flinker an Birtele gerichtet.

Der überging den Seitenhieb seines Chefs auf den Zustand seiner Unterkunft, den Flinker bei einem unangekündigten Besuch einmal "genossen" hatte.

An der Wand im Wohnzimmer des Getöteten hing ein großes Plakat, dessen sorgfältig aufgemalte Aufschrift wohl ein Leitspruch sein sollte:

Ich bin nicht gekommen, Gerechte zu rufen,

sondern Sünder zur Buße. Lukas 5:32

"Der musste sich ja ganz schön sündig fühlen!", bemerkte Birtele.

"Oder er hielt sich für Jesus", setzte Flinker entgegen. Birtele verstand nicht, aber Flinker sparte sich die Erklärung auf, denn er sah, dass auf dem Schreibtisch unter dem Spruch noch andere Bibelzitate griffbereit lagen.

"Die schenkte er wohl seinen Freunden", sagte Flinker sarkastisch.

Sie hörten den Anrufbeantworter ab.

Die Spurensicherung nahm die üblichen Unterlagen mit.

Nach den entsprechenden Untersuchungen in den nächsten Tagen gingen die Kommissare davon aus, dass in der Tat der Tote nicht von einem anderen gestoßen worden war, sondern dass er sich beim Rückwärtsgehen im Schlauch verhedderte und auf den Stein stürzte. Lediglich die Tatsache, dass das Wasser abgedreht worden war und sich auf dem Hahn fremde Finger-Teilabdrücke fanden, sprach für die Mitbeteiligung eines anderen.

"Jeder macht Fehler", kommentierte Flinker und meinte damit einen möglichen Täter.

"Für den Angriff eines anderen spricht auch, dass sich der Tote nicht beim Sturz abfangen konnte, sondern wohl noch beim Fallen den Schlauch hielt und auf den Angreifer spritzte!"

Flinker nickte. Er musste anerkennen, dass seine "Rechte Hand" dies sehr gut erkannt hatte.

"Der muss ihm also bedrohlich nahe gewesen sein!", folgerte Birtele weiter - und Flinker nickte wiederum.

"Und ihm direkt ins Gesicht gespritzt haben!", ergänzte Birtele.

"Vermutlich", bestätigte Flinker.

"Und ganz plötzlich vor ihm aufgetaucht sein", führte Birtele fort.

"Ja, sonst hätte der Tote selbst vorher das Wasser abgedreht, zumindest am Schlauch."

"Wahrscheinlich kam der Täter von hinten und wurde nicht gehört wegen des Wasserrauschens."

"Und dann drehte sich das Opfer um ..."

"Und dann stolperte es ..."

"Birtele, schauen Sie nochmal nach, wie das Ventil vorne am Schlauch eingestellt war!"

Birtele holte die Akte hervor und las nochmals den Bericht der Spurensicherung durch.

"Auf vollen Strahl", sagte er.

"Sorgfältige Spurensicherer!", lobte Flinker.

Obgleich die Kriminalkommissare nicht von einem geplanten Mord ausgingen, zumal sich alles am helllichten Vormittag abgespielt hatte, durchleuchteten sie das Umfeld des Toten.

Der Mann lebte in seinem eigenen Haus auf dem Grundstück am Stadtrand. Es stellte sich heraus, dass ihn vor kurzem seine Frau mit drei Töchtern verlassen hatte. Der Hund musste dableiben.

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