Mein langer Weg von Schlesien nach Gotha 1933–1950

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Meine Eltern besaßen in jenen Jahren noch kein Radio. Die Nachbarn von nebenan luden uns ein: „Heute obend sprricht Hittler! Ierr kennt kummen, wenn ierr wullt.“ Wir gingen, und ich durfte mit. So hörte man zu und konnte sich einer gewissen Faszination nicht erwehren. Selbst ich als Zehnjähriger glaubte, viel zu verstehen von dem, was dieser Hitler sagte. Es beeindruckte mich auch, wie er sprach: wie er die Stimme energisch anhob, wie er mahnend zur „nationalen Erhebung“ aufforderte, wie er den „Novemberverbrechern“ drohte, wie er schrie oder wiederum geschickt besänftigte und auf unerklärliche Weise zu überzeugen vermochte. Die Erwachsenen in der Runde nickten öfter mit dem Kopf. Man war sich zumindest einig: „Ein großer Redner“ – und war nicht weit davon entfernt zu sagen: „Ein großer Mann.“

Eine derartige Breitenwirkung war natürlich jetzt, in den Dreißiger Jahren, erstmals möglich mit Hilfe des Radios. Der Rundfunk hatte seinen Siegeszug angetreten, und das Hitler-Regime nutzte das neue Medium Rundfunk für seine propagandistischen Kampagnen geschickt, rücksichtslos und erfolgreich aus. Rücksichtslos insofern, weil sich Hitlers Propaganda-Ministerium nach der Machtübernahme sofort der Rundfunkanstalten bemächtigt hatte. Sogleich sorgte man auch dafür, dass Rundfunkgeräte „für das Volk“ hergestellt wurden. Wenig später, aber noch in den Jahren vor dem Krieg, konnte sich fast jeder wenigstens einen „Volksempfänger“ leisten und mittels einer aufwendigen, sichtbaren Außenantenne die „große Politik“ und alles, was ihr dienen sollte, ins eigene kleine Haus hereinholen.

1936 konnte unser Vater, wenn auch keinen neuen Volksempfänger, so doch einen gebrauchten „Radioapparat“ auf Abzahlung vom Radio-Händler kaufen. Wir hörten nun vor allem den „Reichssender Breslau“ und den „Deutschlandsender“. Und alles, was in unserer Stube aus dem Radio herauskam, war eigentlich gut und schön und niemals gegen den Nationalsozialismus gerichtet. Im Gegenteil: Jeder stolz verkündete Sieg der deutschen Autorennfahrer, ob durch Stuck, Caracciola oder Rosemeier, ob auf Mercedes oder Auto-Union, jeder deutsche Sieg bei internationalen Sportwettkämpfen, jede übertragene Eröffnung einer neuen Autobahnstrecke oder die Übertragung des Breslauer Sängerfestes oder ein abendfüllendes Militärkonzert, nicht zu vergessen die beliebten Unterhaltungskonzerte unter der Leitung von Karl Woitschach und Otto Dobrindt, all solche sportlichen oder kulturellen Leistungen wurden propagandistisch zu einem Gewinn für die Hitlerherrschaft umgemünzt. Und die allabendlich gesprochenen Nachrichten des „Reichsrundfunks“ waren natürlich die Nachrichten, die das Propagandaministerium unter Goebbels konzipiert und vorgegeben hatte. – Nirgends mehr eine Widerrede! Keine Gegendarstellung! Keine politischen Kontroversen! Jeder hörte nur das, was er hören sollte.

Natürlich waren auch die Zeitungen und Zeitschriften längst in das gleichgerichtete Fahrwasser der Nazipropaganda gezogen worden. Wir konnten lesen von den großen Leistungen der Hitlerregierung, vom „wohlbringenden Arbeitsbeschaffungsplan des Führers“, vom „Aufblühen der Wirtschaft“, vom „stolzen Gedeihen einer nationalsozialistischen Kunst und Kultur“, von der „gewachsenen Wehrhaftigkeit unserer deutschen Soldaten“ und dgl. mehr.

Derartiges stand nun auch im „Löwenberger Anzeiger“, einem einst bürgerlich-liberalen Blatt, das Vater nach dem Verbot der sozialdemokratischen „Volksstimme“ abonniert hatte und bei uns im Hinterdorf von Katke Marie ausgetragen wurde. Dieses Kreisblatt war ausgerichtet nach dem von der NSDAP herausgegebenen überregionalen „Hirschberger Beobachter“, der wiederum der nazistischen Führungs-Zeitung folgte, dem „Völkischen Beobachter“ aus der Berliner Propagandazentrale.

Die Zeitungen, die wir Dorfbewohner in die Hand bekamen, waren also „gleichgeschaltet“. Mit der Zeit glaubten immer mehr Leute das oder an das, was in der Zeitung zu lesen stand und was das Radio verkündete. Sicherlich wird es im Dorf auch politisch erfahrene oder gebildetere Leute gegeben haben, die sich der gefährlichen Folgen dieser einseitigen Beeinflussung bewusst waren, aber sich öffentlich schon nicht mehr kritisch zu äußern wagten. So bildete sich – wenn ich das richtig gesehen habe – in ein – zwei Jahren unter vielen Leuten im Dorf die Meinung heraus, es ginge doch jetzt etwas vorwärts, fast alle hätten nun Arbeit, verdienten auch ein wenig mehr als früher, es gäbe keinen Parteienstreit und man fühle sich im allgemeinen sicherer.

Die aktiven Hitleranhänger rühmten diese Erfolge und traten immer selbstbewusster an die Öffentlichkeit, und an den staatlich verordneten Feiertagen hängten immer mehr Leute eine neue Hakenkreuzfahne zum Fenster hinaus. In der Kreisstadt, am Markt und in den Straßen, staunte ich über die vielen Fahnen. Man glaubte sehen zu können: Da hat sich allerhand verändert, „so viele sind jetzt schon für Hitler!“

Auch unser Lehrer, in unserer Dorfschule, trug dann irgendwann das runde Hakenkreuzabzeichen auf seinem Rockaufschlag. Er war der Hitlerpartei beigetreten. Wir Kinder haben das einfach so hingenommen. Nur mein Vater hat da eine abfällige Bemerkung gemacht, obwohl mir inzwischen schien, dass er dem Hitler auch nicht mehr ganz so abgeneigt war wie vielleicht 1932.

In der Schule

Ehe ich von der Schule und von meinen Schulerfahrungen berichte, will ich von einer Begebenheit erzählen, die sich in enger Verbindung zur Schule zugetragen hat: Im Mai/​Juni des Jahres 1934 müsste es gewesen sein, da wurde ich auf einmal aufmerksam gemacht auf das „Deutsche Jungvolk“. Diese von der Nazipartei gegründete und geführte Kinderorganisation für Jungen bis zu 14 Jahren hatte mich 9-jährigen vorher nicht sonderlich interessiert. Doch jetzt hörte ich mehrfach von den älteren Schülern unserer Schule, wie schön und interessant es wäre, Mitglied in diesem „Jungvolk“ zu sein. Vor allem des Samstags sprach man davon, wenn mehrere der größeren Jungen im Unterricht fehlten. „Die sind zum Staatsjugendtag“, so hieß es. Bald sprach sich herum: Wer Mitglied des „Jungvolks“ ist oder wird, braucht sonnabends nicht am Schulunterricht teilzunehmen, denn der Sonnabend ist der „Staatsjugendtag“, und da hat jeder Jungvolkjunge (auch Pimpf genannt) den ganzen Tag „Jungvolkdienst“! „Dienst“, das bedeutete Marschieren, Lieder lernen, Exerzieren, sportliche Spiele, vor allem aber Geländespiele, was mich mächtig anzog. Dazu gehörten auch Übungen im Zeltaufbau, Einrichten eines Lagers, Anlegen einer Kochstelle, Orientieren im Gelände und lauter solche schönen Sachen! Besonders reizvoll erschien mir das Abkochen im Freien. Das wäre doch ein riesiger Spaß, über einem offenen Feuer in einem großen Lager-Kochtopf eine schmackhafte Suppe zu kochen! Überhaupt: das Ganze – wie abenteuerlich! Hinzu kam der außergewöhnliche Reiz: Man durfte einfach von der Schule wegbleiben, und der Lehrer konnte gar nichts dagegen machen! So fragte ich mich natürlich, was ich da tun müsste, um beim Staatsjugendtag dabei sein zu können. Ich war zwar erst 9 Jahre alt, aber ein unternehmungslustiger Junge. Also nichts wie hin – und hinein in das Jungvolk, damit ich am Sonnabend mit den anderen hinausziehen kann … . So meldete ich mich mündlich beim „Jungenschaftsführer“ an, ohne dass Lehrer und Eltern davon wussten, und zog am nächsten Sonnabend mit. Wir marschierten am frühen Morgen in das Nachbardorf Walditz, trafen uns dort mit „Jungenschaften“ aus Nachbardörfern, zogen ins Gelände und hatten dann einen unheimlich interessanten und aufregenden Tag. Aufregend auch noch deswegen, weil mich trotz aller Begeisterung zwischendurch das schlechte Gewissen plagte: Wird das gutgehen, wenn ich heimkomme? Doch die Begeisterung nahm wieder Überhand, als wir die auf offener Feuerstelle gekochte Erbsensuppe in uns hineinschlangen.

Nun ja, Vater hat mir nach meiner Rückkehr die Leviten gelesen, ist aber über ernsthafte Drohungen nicht hinausgegangen. Schlimmeres fürchtete ich am Montag in der Schule. Der Lehrer, längst informiert über die Gründe meines Fehlens, nahm mich vor: „Bahner, warum warst du am Sonnabend nicht in der Schule?“ Ich versuchte zaghaft, mich zu rechtfertigen: Das sei doch erlaubt für Jungvolkjungen, die anderen seien ja auch mitgewesen …., da ja „Staatsjugendtag“ … und so fort. – „Aber erst, wenn man zehn Jahre alt geworden ist! Du bist erst neun!“ Da hatte ich die Bescherung. Also musste ich vorerst auf meinen Staatsjugendtag verzichten und sonnabends wieder brav zur Schule gehen. So ganz für mich, im Stillen, beschloss ich nun erst recht, demnächst ein „richtiger Jungvolkjunge“ zu werden. Über eins hatte ich mich gewundert: Entgegen allen Erfahrungen mit unserem Lehrer griff dieser diesmal nicht zum Stock, um mich zu strafen, und er erschien mir trotz seiner unmissverständlichen Zurechtweisung nachsichtiger als sonst. So geschah mir nichts weiter, als dass ich künftig die Sonnabende in der Schule verbringen musste, darauf hoffend, in einem halben Jahr als Zehnjähriger dann mit den anderen „Jungvolkjungen“ wieder sonnabends zu spannenden Geländespielen hinausziehen zu können. Doch diese ganze Geschichte endete für mich schließlich mit einer Enttäuschung. Als ich im Februar 1935, nach meinem zehnjährigen Geburtstag, mit Zustimmung meiner Eltern regulär in das Jungvolk eintreten durfte, hatte man inzwischen schon von staatlicher Seite den „Staatsjugendtag“ wieder abgeschafft! Man hatte längst nicht mehr nötig, durch einen schulfreien Sonnabend für den Eintritt in das „Deutsche Jungvolk“ zu werben. Inzwischen waren so gut wie alle Mädchen und Jungen im Alter von 10 bis 14 Jahren in den nationalsozialistischen Jugendorganisationen „erfasst“. Nicht dass die Jungen aus purer naziideologischer Begeisterung beigetreten wären. Nein, sie sind meistens – wie ich – durch anreizende abenteuerliche Freizeitbeschäftigungen geradezu hineingelockt worden. Ein Jahr später sorgte Hitler mit dem „Gesetz über die Hitlerjugend“ (vom 1. Dez. 1936), dass „die gesamte deutsche Jugend innerhalb des Reichsgebietes in der Hitlerjugend zusammengefasst ist“. Von diesem Gesetz und der damit verbundenen politischen Strategie habe ich als 11-jähriger kaum oder so gut wie gar nicht Notiz genommen.

 

Wir Jungen waren nun alle „drin“ im Jungvolk, fanden daran nichts Anstößiges, im Gegenteil: Das war schon in Ordnung. Und die Erwachsenen hatten dagegen auch nichts mehr einzuwenden. – Wir waren zur „Jugend des Führers“ geworden, ohne dass wir das genau gemerkt hätten!

Nun möchte ich hier aber das Thema „Hitlerjugend“ vorübergehend in den Hintergrund stellen und zu dem am Anfang des Kapitels genannten Thema „In der Schule“ zurückkommen. Wie’s in der Schule war, auf unserem schlesischen Dorf, damals, in den Jahren 1931 – 939, davon will ich jetzt hauptsächlich erzählen.

…. Mancher wird sich wundern, wenn ich „von unserem Lehrer“ spreche – im Singular! Ja, in der Mehrzahl wäre das nicht möglich, denn wir hatten in unserer Dorfschule nur einen Lehrer! 67 Schulkinder im Alter von 6 – 14 Jahren und dazu nur ein Lehrer! Man nannte so was eine „einklassige Volksschule“. Diese Bezeichnung ist irreführend. Daher muss hier erklärt werden, was man darunter versteht und wie so eine einklassige Volksschule bei uns funktioniert hat:

Im Winter um acht, im Sommer um sieben Uhr begann in unserem Schulhaus der Unterricht. Er erfolgte im Laufe des Vormittags für alle Schüler in einem Klassenraum! – In den ersten beiden Stunden unterrichtete der Lehrer die „Großen“; das waren die Schüler des 5. bis 8. Schuljahres, zusammengefasst in einer Abteilung, die Mädchen rechts vom Mittelgang in den hinteren Viererbänken sitzend, die Jungen gegenüber ebenso in Viererbänken zur Linken des Mittelganges. Aber wir saßen nicht nur dem Alter nach geordnet. Die schulischen Leistungen eines jeden Schülers waren ein zweiter gewichtiger Wertmaßstab für die Reihenfolge in der Sitzordnung. Der „Beste“ war „Klassenerster“. Dieser saß auf dem „ersten Platz“. Hinter ihm folgten die nächstbesten, der zweitbeste, der drittbeste, … . Rechts auf der anderen Seite des Mittelganges, also auf dem Eckplatz der Mädchenseite, saß die „Klassenerste“ der Mädchen.

In der Mitte des Klassenzimmers saßen die Schüler der 2. Abteilung, die Mädchen und Jungen des 3. und 4. Schuljahres, deren Unterricht mit der 3. Stunde begann. – Ganz vorn, die niedrigen Viererbänke rechts und links, nahmen die „Kleinen“ auf, die Schüler vom 1. und 2. Schuljahr, die im Laufe des Vormittags zuletzt kamen und die vorwiegend in der 5. und 6. Stunde vom Lehrer unterrichtet wurden.

Es war also für unseren Lehrer geradezu ein echtes Kunststück, während der sechs Unterrichtsstunden abwechselnd die Schülerinnen und Schüler der verschiedenen Abteilungen und Altersgruppen so zu unterrichten, dass er sich jeweils für eine bestimmte Zeit unmittelbar einer Abteilung zuwendete, während die anderen „still beschäftigt“ die erteilten Aufgaben lösen mussten.

Für unseren „Otto“, so nannten wir unseren Lehrer in der Schülersprache nach seinem Vornamen, war das gewiss ein sehr anstrengendes Pensum: 6 mal 6 Unterrichtsstunden in der Woche mit über 60 Schülern verschiedener Altersgruppen, hinzu Unterrichtsvorbereitungen und die Korrekturen der schriftlichen Schülerarbeiten und was noch so alles dazu kam! Zum Glück verfügte unser Otto, wie alle anderen Schullehrer in den Nachbardörfern, über einen harten Rohrstock, mit dem er sich auf wirksame Weise Respekt und Disziplin verschaffen konnte. Da er dieses Mittel nicht gerade sparsam einsetzte, hatten wir eher Angst vor ihm als Respekt. Doch lassen wir zunächst den Stock im Schrank stehen. Von dort soll er später noch mal zu kurzer Betrachtung hervorgeholt werden. –

Ich fand diesen Abteilungsunterricht in unserer Dorfschule keinesfalls langweilig. Waren wir selbst „nicht dran“, unterrichtete der Lehrer gerade eine andere Abteilung, genoss ich die auferlegte „Stillbeschäftigung“ auch als individuellen Spielraum. Zuerst hatte ich natürlich mit den „aufgegebenen“ Aufgaben zu tun. Mal schneller, mal dahintrödelnd, je nachdem, was sich sonst noch Interessantes unter Banknachbarn oder im Unterrichtsgeschehen der nächsthöheren oder -niederen Abteilung ergab. Gelegentlich sah man sich von dort abgelenkt, wenn laute Worte des Lehrers, komische Schülerantworten oder interessantes Reden so nebenbei zum Mithören anregten. – Es war auch ganz unterhaltsam, wenn man als Jüngerer so beiläufig aufschnappte, was eigentlich für die Älteren hinter uns gedacht war, oder wenn man als Älterer im Zuhören bei den Jüngeren vor sich bereits Gelerntes oder nur Halbgelerntes unaufgefordert wiederholen bzw. vertiefen konnte. Gleichzeitige Aufmerksamkeit aller Stillbeschäftigten wurde meist dann wachgerufen, wenn beim Unterricht der anderen Abteilung etwas Dramatisches passierte. Wenn sich einer saublöd anstellte, wenn der Lehrer in Zorn geriet, wenn der Stock mit entsprechenden Kommentaren in Aktion gesetzt wurde und sich für uns alle ein fesselndes Schauspiel in Szene setzte. Die meiste Zeit jedoch war man mit sich selbst beschäftigt. Ich zum Beispiel bei Rechenaufgaben, wo ich mich arg konzentrieren musste oder unauffällig Kontakt zu dem besseren Rechner neben mir zu knüpfen versuchte! – Waren die „stillen“ Aufgaben aber im Handumdrehen gelöst, blieb auch noch Zeit für interessanten Zeitvertreib. Manchmal las ich heimlich unter der Bank meinen 20-Pfennig-Schmöker. Zu zweit konnte man „Schiffe versenken“, „Städte raten“ oder „Mist fahren“ oder gar zu dritt mit Mini-Spielkarten „Schafskopf“ spielen. Letzteres war bei uns sehr beliebt, aber auch riskant, verlangte es doch gekonnte Schläue und gut entwickelte Verstellungskünste. Nicht erwischt werden dabei – das war schon eine Leistung! So ein Trio flog öfter auf. Der erfahrene Blick des Lehrers hatte unser Spiel im Untergrund durchschaut. Die Spielkarten mussten nach vorn gebracht werden, und die Anzahl der Stockschläge wurde verkündet.

Wobei ich angelangt bin bei der bereits erwähnten Absicht, den Stock noch einmal aus dem Schrank hervorzuholen. Dort stand der Rohrstock (aus 8 – 10 mm Bambusrohr) in einem vertikal angelegten Fach neben den zusammengerollten Anschauungstafeln, es sei denn, er war wegen wiederholten Gebrauchs auf dem Katheder liegen geblieben. Wir fürchteten natürlich den Rohrstock, denn die Schmerzen, die körperlichen, die er verursachte, trieben vielen von uns die Tränen in die Augen.

Ich habe als Schulkind den Stock des Lehrers akzeptiert, wenn er nach meinem Dafürhalten zu Recht eingesetzt worden ist. Ich glaube, alle fanden es normal, wenn in der Schule mit dem Stock „erzogen“ wurde. Auch die meisten Eltern, denke ich, waren damit einverstanden. Vater höre ich sagen: „Es wird schun netig sein und konn nie schoden.“

Unser Otto hatte ein bestimmtes Strafsystem. Je nach Schwere des Vergehens wurden 1, 2, 3 oder im Extremfall (was seltener vorkam) noch mehr Stockschläge „verabreicht“: den Mädchen grundsätzlich auf die ausgestreckte innere Hand, uns Jungen im Winter auf die gleiche Weise, jedoch im Sommerhalbjahr bei gebücktem Oberkörper auf den dünnbehosten Hintern. Unser Lehrer holte tüchtig aus, und wenn er bei Schlägen auf die Hand die Fingerpartie traf, tat es besonders heftig und anhaltend weh. Einige weinten vor Schmerz. Manch einer heulte auf wie ein getroffenes Tier. Nur wenige hielten sich stark, verzogen lediglich das Gesicht, rieben sich die getroffene Hand und gingen aufrecht auf ihren Platz. Wer die Hand aus Angstreflex vor dem zu erwarteten Schlag spontan zurückriss, musste – bei Wiederholung – mit Erhöhung des Strafmaßes rechnen.

Wurde nur sachlich gestraft und zugeschlagen, blieb es beim physischen Schmerz; bei ironischen oder gar zynischen Kommentaren des Lehrers tat es auch noch innerlich weh. – Und nicht zu vergessen: Das alles fand vor der Öffentlichkeit des Klassenzimmers statt! Da gab es neben Mitgefühl und Solidarität auch Schadenfreude!

Einmal ging es ganz dramatisch zu. Einer aus dem vierten Schuljahr, der „Schimpanse“ – so nannte ihn auch der Lehrer mit Spitznamen – wollte sich partout nicht bücken. Immer wieder schnellte er mit dem Oberkörper jäh hoch, wenn der Lehrer zum Schlag auf das Gesäß ausholte. Schließlich drückte ihn der Lehrer mit fester Gewalt nach unten und klemmte den Kopf des Schülers zwischen seine Beine, um ungehindert auf den Hintern schlagen zu können. Da hatte wohl der „Schimpanse“ versucht, dem Lehrer ins Bein zu beißen, was dann ein furchtbar unkontrolliertes Dreinschlagen mit dem Stock zur Folge hatte. Der Lehrer war außer sich, und wir saßen wie erstarrt. Solch eine Exekution hatte es noch nie gegeben. Ich glaube zu wissen, dass danach im Dorf die Rede davon war, die Eltern hätten sich beschwert. Wenn wirklich, dann sicher ohne Erfolg … .

Ja, so war das damals mit dem Rohrstock in der Schule. Er war für uns Kinder eine ständige imaginäre Drohung, ein Mittel, das uns mit Angst disziplinierte. Ich will mit all dem nicht so sehr meinen Lehrer belasten. Die Erziehung mit dem Stock entsprach den althergebrachten Erziehungsprinzipien und Gewohnheiten in den meisten preußischen Provinzdörfern und den gesellschaftlichen und staatlichen Bedingungen, in die der Lehrer – wie wir alle – eingebunden war.

Über unseren Lehrer herrschte im Dorf die allgemeine Meinung: Der macht seine Sache gut. Und Vater höre ich heute noch sagen: „Er bringt euch was bei.“ Wir Schulkinder fanden ihn mal so, mal so. Wir akzeptierten ihn, ohne dass wir ihm besonders zugetan gewesen wären oder ihn gar geliebt hätten. Es gab ja auch kaum Vergleichsmöglichkeiten. Wenn unser Lehrer krank war, fürchteten wir die Vertretung durch den Lehrer aus dem Nachbardorf. Der trat – dick und massig – durch die Tür unseres Klassenzimmers und versuchte mit kolossalem und strengem Gehabe zu beweisen, dass er besser sei als der unsrige. Er muss wohl auch unsere verhohlene Abneigung gespürt haben. Wir waren dann froh, wenn unser Otto endlich gesund war und den Unterricht wieder aufnahm.

Nur einmal gab es so etwas wie ein Aufleuchten. Für ein paar Wochen wurde uns vorübergehend ein ganz junger Lehrer zugeteilt. Ich weiß nicht mehr, aus welchen Gründen. Jedenfalls stand es für mich fest: Das war einer! Der lachte auch froh, stand locker vor uns, war freundlich und strahlte rund herum jugendliche Frische aus. – Das ganze Gegenteil von unserem Otto, den wir mit seinen 54/​55 Jahren schon als alten Mann ansahen und der durch Jahrzehnte anstrengender Volksschultätigkeit schon recht gequält wirkte. Man weiß nicht, ob jener junge Lehrer sein schönes, frisches Erscheinungsbild hat auf Dauer aufrecht erhalten können. Fest steht: Das Jungsein ist für angehende Lehrer ein unverdientes wertvolles Pfand, das man bei Kindern zu beiderseitiger Freude einbringen kann, das man aber auch verspielen kann, wenn man trotz Jugend nicht reif genug ist für die Arbeit mit Kindern. Kurz und gut: Darüber habe ich natürlich damals nicht nachgedacht. Unser Otto war eben so, wie er war, und damit basta.

Eins hat mir und anderen Mitschülern nicht gefallen: der Spucknapf im Klassenzimmer. Dieser eigens dem Lehrer vorbehaltene Spucknapf, ein schüsselförmiger, weiß emaillierter Napf, stand neben dem dreibeinigen Waschschüsselständer in der Nische hinter dem Lehrmittelschrank. Wenn der Lehrer ihn benutzte und – wie er den Gebrauch vor aller Augen praktizierte, das verursachte mir eine Pein, die sich selbst über jahrelange Gewohnheit nicht mindern ließ. Dann sehe ich noch, wie eines der größeren Mädchen gemäß ihren Aufgaben als Ordnungsdienst den Spucknapf, weit von sich haltend, mit verzogenem, abgewandtem Gesicht, hinaustrug um diesen draußen zu entleeren und zu reinigen.

Und da war noch etwas, was mich gestört hat: Unser Lehrer nannte bzw. rief uns mit unseren Spitznamen. Er war aber nicht konsequent; es traf nicht alle, einige ließ er aus. Andererseits förderte er mit ironischen Kommentaren oder gar Vorschlägen die Erfindung und den Gebrauch von Spitznamen, manchmal unschöner auf das Äußere hinzielender wie z. B. „Muppe“ oder „Schimpanse“. Mich nannte er, wie schon gesagt, in den unteren Schuljahren „Bahner“. Das war seine Erfindung. Später war ich der „große Kiebitz“, dieweil mein jüngerer Bruder Helmut „kleiner Kiebitz“ genannt wurde. Spitznamen können nett sein und freundschaftlich wirken, manche aber können verletzen oder auf Dauer schmerzen. Kaum einer kann sich dagegen wehren. – Ich bin für das Anreden und Rufen mit Vornamen. Wie gesagt: Was ein Lehrer sich gegenüber seinen Zöglingen leisten kann, woran er sich halten darf oder halten muss, das erlaubt ihm die Gesellschaft, oder der Staat schreibt es ihm vor. Zwar lässt sich manches, wenn einer Manns genug ist, auf ein vernünftiges menschliches Maß bringen. Und ich denke, dass sich diesbezüglich auch unser Lehrer ernsthaft seine Gedanken gemacht hat. Er muss wohl, denn er war ja trotz einiger Unarten kein schlechter Lehrer. Ob ihn seine gesellschaftliche Stellung im Dorf und seine Macht auch selbstherrlich werden ließ – ich glaub’ nicht. Immerhin gehörte er zu den wenigen Honoratioren unseres Dorfes, mit ihm der Bürgermeister Robert Förster und der Gutsbesitzer Richard Dunkel, mit denen er sich einmal in der Woche im Dorfgasthaus bei „Hübners“ zum Skat traf. Da wird man sich neben dem Spielgeschäft noch mehr zu sagen gehabt haben: vielleicht das Neueste aus der Gemeinde, aus der Schule, aus Wald und Feld, aus der Politik und gewiss auch aus der nahen Kreisstadt, die der Gutsbesitzer – als einziger Autobesitzer im Dorf – mit seinem „Opel P4“ schnell erreichen konnte. Nein, halt, da war noch einer mit Auto, der Major Freitag, ein Pensionär, der ziemlich abgeschieden in der „Villa“ (die eigentlich gar keine war) am Ortsausgang zur Stadt hin wohnte.

 

Und das war schon die ganze Prominenz im Dorfe.

Einen Pfarrer im Dorf gab’s nicht, da wir auch keine Kirche hatten. Bis auf wenige Katholiken gehörten alle Bewohner des Dorfes zur evangelischen Kirchgemeinde unserer 3 km entfernten Kreisstadt Löwenberg. Schade, denke ich heute. Ob ein Pfarrer mit Kirche im Dorf bei uns hätte etwas mehr ausrichten können? Auch bei uns Kindern? Gerade in der Hitlerzeit!? So blieb es für uns, für mich, bei dem pflichtgemäßen Konfirmandenunterricht durch Pastor Frenzel oder bei einem langweiligen Vikar in der Kreisstadt. Diese Männer in ihrer schwarzen Kleidung waren weit weg von mir. Sie gaben mir nichts. Sie forderten ein Lernpensum, und alles blieb für mich im luftleeren Raum. Keine dieser Autoritäten, weder Lehrer, Pfarrer noch sonst wer, ist nahe an mich herangekommen. Kinder brauchen Nähe und Zutrauen. Dies zu spüren hätte auch mir sicherlich gut getan.

Was den Bürgermeister betrifft, so sei noch Folgendes gesagt: Er wohnte vier Häuser weiter von uns in seinem kleinen, aber schmucken, mit schönen Blumen garnierten Haus, kinderlos, mit seiner gütigen Frau, er kriegsverletzt und gehbehindert, mit Sachs-Motorrad und bescheidener Kohlenhandlung nebenbei. Uns Jungen war er halb zugetan. Wir durften, wenn wir nicht über die Stränge schlugen, hinter seiner Gartenlaube neben hohen Stauden und Büschen unsere Spielecke einrichten, auch uns mal in seiner Hängematte wiegen. Und als wir schon „größer“ waren, lieh er uns sein Luftgewehr, mit dem wir mittels Bolzen auf eine aufgehängte Scheibe am Scheunentor schießen durften. Er zeigte auf diese Weise Verständnis für uns Jungen. Aber wir merkten, dass er uns irgendwie auch erziehen wollte. So stand er ab und zu frühmorgens vor seiner Haustür, wenn wir an ihm vorbei, ordentlich grüßend, zur Schule gingen, und prüfte uns mit gezieltem Blick. „Deine Schuhe sind wieder nicht richtig geputzt!“ mahnte er streng. Einmal hat er mich zurückgeschickt. Ich bin verschämt heim und hab’ schnell die Schuhbürste aus dem Kasten geholt … . Hier muss ich einflechten: Schuhkontrollen dieser Art waren nur im Winterhalbjahr möglich; im Sommer gingen wir in den frühen Dreißiger Jahren noch barfuß zur Schule oder in Holzpantoffeln.

Unter den Honoratioren, im Kreise seiner Skatbrüder, war unser Otto vielleicht der Gebildetste, wenn man Kenntnisse und Erfahrungen in der Ökonomie absetzt. Andererseits war er wahrscheinlich der Ärmste unter ihnen. So an die 330,—Mark monatlicher Gehaltsüberweisung glaube ich gelesen zu haben, als ich irgendwann für ihn Geld von der Stadtsparkasse holen musste. Seine drei Kinder – die gescheite Tochter studierte, der jüngste Sohn quälte sich auf dem Gymnasium, der erwachsene Älteste war irgendwo – mussten versorgt oder unterstützt werden. Da blieb wohl nicht viel Geld übrig. Der Garten vor und neben dem Schulhaus, den teilweise wir Schüler bearbeiten mussten, brachte Zusätzliches für die Küche der Lehrerfamilie. Die schönen roten Erdbeeren stachen uns Kindern in die Augen. Vor seinen Bienen, die zu etwa 20 Völkern in gestaffelter Reihe auf dem Hang oberhalb des Gemüsegartens ihren festen Stand hatten, mussten wir bei aggressiver Flugzeit, wenn sie „schwärmten“, manchmal Reißaus nehmen. Wer gestochen wurde, durfte sich sofort von der „Frau Lehrer“ behandeln lassen. Es kam durchaus vor, im Sommer, dass die „Frau Lehrer“ plötzlich ins Klassenzimmer hereinplatzte und halblaut aber dringlich dem Manne zurief: „Die Bienen schwärmen!“ Das freute uns, denn darauf folgte stets eine willkommene Unterbrechung des Unterrichts. Der Lehrer musste sogleich hinaus, sehen, wohin sich der Schwarm bewegte, wo er sich niederließ, wie man ihn wieder einfangen könne. Zeigte sich Ungewöhnliches, holte er uns heraus, damit wir draußen beobachten und miterleben konnten, was da an Besonderem passierte. Mit der Zeit kannten wir uns in der Welt der Bienen ganz gut aus. Wenn unser Lehrer sonntags Honig geschleudert hatte, durften wir montags vom Resthonig kosten, der noch an Waben oder Gerätschaften haftete. So bezog er uns ein in seine Bienen- und Gartenwirtschaft, um uns praktisch zu unterweisen, vor allem aber, um uns gleichzeitig als Helfer zu seinem Nutzen zu gebrauchen.

Das alles war für uns Kinder wie für die Erwachsenen im Dorf selbstverständlich. Das durfte der Lehrer! Und warum auch nicht. So begütert war er nicht; und man sagte auch, manche Bauern trügen ihm in der Dunkelheit Geschlachtetes in die Wohnung. Aus Dankbarkeit – oder aus Berechnung? – Wie auch immer, für meine Eltern kam so was auf Grund eigenen Mangels gar nicht in Frage, und ich brauchte das nicht.

Unser Lehrer Otto L. – ich sehe ihn vor mir – er fuhr kein Auto, keine Pferdekutsche wie die besser gestellten Bauern, auch kein Fahrrad wie wir Dreizehnjährigen – er lief zu Fuß! Überall hin, auch wenn es sein musste, in die nah gelegene Kreisstadt, immer mit dem Stock in der Hand, hustend und prustend und eilig drauflos. Zu beliebigen Besorgungen schickte er gelegentlich den einen oder anderen älteren Schüler. Ich erinnere mich, dass ich für ihn auf die Sparkasse im Rathaus gehen und einmal auch einen neuen Rohrstock in der Papierhandlung Hubrig kaufen musste. Ich weiß noch: Der Verkäufer hatte mir den Stock grinsend vor’s Gesicht gehalten und mich gefragt: „Ist das der Richtige?“

Ich glaube, in den Anfangsjahren der Naziherrschaft vermied unser Otto in die Stadt zu gehen. Als er dann die braune Uniform trug, musste er wohl öfter hin, als ihm recht war. – Später, selber als Lehrer im „Staatsdienst“ und ebenso Zwängen ausgesetzt, habe ich mich manchmal rückblickend, meinen kindlichen Eindrücken von einst folgend, nach der politischen Position und Haltung unseres Lehrers Otto L. gefragt. Von seinen Erzählungen im Unterricht damals konnten wir natürlich so manches über seine Person erfahren. Aus Westpreußen stammend, ich glaube von Dirschau, war er nach Studium und Teilnahme am 1. Weltkrieg nach Schlesien gekommen und hier als Dorfschullehrer eingesetzt worden. Leutnant und Zugführer, vor allem aber Träger des „Eisernen Kreuz’ I. Klasse“, und dann und wann Berichte von harten Frontkämpfen – das kannten wir zur Genüge. Er trug sein EK I mit Stolz am Schwarzen Rock wie auch an seiner braunen Uniformbrust, das war nicht zu übersehen. Er konnte auch flammende Reden halten – bei Schulfeiern oder öffentlich im „Gerichtskretscham“. Seine kämpferische Begeisterung verspürten wir, wenn er uns patriotische Gedichte vortrug, die wir dann auch lernen sollten oder mussten, wie „Die Fahne der Einundsechziger“ oder „Der Todesritt von Mars-la-Tour“. Dann auch Gedichte der „neuen Bewegung“ von Heinrich Annacker. – Ich würde meinen, wie auch mein Vater sagte: Unser Lehrer war ein „Deutschnationaler“. Doch das änderte sich wohl im Laufe der ersten Nazijahre.