DSA: Rabenerbe

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From the series: Das Schwarze Auge #161
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Und Esmeraldo musste sie nur ergreifen. Er atmete tief aus und stellte die Füße eine Handbreit weiter auseinander, um einen sicheren Stand in der schwankenden Gondel zu finden.

In diesem Moment gellte ein schmerzerfüllter Schrei aus dem Unterholz, der in ein qualvolles Wimmern überging und dann erstarb. Schatten zuckten, angstvolle Rufe ertönten, und darunter das tiefe Grollen des großen Raubtiers. Einige Farnwedel wippten auf und ab.

Esmeraldo befahl dem Elefantenführer mit einer knappen Geste, das Tier zum Halten zu bringen. Unruhig warf es den Rüssel hin und her, als spüre es ebenfalls die Nähe des Tigers, aber es stand ruhig. Die Sklaven waren zurückgewichen und hatten sich ängstlich hinter den Jagdhelfern mit den Bluthunden versteckt, die sich geifernd in ihre Ketten warfen.

Esmeraldos Kopf war klar, als er den Sitz des Bolzens prüfte und die Sicherung der Armbrust löste. Mit einer geschmeidigen Bewegung setzte er sie an die Schulter und verengte die Augen gegen das unruhige Licht der Fackeln.

»Ihr prüft mich allen Ernstes, indem Ihr mich einen halbzahmen Tiger erschießen lasst?« Er sprach leise, aber er war überzeugt, dass Goldo ihn hören würde. »Wenn Don Amato selbst daran gescheitert ist, tut Ihr gut daran, ihn zu ersetzen.«

»Wir reden nicht von erschossenen Tigern.« Goldos Worte gingen beinahe unter im Geschrei der Treiber, das plötzlich ganz nah klang. »Wir reden von Entschlossenheit. Und der Bereitschaft, Euch zu nehmen, was Euch zusteht.«

In diesem Moment brach der Tiger aus dem Unterholz. Es war anders, als Esmeraldo vermutet hatte, kein geschwächtes oder dürres Geschöpf, sondern ein stattliches Tier und größer als die Exemplare, die er zuletzt für die Spiele in Sylla hatte einfangen lassen. Das Brustfell war blutbesudelt, und die mächtigen Kiefer hatte die Raubkatze in den Nacken eines unglücklichen Treibers geschlagen, den sie wie eine Puppe mit sich schleifte.

Esmeraldo legte den Kopf ein wenig zur Seite. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Goldo den Hundeführern mit einer Handbewegung zu verstehen gab zu warten.

Entschlossenheit. Das Wort hatte einen so wundervollen Klang. Einen vertrauten Klang. Goldo hatte gut daran getan, ihn hierherzuholen. Was war Amato doch nur für ein Narr.

Der Tiger hielt inne. Ein tiefes Grollen drang aus seiner Brust, und der Blick der dunklen Raubtieraugen fand die Insassen der Sänfte. Ein wildes Exemplar wäre vielleicht gewichen und mit seiner Beute im Unterholz verschwunden. Dieser Tiger aber kannte die Käfige der Menschen, und er würde eher töten als weichen.

Esmeraldo spürte eine tiefe Ruhe in sich, als er den Zeigefinger an den Abzug legte. Es war einer dieser Momente, die eine Jagd zu etwas Besonderem machten, in dem selbst die Zeit den Atem anzuhalten schien. In dem es nur ihn und seine Beute gab. Der Moment des Jägers.

In diesem Augenblick zerriss ein jähes Krachen seine Konzentration, als eine Gestalt aus dem Unterholz getaumelt kam. Esmeraldos Herz tat einen erschrockenen Satz, als er sie erkannte.

Khaya war nackt, aber ihre Haut war von zahlreichen kleinen Wunden gezeichnet, wo die Treiber sie mit den Spießen vor sich hergetrieben hatten. Getrocknetes Blut klebte an ihren Händen und im Gesicht. Panik stand in ihren Augen, die sich gehetzt umblickten, wie ein in die Enge getriebenes Tier auf der Suche nach einem Fluchtweg. Als sie den Tiger entdeckte, schrie sie erschrocken auf. Im Zurücktaumeln fiel das zuckende Licht der Fackeln auf den Schmuckstein, der an einer Kette um ihren Hals hing.

Esmeraldo sog scharf Luft zwischen den Zähnen ein.

»Interessant.« Goldo sprach leise, als redete er mit sich selbst. »So ein hübsches, schreckhaftes Ding. Ich kann verstehen, dass Ihr sie mögt.«

Esmeraldo presste die Lippen aufeinander. Noch immer hielt er die Armbrust im Anschlag, aber er spürte, wie seine Hand mit einem Mal zitterte. Der Tiger fauchte und ließ von seinem Opfer ab. Der schlanke Schweif zuckte unschlüssig hin und her, als versuche er abzuschätzen, ob die blutende Menschenfrau Gegnerin, Konkurrentin oder Beute sei.

Khaya wich zurück, aber der Herzschlag reichte dem Raubtier aus, um eine Entscheidung zu treffen. Der massige Körper spannte sich zum Sprung.

Es gab ein hässliches Geräusch, als die Armbrust den Bolzen frei gab. Tief bohrte sich das Geschoss in den Hals des Raubtieres und warf es noch im Sprung zur Seite. Mit einem dumpfen Schlag fiel es zu Boden und blieb zuckend liegen.

Esmeraldo hörte, wie Goldo hinter ihm leise Beifall klatschte, aber er kümmerte sich nicht darum. Kalte Entschlossenheit erfüllte ihn, als er die Winde nahm, um die Armbrust erneut zu spannen. Sein Blick fasste Khaya, die wie angewurzelt stand und zu ihm hochstarrte. Sie war immer noch schön, trotz des Bluts, das ihre helle Haut besudelte. Erleichterung lag auf ihren Zügen, und einen Moment schien es, als wollte sie etwas rufen, ihn bitten, sie zu sich zu holen.

Ihr Lächeln erstarb, als er die Waffe hob und einen weiteren Bolzen in die Führungsrinne legte. Ihre Augen weiteten sich ungläubig, dann flackerte Verstehen in ihnen auf, und sie taumelte zurück.

Esmeraldo legte die Armbrust an und verengte die Augen, während er sein Ziel suchte. Deutlich sah er das Kleinod auf ihrer Brust, das im Licht der Fackeln funkelte. Es stand ihr gut, und es war ein Jammer. Aber Goldo wollte Entschlossenheit. Und er, Esmeraldo, wollte die Zukunft.

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke, und Esmeraldo erkannte das blanke Entsetzen in ihren Augen. Diese schönen Augen, die ihn heute Morgen noch mit so viel geheuchelter Verliebtheit betrachtet hatten. Sein Finger krümmte sich um den Abzug.

Es gab keinen Laut, als ihr gefällter Körper auf dem Dschungelboden aufschlug. Er zuckte noch einmal, dann lag er still, und die Hand, die sich im Sterben noch zur Faust geballt hatte, erschlaffte.

Esmeraldo atmete tief durch, ehe er die Waffe absetzte.

Dieses Mal applaudierte Don Goldo nicht. Seine Finger ruhten auf dem Griff des Gehstocks, als Esmeraldo sich umdrehte. Aber er nickte kaum merklich.

Amato

Wind war aufgekommen und trieb Amato eine einzelne, schwarze Strähne ins Gesicht. Irritiert schob sie der junge Grande beiseite und wandte die Augen zum Horizont, in Erwartung einer jener Sturmfronten, die sich plötzlich und nachtschwarz über dem Meer auftürmten. Man sagte, die Sturmherrin Rondra selbst reite den Wolken voraus und sammle die Winde, um sie über die Stadt hereinbrechen zu lassen wie der Zorn eines Giganten. Wie dürres Schilf rissen sie dann die Hütten der Elendsviertel mit sich und trieben das Wasser mit brausender Gischt über die Hafenanlagen. Doch es war nichts zu sehen. Tiefblau und ruhig lag das Meer unter der sengenden Sonne, die bereits jetzt am Vormittag auf die Bucht niederbrannte und eine nasswarme Schwüle über die Stadt legte.

»Die Corona Paligana und die Paligana Quinta sind der Beitrag Eures Onkels, des großartigen Don Goldo«, riss ihn die Stimme der Offizierin aus den Gedanken. Man hatte sie dazu abbestellt, ihn durch den Kriegshafen zu führen, damit er sich ein Bild der Lage machen konnte. Ihre Begeisterung schien sich jedoch in Grenzen zu halten, denn sie leierte die Fakten herunter, als ginge sie davon aus, dass er ohnehin keine Ahnung davon hatte, was sie ihm zeigte. »Er kommt außerdem für die Besatzungen und die Bewaffnung auf. Dazu stellt er vier weitere Galeeren und vier Schivonen der Rabenschwingen-Klasse, die jedoch zurzeit nicht im Hafen liegen. Und die Paligana Octava, die auf dem Rückweg von Uthuria ist, um der Flotte Geleitschutz zu geben.«

Amato nickte höflich. Er verstand tatsächlich wenig von den Kriegsvorbereitungen, die seit einigen Wochen die gesamte Stadt ergriffen hatten, und noch weniger von den verschiedenen Schiffsklassen, die ihm die Offizierin im Laufe der letzten Stunde vorgestellt hatte. Sein spärliches Wissen hatte er aus den Büchern, die Goldo ihm gegeben hatte, damit er im Rat nicht aus Unwissenheit alles abnickte, was man ihm vortrug. Er hatte sich ehrlich bemüht, war letztendlich aber zu dem Schluss gekommen, den Krieg lieber denjenigen zu überlassen, die etwas davon verstanden. Als der Hohe Rat der Zwölf noch Bestand gehabt hatte, war seine Stimme nur eine unter zwölf gewesen, und da jeder wusste, dass er sich allenfalls auf den Krieg in der Arena verstand, hatte man seiner Meinung ohnehin wenig Bedeutung zugemessen.

Seit Oderin du Metuant jedoch die Macht an sich gerissen und Amato in seinen engen Beraterstab geholt hatte, konnte er sich nicht länger der Meinung anschließen, die ihm die vernünftigste schien. Und jetzt, da der Schwarze General Soldaten und Kriegsschiffe in der Stadt zusammenzog, musste Amato verstehen, was auf Oderins Kommandotisch nur Striche und Zahlen auf dem Papier waren.

»Dort drüben liegt übrigens die Rabenflug.« Die Offizierin deutete auf eine größere Galeere der Golgari-Klasse. »Das Flaggschiff des Großadmiralissimus, Don Coragon Kugres«, fügte sie rasch hinzu, als ginge sie davon aus, dass Amato nicht einmal das wüsste. »Don Coragon wird heute wieder auslaufen. Aber wenn Ihr wünscht, kann ich anfragen, ob er Zeit hat, Euch zu empfangen. Ich kenne den befehlshabenden Offizier.«

Amatos Braue hob sich. »Der Großadmiralissimus ist an Bord?«

»Sicher.« Die Frau nickte. Ihre Augen, die zuvor eher gelangweilt geblickt hatten, glänzten mit einem Mal. Offenbar verehrte sie ihren Admiral ebenso inbrünstig wie die Garden den Schwarzen General. »Don Coragon ist das Herz und der Kopf der Flotte. Der größte Admiralissimus, den Al’Anfa je hatte. Natürlich bleibt er an der Seite seiner Leute. Wünscht Ihr, ihn zu treffen?«

»Ein anderes Mal vielleicht.« Vermutlich wäre es sogar sinnvoll, mit dem Kugres zu sprechen, aber im Gegensatz zu seinem Onkel Goldo, der aus jeder Begegnung eine Gelegenheit machte, neue Verbündete zu gewinnen, fiel es Amato immer noch schwer, zwanglos zu plaudern und gleichzeitig jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Das ganze Geschacher und Taktieren ekelte ihn an, auch wenn er längst Teil davon geworden war. Als Mitglied des Kleinen Rats gehörte er zu den bedeutsamsten Persönlichkeiten der Rabenstadt, sodass er sich vor Einladungen und Bittgesuchen kaum retten konnte. Allerdings verhalf ihm seine Stellung auch dazu, sich allmählich dem Einfluss seines allmächtigen Onkels zu entziehen. Denn auch die Macht Goldo des Großartigen endete inzwischen vor der Tür zu Oderins Besprechungsraum.

 

»Wir wollen ihn nicht aufhalten«, fuhr er fort und schenkte der Frau ein flüchtiges Lächeln, damit sie die Absage nicht als Herabsetzung ihres verehrten Admirals verstand. »Don Coragon hat zu diesen Zeiten sicher Wichtigeres zu tun als mit mir zu plaudern. Ich danke Euch aber für Eure Zeit. Ihr habt mir sehr geholfen.«

»Jederzeit, Don Amato.« Die Offizierin verbeugte sich zackig, doch als sie sich aufrichtete, war die Begeisterung wieder militärischer Höflichkeit gewichen. »Ich freue mich, wenn ich zu Diensten sein konnte.«

Das bezweifelte Amato. Ganz sicher hatte sie Besseres zu tun, als ihm Dinge zu erklären, die wahrscheinlich jeder aufmerksame Hafenarbeiter besser wusste. Seit Wochen schon zog der General die Truppen zusammen, ohne dass er das Ziel dieses immer offensichtlicher geplanten Feldzugs nannte. Amato fragte sich, wie er die Söldner bei Laune hielt. Schon jetzt war die Lage am Hafen schwierig, weil gelangweilte Seesoldaten die umliegenden Tavernen und Schänken unsicher machten und Hafenarbeiter drangsalierten. Die Offiziere hatten alle Hände voll zu tun, für Ruhe zu sorgen und die Mannschaften zu disziplinieren. Lange konnte Oderin nicht mehr zögern, wenn die Begeisterung für den bevorstehenden Feldzug nicht in Unmut umschlagen sollte.

Amato verabschiedete sich und bedeutete seinem Beschützer, ihm zu folgen. Reto war Mittelreicher, ein Gladiator, den Amato einst freigelassen hatte, weil ihm der unbeugsame Geist des Mannes imponiert hatte. Und noch etwas anderes, Tieferes, das er nie ausgesprochen hatte. Es war ohnehin hoffnungslos, und Amato hatte versucht, es zu verdrängen. In einer Stadt wie Al’Anfa durfte man sein Herz nicht leichtfertig verschenken, sodass er seins tief in seiner Brust eingeschlossen hatte. Liebe machte ihn verletzlich, nicht nur für seine Gegner, die ihn am liebsten im Hanfla treiben sähen, sondern auch und vor allem für Goldo, der ein unfehlbares Gespür dafür hatte, wie man Spielfiguren zurück in die Reihe zwang. Dass er sich weitgehend von Goldos Einfluss befreit hatte, war ihm nur gelungen, weil es nichts mehr gab, womit sein Onkel ihn zwingen konnte. Auch wenn es bedeutete, allein zu sein.

»Ich habe noch nie so viele Kriegsschiffe auf einem Haufen gesehen«, brummte Reto, der sich trotz der Jahre im Süden immer noch nicht an die schwüle Hitze gewöhnt hatte. Schweiß stand ihm auf der Stirn, den er mit einem schmutzigen Tuch beiseite wischte. »Der General scheint wirklich Großes zu planen.«

Amato nickte. Zu gerne hätte er mit Reto über den kommenden Feldzug gesprochen. Schließlich war der Mittelreicher in seinem vorigen Leben Krieger gewesen und verstand vermutlich viel mehr vom Taktik und Kriegskunst als er selbst. Aber solange der General schwieg, war auch er zum Stillschweigen verpflichtet.

»Es scheint so«, sagte er daher unbestimmt und trat zu der Sänfte, die am Kai auf ihn gewartet hatte. »Ich will nach Hause. Sorg dafür, dass uns unterwegs niemand aufhält. Ich will nachdenken.«

Retos Blick verriet, dass er ahnte, was in ihm vorging. Aber zu Amatos Erleichterung beließ er es dabei und knurrte stattdessen Befehle in Richtung der Träger, die ihrem Herrn gehorsam beim Einsteigen halfen.

Amato ließ die Vorhänge fallen, die ihn vor den neugierigen Blicken der einfachen Bevölkerung, der Fana, verbarg, und lehnte sich in die Kissen zurück. Er rümpfte die Nase, als er feststellte, dass seine Sklaven die Seide mit einem süßlichen Duftwasser besprengt hatten. Er musste ihnen sagen, dass sie das unterlassen sollten, dachte er seufzend, während er die Augen schloss und versuchte, den herablassenden Ausdruck im Gesicht der Offizierin aus seiner Erinnerung zu verbannen. Sie hatte sich nicht einmal Mühe gegeben, ihre Geringschätzung zu verhehlen. Aber letztendlich zeigte sie nur, was auch viele andere dachten, unverblümter vielleicht, weil sie womöglich meinte, es sich angesichts des drohenden Krieges leisten zu können. Not und Macht brachten die Menschen dazu, ihr wahres Gesicht zu zeigen, hatte Reto einmal zutreffend festgestellt. Der Mittelreicher sah die Dinge ohnehin erstaunlich nüchtern und klar.

Er sollte mit seinem Beschützer sprechen, nicht über den Krieg, aber über die seltsame Beklemmung, die ihn seit Tagen nicht losließ. Wenn er mit jemandem reden konnte, dann mit Reto.

Obwohl er als enger Berater des Generals einer der einflussreichsten Personen in der Stadt war, hatte Amato es bislang vermieden, sich auf dem Silberberg niederzulassen, wo die Grandenfamilien geschützt durch Mauern und Dukatengardisten ihre Paläste unterhielten. Stattdessen lebte er nach wie vor in der Villa in der Grafenstadt, die er nach dem Tod seines Vaters gekauft hatte. Desiderya hatte er das Anwesen genannt, und nur wenige wussten um die wahre Bedeutung dieses Namens, dessen Trägerin kaum noch eine blasse Erinnerung war. Und doch schien es Amato, als sei es erst gestern gewesen, dass die Gladiatorin in der Arena gestorben war. Es waren diese Momente, in denen er das Gefühl hatte, als sei die Zeit für ihn stehen geblieben. Mehr als zwölf Jahre waren ins Land gegangen, seit Goldo ihm den Sitz im damaligen Rat der Zwölf verschafft hatte, und doch fühlte er sich noch genauso unwohl wie am Anfang, wenn er versuchte, seinen Platz in dieser Schlangengrube zu finden.

»Willkommen zurück, Herr«, begrüßte ihn seine Sklavin Ismelde, als die Sänfte schließlich zum Stehen gekommen war. Sie reichte ihm eine Hand, um ihm beim Aussteigen behilflich zu sein. »Wart Ihr erfolgreich?«

»Ich denke schon.« Amato lächelte flüchtig und nickte ihr dankbar zu. Ismelde war Mittelreicherin wie Reto und ein Geschenk Goldos, als er nach der Terrorherrschaft der Duumvirn seinen Haushalt hatte neu ordnen müssen. Amato mochte die kluge Frau, die als junges Mädchen von Piraten geraubt und auf dem Sklavenmarkt verkauft worden war. Sie verstand ohne Worte, was er brauchte, und führte seinen Haushalt mit ruhiger, aber bestimmter Hand, ohne dass er sich ständig vergewissern musste, ob man ihn nicht hinterging.

»Der Besuch war sehr aufschlussreich. Ich muss allerdings noch über ein paar Dinge nachdenken. Lass bitte etwas zu essen in mein Arbeitszimmer bringen, und sorg dafür, dass man mich nicht stört, ja?«

»Wie Ihr wünscht, Herr.« Ismelde neigte den Kopf. »Lanista Cortez trug mir im Übrigen auf, Euch mitzuteilen, dass der Neuzugang Ärger macht. Sie hat ihn bis auf Weiteres in seiner Zelle untergebracht und bittet Euch um ein Gespräch.«

Amato war sich sicher, dass die Lanista nicht gebeten hatte – Samana Cortez war die Ausbilderin seiner Gladiatoren und eine Frau, vor der selbst Reto Achtung hatte. Wenn sie ihn sprechen wollte, musste etwas ganz gewaltig im Argen liegen. Unschlüssig glitt sein Blick hinüber zu dem Weg, der an der Villa vorbei zum Ludus führte, wo seine Gladiatoren untergebracht waren. An anderen Tagen wäre er der Aufforderung wahrscheinlich ohne zu zögern nachgekommen und hätte sich selbst ein Bild der Lage gemacht. Sein Ludus galt als der beste der Stadt, und die Zeit, in der er als Ratsmitglied für die Arena verantwortlich gewesen war, hatte seinen Namen unwiederbringlich mit den Gladiatorenspielen verknüpft. Bei den Fana sprach man noch heute über den Zwischenfall, als er aus der Loge hinab in den Sand gesprungen war, um Reto vor dem Todesstoß zu bewahren. Diese Tat hatte ihm die Abhängigkeit von Goldo eingebracht, aber auch die Herzen des Volkes zugetragen. Dennoch waren ihm die Herzen der Fana bis heute fremd. Es erschreckte ihn, wenn man seine Sänfte umringte, weil man auf seine Fürsprache hoffte, auf eine Handvoll Münzen oder auch nur ein gutes Wort, das er nicht fand.

Bei seinen Gladiatoren war es anders. Amato wusste, dass es unter den Granden einige gab, die sich nicht darum scherten, ob ihre Kämpfer die nächsten Spiele überstanden, weil sie sie für ersetzbar hielten und dem Volk lieber eine Orgie aus Blut und Tod als einen guten Kampf lieferten. Amato kannte jeden einzelnen seiner Gladiatoren, wusste um ihre Stärken und Schwächen, fieberte mit, wenn sie kämpften, und sorgte nach dem Kampf dafür, dass sich die besten Ärzte der Stadt ihrer Verletzungen annahmen. Seine Lanista wusste, dass sie ihn rufen musste, wenn es Schwierigkeiten gab, und einen Moment lang war Amato versucht, diese ganze unsägliche Sache mit dem Krieg beiseitezuschieben und sich um diesen Neuzugang zu kümmern. Aber er musste die Pläne des Generals verstehen, um sie den Granden schmackhaft zu machen, die letztendlich die Schiffe und das Geld für diesen Feldzug stellten.

»Kümmere dich bitte darum, Reto«, wandte er sich an seinen Beschützer. Ein mattes Lächeln kroch über seine Lippen. »Und komm danach zu mir.«

Der Mittelreicher runzelte die Stirn, aber er sagte nichts, sondern nickte nur. Dankbar sah ihm Amato nach, und wieder einmal spürte er dieses tiefe Bedauern, Reto nicht alles anvertrauen zu können. Sich einfach in seinen Armen zu verlieren, nicht denken zu müssen.

Amato straffte die Schultern und atmete durch, um das beengende Gefühl abzuschütteln, das sich um seinen Hals gelegt hatte. Er durfte darüber nicht nachdenken. In dieser Welt gab es keinen Platz für starke Arme, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, Reto zu verlieren. Al’Anfa war eine großzügige Herrin, aber sie war auch grausam. Und die Erinnerung an Vittorios Tod brannte zu tief, als dass Amato sie vergessen konnte.

Sein Arbeitszimmer war schlicht und mit Blick auf den Ludus angelegt, sodass Amato vom Schreibtisch aus dem Geschehen auf dem Sandplatz folgen konnte. Zwei Gladiatorenpaare übten gerade eine Schlagabfolge. Die Stimmen der Kämpfer und die Geräusche der Stadt drangen zu ihm hinauf und mischten sich mit dem grellen Keckern eines Affen, der irgendwo über ihm auf dem Dach hocken musste. Die Schwüle war inzwischen fast unerträglich, die Luft hing drückend über den Hängen des Visra, über denen sich bereits die Wolken ballten und das Licht der Praiosscheibe verdunkelten. Kein halbes Stundenglas, dann würde der mittägliche Regen über die Stadt niedergehen und die Hitze, den Gestank und die Schwüle für einen Moment mit sich reißen. Und vielleicht konnte er dann wieder klarer denken.

Amato starrte auf das Blatt Papier, auf dem er versucht hatte, die Ausführungen der Offizierin in eine Ordnung zu bringen. Er hätte seinen Sekretär mitnehmen sollen, um Notizen zu machen, dachte er seufzend, während er eine Zahl änderte, kurz nachdachte und sie dann erneut umschrieb. Er hatte darüber nachgedacht, war aber wieder davon abgekommen, weil er es nicht mochte, wenn jemand neben ihm stand und jedes Wort notierte. Inzwischen wäre er froh gewesen, hätte er es getan.

Schwere Schritte lenkten seine Aufmerksamkeit zur Tür, und im nächsten Moment klopfte es. »Don Amato?«

»Reto!« Erleichtert ließ Amato die Feder sinken und sprang auf, zwang sich dann aber doch dazu, neben dem Schreibtisch stehen zu bleiben. »Komm herein. Gibt es etwas Neues?«

»Wegen des Neuzugangs? Ja.« Der Beschützer schloss die Tür hinter sich und wandte sich zu Amato um. Sein kantiges Gesicht blickte grimmig. »Ihr solltet über Eure Vorliebe für Nordländer nachdenken. Dieser hier weigert sich, zur Ergötzung der Massen zu kämpfen. Er verweigert nahezu alles. Die Lanista hat ihn festketten lassen, weil er sie angegriffen hat.« Reto zuckte mit den Schultern. »Er hat ihr eine Ohrfeige gegeben und sie eine elende Sklavenschinderin genannt. Ich habe ihr untersagt, ihn zu bestrafen, ehe Ihr mit ihm gesprochen habt.«

»Und du meinst, das würde etwas nutzen?« Amato schmunzelte flüchtig. »Er erinnert mich sehr an dich damals. Meinst du, ich sollte ihn freilassen? Ist es das, was er will?«

»Das wollen sie alle, Amato.« Reto sah ihn ernst an. »Das wollen alle, die für Euch in die Arena gehen.«

»Du hast trotzdem für mich gekämpft. Obwohl ich dich freigelassen habe.«

»Weil Euer Onkel Euch keine Wahl gelassen hat. Aber es geht hier nicht um mich.« Reto verengte die Lippen und blickte hinüber zum Fenster, von wo aus nun die harsche Stimme der Lanista zu ihnen hochdrang. »Seht ihn Euch an und sprecht mit ihm, ehe Ihr eine Entscheidung trefft. Und wenn Ihr meine Meinung hören wollt, dann lasst ihn in der Zwischenzeit angekettet. Irgendetwas an diesem Mann gefällt mir nicht.«

 

»Gut, dann werde ich es so machen.« Amato nickte und trat wieder hinter den Schreibtisch. »Aber wenn du schon einmal hier bist, bleib bitte einen Moment. Ich denke gerade über das nach, was mir die Offizierin gezeigt hat. Was hältst du davon? Von der Flotte«, fügte er schnell hinzu, als Reto die Stirn runzelte.

Der Mittelreicher zuckte mit den Schultern, aber er trat näher und warf einen Blick auf die wirren Aufzeichnungen, die Amato angefertigt hatte. »Es sind erstaunlich viele Schiffe. Der General hat irgendetwas vor. Aber das ist vermutlich nicht das, was Ihr von mir hören wollt, oder?«

Amato biss sich auf die Lippen. »Nein«, gab er zu. »Ich sehe selbst, dass es viele Schiffe sind. Und ich weiß, was der General plant. Aber darum geht es nicht.«

»Das dachte ich mir.« Retos Mundwinkel zuckten flüchtig. »Vielleicht sagt Ihr einfach frei heraus, was Euch beschäftigt? Anstatt nach einem Vorwand zu suchen, ein Gespräch zu beginnen?«

»Du hast recht.« Amato seufzte leise und trat an Reto vorbei ans Fenster. Der Himmel hatte sich inzwischen weiter verdüstert, und die Schwüle schien fast unerträglich. »Es ist schwer, in Worte zu fassen. Ich habe ... seit Wochen das Gefühl, als müsse bald etwas geschehen. Etwas Wichtiges. Ich kann es nicht benennen, es ist einfach da, wie ein Bauchschmerz, der nicht vergehen will.« Er wandte den Kopf zu Reto. »Verstehst du, was ich meine?«

»Nein.« Reto sah ihn ruhig an. »Doch ich stehe den Göttern auch nicht so nahe, wie Ihr es tut. Manchmal wünschte ich mir, es wäre so, doch vielleicht ist es besser, unwissend zu sein. Habt Ihr mit dem General gesprochen?«

Amato schüttelte den Kopf. »Ich kann ihn nicht wegen eines Bauchgrimmens behelligen, für das ich selbst keinen Namen habe. Alena Karinor würde wahrscheinlich unterstellen, ich habe etwas Falsches gegessen.«

»Ihr tut es nicht, weil Ihr den Spott fürchtet?«

Amato hatte unwillkürlich die Unterlippe zwischen die Zähne gezogen, entließ sie aber sofort wieder, als es ihm bewusst wurde. »Nein«, widersprach er eine Spur zu heftig. »Wenn ich sicher wüsste, dass es eine Warnung ist, würde ich es tun. Aber die göttliche Marbo schweigt. Ich träume nicht, seit Wochen schon.«

Reto hob spöttisch einen Mundwinkel. »Vielleicht habt Ihr doch etwas Falsches gegessen.« Er schüttelte den Kopf, wieder ernst. »Nein, Amato. Wenn Ihr von mir einen Rat haben wollt, dann gebe ich Euch einen. Hört auf, Euch nach dem zu richten, was andere von Euch erwarten. Die wissen ohnehin, dass Ihr von all dem Säbelrasseln nichts versteht. Warum versucht Ihr es überhaupt?« Reto griff nach dem Blatt mit den Aufzeichnungen, betrachtete es einen Moment lang, ehe er es kopfschüttelnd wieder beiseitelegte. »Der Schwarze General hat genug Soldaten um sich herum, dass er Eure Stimme nicht braucht, wenn er tatsächlich einen Feldzug plant. Spielt Euer eigenes Spiel und nutzt Eure Stärken. Seit Jahren tut Ihr, was sie Euch sagen, ob es nun Euer Onkel ist oder der General. Und Ihr denkt nicht einmal darüber nach, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen. Es ist kein Wunder, dass Euch nicht einmal diese selbstgefällige Offizierin Respekt entgegenbringt.«

»Ich bin schwach, nicht wahr? Das ist es doch, was du glaubst.«

»Ich halte mich nicht damit auf, Dinge zu glauben. Ich sehe, was ich sehe.«

»Ach, und was siehst du?«

Die Lippen des Beschützers formten ein schiefes Schmunzeln, während er Amatos Blick ungerührt erwiderte. »Ich sehe einen Granden, der mehr ist, als er sein will. Der sich versteckt, anstatt sich zu nehmen, was ihm die Götter vor die Füße geworfen haben. Ihr seid die Stimme des Generals. Vergesst das nicht.«

»Ich weiß, was ich bin«, antwortete Amato ungehalten. »Deshalb bemühe ich mich um den Frieden mit den großen Häusern, auch wenn es mich anekelt, wie sie mich betrachten und darüber nachdenken, wie ich mich in ihre nächste Orgie einfüge, anstatt sich anzuhören, was ich ihnen zu sagen habe.«

»Und dennoch tut Ihr es.«

»Es ist meine Pflicht.«

»Die wem nützt? Euch? Eurem General?« Reto stieß leise schnaubend Luft durch die Nase aus. »Ihr gehorcht ihm, weil er Euch vor Eurem Onkel schützt.«

»Ich stehe an der Seite des Generals, weil ich es für das Richtige halte. Ich habe keine Angst vor meinem Onkel«, fuhr Amato auf, aber er wusste selbst, wie leer seine Worte klangen. Er hatte Angst, aber nicht um sich selbst, sondern um Reto. Um Ismelde, um Cortez, um alle, an die er sein Herz gehängt hatte, obwohl er es nicht wollte. Und damit machte er sich zum Niemand in diesem Spiel. Goldo hatte ihn als Kind zweier Vipern bezeichnet, aber er war ein Schoßhund geblieben. Beliebt, aber harmlos, weil er es nicht wagte, das Spiel nach seinen Regeln zu spielen.

»Vielleicht muss ich selbst zur Viper werden«, sagte er leise und hob die Hand, zögerte aber, sie auf Retos Brust zu legen. Langsam ließ er sie wieder sinken. Er wich dem Blick des Nordländers aus, als er sich abwandte und wieder ans Fenster trat.

»Geh bitte.« Er atmete tief ein, um die Frische des Regens aufzunehmen, der sich inzwischen wie ein grauer Vorhang über die Stadt gelegt hatte. Hinter sich hörte er, wie Reto sich bewegte, unentschlossen, doch dann klang das dumpfe Geräusch der Faust auf dem ledernen Brustpanzer, und die Schritte entfernten sich.

Amato starrte hinaus in den Regen, während die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.