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Andreas Gößling - Barhoff & Umsetz

1

Tief in der Nacht, eine Landstraße zwischen Irgend- und Nirgendwo. Maz Barhoff kommt von der Straße ab, sein Wagen versackt bis Unter-

kante Dachreling im Schnee. Er tritt aufs Gas, wechselt den Gang, versucht es aufs Neue, aber es geht nicht mehr vor- und nicht mehr rückwärts.

Er schaltet den Motor ab und ruft Umsetz an. Ich sterbe, sagt er, im Schnee versunken und niemand weit und breit. Die Luft hier drinnen reicht gerade noch für ein Gespräch, und unter allen Namen im Telefon fiel meine Wahl auf Sie. Auch wenn ...

Die Stimme verstummt. Umsetz liegt im Dunkeln auf seinem Bett und lauscht. Auch wenn?, wiederholt er. Maz, sind Sie noch da? Aber er bekommt nur Ächzen und Keuchen und kurz darauf Knirschen zu hören. Ihm fällt ein, was ein paar Atemzüge vorher auch dem Anrufer klar geworden sein muss: Barhoff hat neuerdings einen Wagen mit Schiebedach.

Umsetz hält das Telefon an sein Ohr und hört zu, wie Barhoff ein- und ausatmet und dabei durch den knirschenden Schnee rennt. Oder auch umgekehrt. Maz, sagt er, warum gerade ich?

Na, weil Sie mein Lektor sind! Barhoff bleibt stehen, dreht sich um sich selbst. Ein scheinbar endlos weites, an der Oberfläche verharschtes Schneefeld, teilt er Umsetz mit, bei jedem Schritt sackt man bis über die Knie ein. Dornbüsche hier und da, oder ein kahler Krüppelbaum. Und über mir der wie für immer nur halbvolle Mond.

Umsetz drückt die Aufnahmetaste an seinem Telefon.

Das ist gut, das ist sogar sehr gut, Maz.

2

Maz Barhoff erinnert sich, dass er nicht immer so hieß. Bevor er Umsetz kennengelernt hat, nannte er sich anders. Aber wie anders – so weit reicht seine Erinnerung nicht zurück.

3

Ein schon älterer Mann, braun gebrannt, in weißem Anzug, sagt zu Barhoff: Sie müssen Ihrem Kind Ihr Herz schenken! Barhoff zieht Erkundigungen über den Mann ein. Ein Dandy, denkt er zuerst, wegen des weißen Anzugs, aber der Mann ist Arzt. Was allerdings nicht ausschließt, dass er außerdem ein Dandy ist.

Wie meinen Sie das – mein Herz schenken?, fragt Barhoff, als sie das nächste Mal zusammentreffen.

Habe ich schenken gesagt?, fragt der Mann zurück. Opfern wäre eventuell der treffendere Ausdruck.

Barhoff denkt längere Zeit über diese Worte nach. Am Ende beschließt er, dem Ratschlag des Mannes im weißen Anzug nicht zu folgen. Er erzählt Umsetz davon und fügt hinzu: Ich konnte mir einfach nicht darüber klar werden, wie es gemeint war.

Das ist gut, antwortet Umsetz. Das ist sogar ausgesprochen gut – für uns beide, Maz.

4

Die größte Lüge ist die sogenannte Wahrheit, improvisiert Maz Barhoff. Nichts gähnt mich abgrundloser an als die Enthüllung. Nichts langweilt mich so sehr wie das, worauf schon wieder alle gespannt sind.

Er bückt sich, schaufelt Schnee in seine Rechte.

Sehen Sie mich, Umsetz?, fragt er. Ich habe die Cam eingeschaltet, Sie sollten mich also sehen.

Er streckt seinen linken Arm aus und hält sich das Telefon vors Gesicht.

Kaltes Wasser ist Hass, warmes Kitsch, sagt Barhoff. Warmwäscher sind metaphysische Lügner. Wenn ich mich wasche, dann kalt.

Er reibt sich sein Gesicht mit Schnee ein. Samt Brille und Bartstoppeln, keuchend im Kälteschock.

Umsetz hat sich in seinem Bett aufgesetzt, die Knie an die Brust gezogen. Er tippt fahrig auf seinem Smartphone herum, aber das Display bleibt dunkel.

Wo sind Sie, Maz?, fragt er.

Immer noch im Schneefeld, sagt Barhoff. Alles, was mir hier einfällt, ist weiß. Der Mann in Weiß, der von Opferherzen faselt, das fahle Weiß der Leiche, die ich sowieso bald sein werde, das Mehlweiß Ihrer papierdünn behäuteten Hände, Umsetz. Unter dem halben Mond stapfe ich dem Horizont entgegen. In der Hoffnung, auf ein Geisterdorf zu stoßen, das mich gastfreundlich aufnimmt.

Umsetz schielt nach seinem Wecker. Sie sollten nach Hause gehen, rät er. Bevor Sie sich noch eine Bronchitis holen.

Maz Barhoff bleibt unvermittelt stehen.

Nach Hause?, wiederholt er. Und noch einmal, hallend in der Weite der eisig weißen Nacht: Nach Hause, Umsetz? Von dort sind wir alle vertrieben, dorthin kehren wir nicht mal im Sarg zurück!

Ich bewundere Sie, sagt der Lektor. Ich bete jeden einzelnen Ihrer Sätze an. Sprechen Sie weiter, Maz.

Niemand ist je nach Hause gekommen, improvisiert Barhoff im Weiterstapfen. Heimweh ist der Hautkrebs der Seele. Liebe ihr Herzfehler. Fürsorglichkeit ihr Lymphkarzinom. Mitleid ihre Blasenschwäche. Rührseligkeit ihr Grauer Star. Schneide alle Gebreste weg, dann kommt das übelste Geschwür zum Vorschein: die Seele selbst, der fahle Madensack, wie schon Hiob sagt.

Hiob?, zweifelt Umsetz.

Er horcht und sinnt, aber Barhoff hilft ihm so wenig wie sein Gedächtnis aus der Patsche.

Die Seele selbst, der fahle Madensack, murmelt Umsetz. Das ist doch von Ihnen, nicht von Hiob, Maz.

5

Umsetz beim Morgentee. So müde war er noch nie. Statt in der Zeitung liest er im Buch Hiob. Zum Ekel ist mein Leben mir geworden, reden will ich in meiner Seele Bitterkeit.

Bitterkeit ja, sagt sich Umsetz, aber die Seele selbst, der fahle Madensack? Das nicht, das muss von Barhoff sein.

Er vertieft sich aufs Neue in die alte Klage. Hast du mich nicht ausgegossen wie Milch, wie Käse mich gerinnen lassen? Das ist gut, begeistert sich Umsetz, das könnte glatt von Maz Barhoff sein.

Dann wieder das Telefon. Er rappelt sich auf, trottet in sein Schlafzimmer zurück. Im zerwühlten Laken sein Smartphone, schnurrend wie eine somnambule Geliebte.

Hier spricht Maz Barhoff, sagt eine wohlbekannte Stimme. Ich bin in Wrápusz, kennen Sie das, Umsetz? Diesen fast vergessenen Moloch an der östlichen Gedächtnisgrenze? Sie müssen mich hier rausholen, sofort!

Schon seit Jahren nistet in Umsetz die Sorge, Barhoff könne ihm irgendwann abhandenkommen. Einfach so, von jetzt auf gleich. Und nun scheint es so weit.

Dieses blaue Licht, alles wie aus Glas, wehklagt es im Telefon. Und das Ärgste wissen Sie noch gar nicht: Die halten mich hier fest. Behaupten, ich hätte bei ihnen Schulden: dreiunddreißig Jahre Übernachtung mit Büffet.

Umsetz wankt zurück zu seinem Frühstückstee. Ihm braust der Kopf, beinah wie Hiob im Sturm. Nackt kam ich hervor aus dem Schoß meiner Mutter, nackt kehre ich dahin zurück.

Was sagen Sie?, schreit Barhoff. Was haben Sie da gesagt?

Hiob, flüstert Umsetz. Meine Mutter, meine Schwester!, rufe ich zum Wurm.

Ist das wirklich von dem?, zweifelt Barhoff. Aber egal jetzt. Gehen Sie zum Bahnhof und schwingen sich in die nächste Bahn. Ostexpress, Salonwagen Zikani. Hier in Wrápusz nehmen Sie sich eine Droschke und lassen sich ins Hotel Garnie bringen. Mit ih-eh! Room number three-oh-three, that’s me! Haben Sie das alles verstanden, Umsetz?

Zikani, Wrápusz, Garnie, murmelt Umsetz. Aber sind Sie es wirklich? Sie kommen mir so fremd vor, fast wie ...

Reden Sie keinen Unsinn, fällt ihm Barhoff ins Wort. Machen Sie sich lieber auf den Weg. Fahren Sie los – jetzt!

Warten Sie, fleht Umsetz. Ich glaube Ihnen kein Wort, Maz. Sie erzählen mir da eine Geschichte, eine wirklich großartige Geschichte – aber so etwas passiert nicht in Wirklichkeit. Vor ein paar Stunden waren Sie noch in diesem Schneefeld im Nirgendwo! Erinnern Sie sich nicht, Maz?

Natürlich erinnere ich mich, höhnt Barhoff. Ich fiel in eine Spalte, und als ich wieder zu mir kam, war ich hier! In dieser schäbigen Lobby, Hotel Garnie, Wrápusz. Schauen Sie sich nur um.

Er schwenkt seine Handycam im Kreis.

Umsetz erblickt eine Hotelhalle mit abgetretenem blauem Spannteppich, speckigen Ledersesseln, je zu dreien um Resopaltischchen gruppiert. Im Hintergrund einen Empfangstresen mit mehreren Figuren in blauen Fantasieuniformen. Goldlitzen auf Brust und Schultern, üppige Troddeln an den Mützen.

Durch diese Wand da muss ich gekommen sein – wie Zoroaster der Felsgeborene, sagt Barhoff und vollendet den Schwenk.

Umsetz bekommt einen Wandabschnitt zu sehen. Von Säulen flankiert. Die Tapete hängt schlaff herunter wie Alteleutehaut und ist exzentrisch designt: babylonische Stadtsilhouette, darüber Störche im Landeanflug, an deren Schnäbeln Babys baumeln.

Aber da ist keine Tür!, bringt Umsetz hervor. Da können Sie nie und nimmer durchgekommen sein.

Garnie und nimmer!, echot Barhoff. Bringen Sie einen Gummihammer mit. Und kaufen Sie mir am Bahnhof ein Päckchen Zigarillos, meine Marke kennen Sie ja hoffentlich noch.

Mythos Filter, schmeichelt Umsetz. Das würde ich nie vergessen, Maz.

Andreas Gößling, 1958 in Gelnhausen geboren, hat Germanistik studiert und 1984 mit einer Dissertation über Thomas Bernhards Prosa promoviert. Seit Mitte der 1980er-Jahre hat er zahlreiche Bücher veröffentlicht, darunter literaturwissenschaftliche Werke sowie Sachbücher und Romane zu mythologischen, historischen und kriminalistischen Themen. Andreas Gößling ist verheiratet, hat einen Sohn und lebt artgerecht als freier Autor im Havelland.

Ruth-Maria Thomas - Abgrund

Zerdrückte Bierdosen, Zigarettenstummel, zerknüllte Taschentücher. Verbeultes Autochrom, Lagerfeuerreste, Kiefernnadeln, Sand. Überall Sand. Nebelschwaden, der Morgen ist grau.

Gestern: Musik, JBL Box, Bass, der im Wald widerhallt, Glut, Funken, Schaum aus dem Flaschenhals in den Mund, die Münder, loslassen, was soll man auch machen, mit 17, 18 in Brandenburg?

Anna rückt ihren Rock zurecht und fährt sich durch die Haare. Es ziept. Sie steigt über schlafende Körper auf Isomatten, zugedeckt mit den eigenen Armen oder fremden.

Ihr Mund schmeckt schal, sie hat ein dumpfes Gefühl im Magen, Vodka-Sprite von gestern.

Sie findet eine halbvolle Wasserflasche auf dem Boden des Beifahrersitzes. Im Sitzen trinkt sie, vorsichtige kleine Schlucke. Sand klebt an den Rillen der Öffnung. Sie schluckt ihn mit. Sie klappt die Blende mit dem Spiegel herunter.

Verschmierter Kajal und Wimperntuschebrösel unter den Augen. Sie wischt mit dem Knöchel ihres Zeigefingers die Schminke weg und dann den Knöchel am Polster des Sitzes ab. Die Sonne steigt langsam auf. Anna will nach Hause, aber sie will niemanden wecken. Sie lehnt den Kopf zurück, faltet die Hände in ihrem Schoß und wartet.

Ein paar Vögel jagen sich über der Tagebaugrube, ihr Zwitschern hallt als Echo wider.

Die Sonne steigt höher und es wird den Schlafenden nach und nach zu warm. Mike und Julia lösen sich aus ihrer Umarmung und auch Justin schüttelt sich den Sand aus den Klamotten. Er sieht sich suchend um, sieht Anna auf dem Autositz und grinst. Mit Schwung steht er auf und läuft auf sie zu. „Na, meine arische Sonne?“, flüstert er ihr ins Ohr und schiebt seine Hand zwischen ihre Oberschenkel.

Anna atmet flach, sie möchte nicht, dass Justin ihren Atem riecht, sie hat nirgendwo im Auto einen Kaugummi finden können. Justin scheint das nicht zu stören, er schiebt ihr weiter die Hand zwischen die Beine und die Zunge in den Mund.

Währenddessen wirft Mike die vergangene Nacht in den Schlund der Tagebaugrube. Leere Bierdosen, Zigarettenstummel, Taschentücher und eine zerrissene Jacke fallen, ohne ein Geräusch des Aufprallens, ins scheinbar Bodenlose. Auf dem Rückweg sagt niemand ein Wort.

„Des Deutschen Ehre ist seine Treue“ schallt es blechern aus dem Autoradio. Durch die Rockmusik und die Schlaglöcher, durch die Justin ohne abzubremsen durchbrettert, wird Anna übel. Ihr Kopf fühlt sich an, als wäre er mit tausenden glühenden Kügelchen gefüllt.

Nachdem sie die anderen abgesetzt haben, fährt Justin Anna nach Hause. „Kann ich noch mit reinkommen?“, raunt er ihr ins Ohr und drückt seine Hand gegen ihre Brüste. Sie schüttelt den Kopf. „Mein Vater möchte sonntags keinen Besuch. Weißt du doch. Er braucht seine Ruhe.“ Justin nickt, doch sie kann sehen, dass es ihn nervt. Ohne sie noch einmal anzusehen, fährt er weg. Anna schleppt sich die Stufen hoch in ihr Zimmer und schmeißt sich auf ihr Bett. Tränen rinnen ihre Wangen herab, sie beißt in ihr Kissen.

*

Am nächsten Tag in der Schule geht sie Justin und den anderen beiden aus dem Weg. Statt mit der Gang in der Pause vor dem Tor zu rauchen, täuscht sie Bauchschmerzen vor und sitzt die Pause über auf dem geschlossenen Toilettendeckel ihres Stammklos im zweiten Stock. Sie dreht das schleifpapierartige Klopapier von der Rolle runter und wieder drauf. Runter und wieder drauf. Die Übelkeit von gestern ist geblieben. Im Spiegel sieht sie einer Zombieversion ihrer selbst entgegen. Sie würde am liebsten kotzen, aber ihr Magen ist zu leer.

Erst in der vierten Stunde, im Politikunterricht, bemerkt Herr Gosse, dass jemand fehlt. „Wo ist denn Ahmed?“, fragt er. Niemand weiß es. „Anna, dann nimm du bitte die Übungsblätter für ihn mit, du wohnst doch bei ihm in der Straße.“

Die Klasse scheint den Atem anzuhalten. Alle wissen, was Justins Gang von Ahmed hält, und Anna ist fester Bestandteil dieser Gruppe. Seit Justin sitzengeblieben ist, sind sie ein Paar. Er ist der Einzige in der Klasse mit Führerschein, älter, gefährlicher. Anna kann die Blicke der Anderen in ihrem Rücken spüren. Steif nimmt sie den Hausaufgabenzettel entgegen, starrt nach vorn, an die Tafel. Herr Gosse nickt, zufrieden, so, als wäre ein Plan aufgegangen. „So so so, dann legen wir mal los! Nächste Woche soll der Tagebau geflutet werden. Wer kann mir aus gegebenem Anlass noch einmal die Probleme nennen, die für die Bevölkerung und für die Natur durch die Abbaggerung der Landschaft entstanden sind? Freiwillige vor, na kommt schon, hebt die Hände, los geht’s!“ Allgemeines Murren. Gosses mündliche Kurzkontrollen sind verhasst. Niemand hebt die Hand. „Mensch, Leute, kommt schon, das haben wir doch durchgekaut, so an die hundert Mal! Ich geb euch mal ein paar Hilfsstichworte: - Heimatverlust - Artensterben - Zwangsumsiedlungen. Na? Wer will? Immer noch nicht?“

Herr Gosse seufzt. „Guuut, dann muss wohl das Los entscheiden!“

*

Nach der Unterrichtsstunde will Anna nur noch weg. Sie läuft mit gesenktem Blick über den Pausenhof – doch Justin holt sie ein. „Was war das mit den Hausaufgaben? Warum hast du die angenommen?“ Wütend stellt er sich ihr in den Weg.

„Ich hatte kein Bock auf Stress. Ich hab’ meine Tage und mir geht’s beschissen.“

„Gib mir die Hausaufgaben.“ Justins Stimme klingt kühl. „Justin, bitte. Jetzt spiel dich nicht so auf.“ Anna kramt die Zettel, die Herr Gosse ihr in die Hand gegeben hat, aus ihrer Tasche und zerknüllt sie in ihrer Faust zu einer Kugel. „Bist du jetzt zufrieden?“

Justin nickt. „Komm, ich fahr dich nach Hause.“

Anna schüttelt den Kopf. „Nee.“ Ihre blonden Locken fallen ihr ins Gesicht. „Nee Justin, ich lauf nach Hause. Bewegung hilft mir gegen die Krämpfe, fahr ruhig ohne mich.“

Justin sieht sie starr an.

„Du bekommst doch jetzt nicht Panik oder sowas. Oder?“

Wieder Kopfschütteln.

„Ich hab’ meine Tage! Jetzt lass mich mal in Ruhe. Ok?!“ Justin grunzt. „Jaja, schon gut. Jetzt werd nicht gleich zickig. Ihr Tussis, echt ey.“ Er latscht zu seinem Auto. Anna kann hören, wie er mit Wucht die Tür zuknallt. Sie läuft langsam nach Hause. Die Sonne brennt auf ihren nackten Schultern. Der Riemen ihrer Tasche schneidet ihr ins Fleisch. Anstatt an der Dorfstraße nach rechts abzubiegen, um zu ihrem Haus zu gelangen, geht sie nach links, den kleinen Waldweg entlang.

Der Schweiß rinnt ihr den Körper hinab, brennt in ihren Augen, ihre Haare kleben an den Schläfen, ihr Mund ist trocken.

Nach etwa einer Stunde wird der Weg sandiger, breiter, aus Laub- werden Nadelbäume.

Sand klebt in Annas Ballerinas, reibt ihre Haut wund, blutig. Sie beißt sich auf die Lippe, kneift die Augen zusammen, hält nicht an, bis sie ihr Ziel erreicht hat. Am Rand der Tagebaugrube ­angekommen, bleibt sie stehen und versucht, ihren Atem zu beruhigen. Ein leiser Wind weht die warme Luft, den Sand und die Lagerfeuerreste vorvergangener Nacht umher.

Die Finger ihrer rechten Hand krampfen immer noch um die Kugel aus Hausaufgabenblättern. Sie hat sich den ganzen Weg lang an ihr festgehalten. Sie biegt ihre Finger auseinander, versucht, das zerknitterte Papier glattzustreichen. Ihr Schweiß hat die von Herrn Gosse gekritzelte Notiz am Rand verwischt. „Für Ahmed, bitte bis zur nächsten Stunde bearbeiten.“ Annas Herz schlägt schneller, als sie sich nach vorne beugt, der Abgrund blickt ihr entgegen.

Ihr fällt dieses Zitat von diesem einen Typen ein, den sie in Gosses Unterricht behandelt hatten:

„Wenn du lange genug in einen Abgrund schaust, dann schaut der Abgrund auch in dich hinein.“ Mit zitternden Fingern lässt sie die Zettel los. Vom Wind getragen, trudeln sie herum, segeln so sanft, so leicht, wie Papier es in der Luft eben tut, ins Nichts.

Ruth Maria Thomas ist in Cottbus aufgewachsen, zur Schule gegangen, war jahrelang am Piccolotheater im Jugendinszenierungsclub und Gastschauspielerin im Staatstheater Cottbus.

Eva Strasser - Das Krokodil

Als ich das Krokodil zum ersten Mal sah, hing ein Nieselregen über der Stadt. Ich war spazieren, und auf der Brücke über den Fluss blieb ich wie so oft stehen und schaute ins Wasser. Und da sah ich es. Dick, graugrün, mit knöchernen Schuppen besetzt und trüben Augen, die aus dem Wasser ragten. Ein Krokodil. Es war so lang wie ein Taxi und bewegte sich nicht, aber es lag so sicher im Wasser, als wäre es schon immer hier gewesen. Als hätte es ein Recht, hier im Wasser zu liegen. Mir wurde schlecht.

Langsam und vorsichtig zog ich mein Handy aus der Tasche und wählte 112. Ich achtete sehr darauf, mich vernünftig auszudrücken, denn ich wollte nicht, dass die Feuerwehr mich für eine Irre hielt. Das taten sie nicht und versprachen, sich zu beeilen. Ich hatte leise gesprochen und schaute wieder zu dem Krokodil. Es lag noch immer unbeweglich da, das Wasser umspielte seine Schnauze, und ich bemerkte hinter ihm plötzlich eine Bewegung. War da ein Fisch? Eine Wasserschlange? Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass die Wasserschlange zum Krokodil dazu gehörte. Sie war sein Schwanz. Das Krokodil war viel größer, als ich gedacht hatte. Ich hielt mein Handy über das Geländer, sehr vorsichtig, klickte die Kamera an, und machte ein Foto.

Wie vom Blitz getroffen schossen seine Augen in meine Richtung, die Vorderfüße spritzten Wasser durch die Luft, es bäumte sich auf und sprang mir mit weit geöffnetem Maul entgegen. Es kam mir so nah, dass ich seinen Atem riechen konnte, nach kaltem Wasser, faulen Zähnen und toten Enten. Ich schrie auf, ließ mein Handy fallen, stolperte rückwärts, sah noch, wie mein Handy im Maul des Krokodils verschwand, und rannte dann, so schnell ich konnte, zum Kiosk an der Ecke. Ich zitterte. Am liebsten hätte ich mir einen Schnaps gekauft, ließ es aber bleiben. Ich wollte ja einen seriösen Eindruck machen. Ich atmete. Ich konnte nicht denken. Neben mir saß eine Mutter mit ihren Kindern. Sie aßen Eis. Vanille mit Streuseln. Ein Krokodil. Im Familienbezirk. Da flackerte es bläulich auf der gegenüberliegenden Hauswand.

Ein Feuerwehrauto, gefolgt von einem Panzerwagen, bog um die Ecke.

Ich sprang auf. „Hallo! Ich habe angerufen! Es hat mein Handy gefressen!“

Aus dem Panzerwagen stieg ein Tierarzt mit Betäubungspfeilen, aus dem Feuerwehrauto acht Männer mit Helm und Uniform. Sie folgten mir zu der Brücke und ich bat sie, leise zu sein. Das Krokodil war weg. Und nichts deutete darauf hin, dass es jemals da gewesen war. Der Tierarzt warf mir einen langen Blick zu, die Feuerwehrmänner befragten ein paar Spaziergänger - nichts. Sie verabschiedeten sich von mir mit den Worten, dass es ja auch sehr heiß gewesen sei, in letzter Zeit, und manchmal, wenn es einem nicht so gut ginge ... „Es war ein Krokodil“, sagte ich. „Es war graugrün, und es hat mein Handy gefressen.“

Ich ging schnell nach Hause. Ich duschte. Es hatte mich angeatmet und immer wieder, wenn ich nicht damit rechnete, schoss mir dieser Atem ins Gehirn, und ich stand wieder auf der Brücke, gefangen in der warmen Fäulnis des Raubtiers. Ich setzte mich an den Rechner und las alles über Krokodile. Ich erfuhr, dass sie zusammen mit den Vögeln die letzten Verwandten der Dinosaurier sind. Dass sie ein unspezifisches Beuteschema haben. Dass sie ein Leben lang wachsen.

Ich schnappte mir einen Stockschirm und ging zum Fluss.

Ich war nicht bereit, das Krokodil und sein Verschwinden einfach so hinzunehmen. Ich wusste, was ich gesehen hatte. Aber im Fluss lag kein Krokodil. Ein paar Enten schwammen vorbei. Alles wie immer. Hatte ich mich geirrt? Aber wo war dann mein Handy?

Ich ging zurück nach Hause und fischte gerade Werbung aus meinem Briefkasten, als die Nachbarin mit ihrem Kind in den Flur kam. Wir wechselten ein paar Worte, und dann hielt mir das Kind aus seinem Buggy ein selbst gemaltes Bild hin. Eine schiefe Rutsche, und eine sehr große Echse. Mitten auf dem Spielplatz lag ein Krokodil. Ich riss ihm das Bild aus der Hand. „Das Krokodil!“, rief ich, „hast du es auch gesehen? War es in der Kita? Auf dem Spielplatz?“ Die Nachbarin sah mich verwundert an, das Kind lachte nur. „Kokodil!“

Ich hockte mich vor das Kind. „Wo war das Krokodil? Wann hast du es gesehen? Wo?“ Die Nachbarin zog mich vom Buggy weg, ich solle ihr Kind in Ruhe lassen. „Kokodil sehn!“, brabbelte das Kind fröhlich, aber die Mutter schob den Buggy schon zum Fahrstuhl. „Jetzt lassen Sie doch das Kind mal ausreden!“, brüllte ich sie an, „Warum spricht es so undeutlich! Was sagt es? Was sagt das Kind?“ Aber die Türen schlossen sich und ich stand allein im Flur.

Jetzt war ich mir sicher: Ich hatte mir das Krokodil NICHT eingebildet.

Ich ging wieder zur Brücke, am Fluss entlang, ich befragte Spaziergänger und Angler, aber niemand hatte ein Krokodil gesehen. Dafür bekam ich eine Rechnung von der Feuerwehr, dass ich mich mit 321 Euro an den Kosten des Einsatzes zu beteiligen hätte. Ich bezahlte. Vielleicht hatten ja alle recht. Ich achtete nicht mehr auf den Fluss, wenn ich spazieren ging. Was immer ich gesehen hatte, es war weg.

Die Enten aber auch. Erst jetzt fiel mir die Ruhe auf. Keine Enten. Keine Fische. Keine Vögel. Statt dessen kam mir eine verzweifelt aussehende Frau entgegen und fragte mich, ob ich einen lockigen Hund gesehen habe, den Wauzi. „Fifi!“, rief jemand auf der anderen Seite des Flusses. „Fifi!“

Ich traf mich mit Freunden. Sie erzählten von neuen Kindern, neuen Partnern, neuen Jobs. Dann war ich dran. Ich erzählte von der Lebensmittelvergiftung nach Weihnachten; vom Single-Sein; und von dem Krokodil. „Wir haben uns wirklich zu lange nicht gesehen“, sagten sie. „Es lebt im Fluss und frisst die Enten.“ „Wollten sie den Fluss nicht mal umleiten?“, fragte einer. „Meld dich mal wieder“, sagten sie, „oder wir rufen dich an.“ „Ich hab kein Handy mehr!“, rief ich ihnen noch nach.

Dann fielen mir die Plakate auf: Überall hingen Zettel, auf denen jemand seine Katze suchte. Oder den Dackel. Ich ging zur Polizei. Sie hatten bereits gehört, dass hier in letzter Zeit auffallend viele Haustiere verschwunden seien. Tierfänger wahrscheinlich. „Das Krokodil“, sagte ich. „Die Enten sind auch weg. Die Feuerwehr hat es schon mal gesucht und nicht gefunden.“ „Ah, Sie sind das“, sagte der Polizist.

Ich warf Fleisch in den Fluss, Biofleisch. Ich kaufte mir eine Mini-

Digitalkamera, mit leisem Auslöser, um das Krokodil sofort fotografieren zu können. Aber es blieb verschwunden. Dafür war das Rattenproblem der Stadt gelöst. Es war ein Wunder. Es gab keine Ratten mehr, in der ganzen Stadt nicht, nirgends. „Es lebt in der ­Kanalisation“, rief ich, „merkt das denn niemand! Das ist doch ­offensichtlich!“

Die Menschen sahen mich seltsam an. Ich bewaffnete mich. Kaufte mir eine Machete, Fackeln, Feuerzeuge. Ich roch nach Spiritus.

In den Kiosk durfte ich nicht mehr, Mütter zogen ihre Kinder zu sich, wenn ich näher kam. Das Krokodil blieb verschwunden. Mein Briefkasten quoll über von Zetteln, mit denen Menschen nach ihren ­Angehörigen suchten. Die Nachbarin stand im Flur, den Buggy schob sie vor und zurück. „Wo ist denn das Kind?“, fragte ich, aber sie sah mich nur mit großen Augen an, so leer wie der Buggy. Kitagruppen verschwanden bei Ausflügen, ein Seniorenheim war über Nacht wie leergefegt, und es gab keine Obdachlosen mehr in den Straßen. Der Kiosk war immer zu, ein leerer Bus stand mit laufendem Motor mitten auf der Straße, und die Wohnungstür meiner Nachbarin stand offen. Sie selbst war weg. Das Treppenhaus war nass.

Das Wasser im Fluss wurde trüber, und die Wiesen im Park immer matschiger. Dicke, große Mücken, die ich so nicht kannte, schwirrten zwischen den von zu viel Feuchtigkeit zusammengebrochenen Bäumen herum. Der Park hatte sich in einen Sumpf verwandelt.

Den ganzen Tag streifte ich draußen herum, immer in der Hoffnung, das Krokodil zu finden. Einmal dachte ich, ich hätte es gesehen. Es roch nach Nebel, und schwere Zweige neigten sich über den Fluss. Da sah ich eine Bewegung, hinten im Wasser. Ich rief sofort die Polizei. Keiner ging ran. Auch bei der Feuerwehr nicht. Ich klingelte an Häusern. Keiner da. Ich beschloss, zum Bezirksamt zu gehen. Auf dem Weg dorthin fielen mir all die geöffneten Haustüren, verlassenen Autos und Fahrräder auf. Nirgends eine Menschenseele. Nur ich.

Das Bezirksamt war hell erleuchtet. Ich rannte die Stufen hoch, riss die schwere Eingangstür auf und starrte ins Treppenhaus. Überall Geburtsurkunden, Ehe-Unterlagen, Passfotos. Keine Menschen. Ich rannte in die Kirche, kletterte auf den Turm und zog an dem Glockenseil, bis mir die Ohren dröhnten. Aber niemand kam. Niemand hatte mich gehört. Wobei, jemand hatte mich doch gehört.

Ein kratzendes Geräusch, ein gleichmäßiges Scharren, wie Krallen, lange Krallen, auf einem harten Untergrund. Und ein Schleifen, so, als würde ein sehr langer und schwerer Körper über den Asphalt bewegt. Und dann roch ich es.

Ich rannte weg, bevor ich es sehen konnte. Raus aus der Kirche, unter der Brücke durch, über Hinterhofmauern, und quetschte mich durch die Drehtür des Einkaufszentrums. Die Rolltreppen bewegten sich unbeeindruckt vom Chaos um sie herum: Umgefallene Tische und Stühle, eingeschlagene Scheiben, herrenlose Einkaufswägen. Ich rannte über den glitzernden Fußboden der Food World bis in den Baumarkt. Verbarrikadierte mich hinter Whirlpools, Gasgrills und Hollywoodschaukeln, stapelte Spaten, Kettensägen und Unkrautvernichter neben mir. Ich warte.

Ich klettere auf das Dach des Einkaufszentrums. Rauch hängt über der Stadt, im Hintergrund eine Bergkette, die ich noch nie gesehen habe. Von irgendwoher höre ich metallisches Scheppern, überall stinkt es nach fauligem Wasser und Blut, ich sehe die Zerstörung in den Straßen. Und dann sehe ich das Krokodil. Die Bergkette ist das Krokodil. Es reicht von der S-Bahn-Brücke bis zum Einkaufszentrum, sein Schwanz ringelt sich weiter hinten um den Kirchturm. Es zerdrückt mit seiner Schnauze einen Bus, als wäre der eine leere Kekspackung, schleudert ihn in die Luft, zerquetscht ein Haus. Es sucht mich.

Das Krokodil beherrscht meine Stadt und ich bin die Einzige, die noch übrig ist. Wie lange kann ich mich verstecken? Ich schlafe in einem Kreis aus Fackeln, ich habe mir einen Bunker aus Kacheln gebaut. Und dann wache ich eines Morgens auf und will mich gar nicht mehr verstecken. Ich will nicht die nächsten Jahre in der Fliesenabteilung leben. Allein. So gerne würde ich jemanden um Rat fragen, irgendjemand, ich habe das Alleinsein so satt, die Stille, die leere Welt.

Vielleicht ist es sinnlos, sich gegen das Krokodil zu wehren. Ich nehme einen Liegestuhl und setze mich auf die Straße. Lange ist alles still. Dann höre ich ein Geräusch. Es ist Musik. Ich kenne die Musik. Mein Handyklingelton. Jemand ruft mich an! Jemand denkt an mich! Jemand denkt jetzt gerade an mich, in dem Moment, in dem ein riesiges, schmutziges, stinkendes Krokodil vor mir auftaucht!

Ich stehe auf und stelle mich in die Mitte der Straße. Das Krokodil hat mich sofort gesehen. Mein Handy klingelt immer noch, ich habe die Mailbox schon vor langer Zeit abgeschaltet. Wir stehen uns gegenüber. Langsam kommt es auf mich zugekrochen. Ich lächle. Ich bin nicht allein. Jemand ruft mich an. Ich greife nach einer Fackel. Die Dinosaurier sind ausgestorben. Ich noch nicht.

Eva Strasser lebt in Berlin.

Sie schreibt Drehbücher, Hörspiele und Prosa.

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