Hoffnungsschimmer

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Hoffnungsschimmer
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Heidi Dahlsen

Hoffnungsschimmer

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1 .

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

11.

12.

13.

14.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

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29.

30.

31.

32.

33.

34.

Autorin Heidi Dahlsen

Impressum neobooks

1 .

H

Hoffnungs~

schimmer

©

2. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

Kein Teil dieses Werkes darf ohne

schriftliche Genehmigung der Autorin in

irgendeiner Form reproduziert,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kontakt e-Mail: sperlingsida@yahoo.de

Webseite: www.autorin-heidi-dahlsen.jimdo.com

eBook-Erstellung: ©Heidi Dahlsen

CoverDesign: http://mybookmakeup.com/

Coverfoto: pixabay.com

„Angela, ich fahre in die Stadt“, sagt Christine zu ihrer Mitarbeiterin. „Lydia ist aus der Klinik zurück. Ich kann es kaum erwarten, sie zu sehen.“

„Grüß sie schön von mir.“

„Das mache ich. Tschüss bis später.“

Christine schließt die Tür zur Werkstatt und läuft über den Hof. Auf der Pferde-Koppel sieht sie ihren Onkel und winkt ihm zu. „Onkel Heinrich, ich fahre zu Lydia. Sag Mutti bitte Bescheid, dass ich bis zum Essen wieder zurück bin.“

„Alles klar. Viel Spaß und grüß schön.“

„Ja, mache ich“, antwortet sie.

Sie ist aufgeregt wie schon lange nicht mehr und läuft zügig zu ihrem Auto.

Nachdem Lydia einen Nervenzusammenbruch hatte, dauerte es seine Zeit, bis diese bereit war, die Notwendigkeit einer Therapie zu akzeptieren.

Vier Monate haben sie sich nicht gesehen, nur einmal kurz telefoniert. Als sie Christine vor ein paar Tagen telefonisch den Termin ihrer Entlassung nannte, klang Lydia ziemlich zuversichtlich, was Christine sehr freut.

Lydia wartet bereits ungeduldig.

„Endlich bist du wieder da.“ Christine fällt ihr um den Hals. „Wir haben dich so vermisst. Ich soll dich von allen grüßen. Ach, lass dich anschauen.“ Sie geht einen Schritt zurück. „Du siehst gut aus, erholt und zufrieden.“

„Ja, so fühle ich mich auch. Es war eine harte Zeit für mich, aber ich bereue es nicht und bin dir dankbar, dass du mich so nachdrücklich davon überzeugt hast, ärztliche Hilfe anzunehmen. Eine Psychotherapie ist besser als ihr Ruf. Wenn ich das eher gewusst hätte, dann … na ja, dann hätte ich nicht so lange gewartet. Ich hatte eben auch Vorurteile und dachte, wenn jemand erfährt, dass ich mich in psychologische Behandlung begebe, mich sogar wochenlang in der Psychiatrie aufhalte, dann würden alle denken, dass ich verrückt bin und nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. Dass das nicht so ist, zumindest bei den wahren Freunden, ist mir unterdessen klar geworden.“

„Erzähle mir bitte ausführlich was du alles erlebt hast, wie so eine Therapie abläuft und so weiter. Ich habe Zeit mitgebracht.“

„Christine, ich habe bereits in der Klinik und nun auch schon hier zuhause damit zugebracht, meine Erlebnisse aufzuschreiben. Das kannst du alles in meinem neuen Buch nachlesen. Nur so viel dazu, es war aufregend und abwechslungsreich, ich habe ganz liebe Menschen kennengelernt, die mir aus ihrem Leben berichtet haben. Und ich habe gelernt, wie ich mit meinen zukünftigen Problemen gut zurecht kommen kann. Ich bin motiviert und optimistisch.“

„Das ist super und freut mich sehr.“

„Bitte erzähle du mir“, sagt Lydia, „was ich alles verpasst habe. Leider war ich bei unseren letzten Treffen meistens nur körperlich anwesend und habe kaum etwas mitbekommen. Deshalb will ich alle Neuigkeiten wissen. Was machen Tilly, Olli, Jutta? Wie geht es Daniel, Richard und Bertram?“

„Alles bestens. Tilly ruft dich heute noch an, denn sie will mit dir einiges persönlich besprechen. Daniel hat die erste Klasse fast geschafft. Ihm gefällt es ganz gut in der Schule. Er freut sich auf die Ferien, denn dann kann er den ganzen Tag Fußball spielen. Den sehen wir nur noch am Frühstückstisch und abends, wenn er über den Kühlschrank herfällt. Danach ist er todmüde und geht freiwillig ins Bett. Ollis Scheidung ist noch nicht durch. Von Sybille haben wir nichts mehr gehört. Das letzte Mal habe ich sie Weihnachten gesehen, als sie die Geschenke für Richard und Bertram brachte. Da sie kein Interesse an ihren Söhnen zeigt, meint Olli, dass wir gute Chancen haben, dass sie bei uns bleiben können. Zu ihren Geburtstagen hat sich Sybille auch nicht gemeldet. Bertram hat das gar nicht mitbekommen, na ja, er ist ja gerade erst vier Jahre alt geworden. Richard war sehr still, er schaute sich immerzu suchend um oder stand am Fenster. Ich hatte den Eindruck, dass er auf sie wartet. Die Enttäuschung war ihm anzumerken.“ Sie seufzt. „Letztens setzte er sich auf meinen Schoß, schaute mir tief in die Augen und meinte: `Hättest du uns lieber geboren.´ Mir hat es fast das Herz zerrissen. Bertram lauschte gespannt. Ich weiß nicht, ob er diese Aussage verstanden hat.“

„Oh Gott, das ist ja traurig. Was hast du geantwortet?“, fragt Lydia gespannt.

„Ich war erst mal sprachlos und habe krampfhaft überlegt, was ich überhaupt sagen soll und wie ich es erkläre, ohne Sybille schlecht dastehen zu lassen. Das will ich nicht, denn sie sollen doch keine negativen Gefühle für ihre Mama entwickeln und nicht denken, dass sie von ihr verstoßen wurden. Ich sagte dann, dass es doch egal sei, aus welchem Bauch sie geflutscht sind. Hauptsache wir haben uns alle lieb und sind füreinander da. Sie fielen mir beide um den Hals und dann haben wir lange miteinander gekuschelt. Sie nennen mich Mama Christine, das ist in Ordnung. Die Zeit wird zeigen, wie es mit uns allen weitergeht. Ich liebe die Kleinen von ganzem Herzen und Olli geht es mit Tilly und Daniel genauso. Wir sind eine große Patchwork-Familie. Und das Neuste habe ich auch erst gestern erfahren. Richard spielt doch so wunderschön Klavier. Es ist ein Genuss, ihm zuzuhören. Unser Kantor hat angefragt, ob er eventuell ab und zu beim Kindergottesdienst spielen dürfte.“

„Wow, das ist eine Ehre.“

„Ja, er macht das auch gern. Er scheint kein Lampenfieber zu haben. Das Talent wurde ihm sicher in die Wiege gelegt.“

„Vielleicht liegt es an seinem Namen. Richard Wagner, der Name verpflichtet. Und Bertram, was macht er?“

„Bertram sagt jetzt jedem ganz stolz, dass er schon groß ist, weil er vier Jahre alt ist. Er wird immer süßer, hat ununterbrochen gute Laune und versprüht Lebensfreude. Und unsere Firmen laufen eigentlich zu gut, wir können uns vor Aufträgen kaum retten, deshalb sind wir froh, dass Onkel Heinrich und meine Mutti die Kinder gern bei sich auf dem Reiterhof haben. Sie nehmen uns somit die Betreuung und einiges an Verantwortung ab.“

 

„Alles hat Vor- und Nachteile“, wirft Lydia ein.

„Ich hätte gern mehr Zeit für die Familie.“ Christine schaut etwas wehmütig vor sich hin. „Einfach mal im Garten sitzen, den Kindern beim Spielen zuschauen. Aber dazu komme ich nicht. Olli arbeitet auch an den Wochenenden viel. Meistens geben wir uns nur die Klinke in die Hand, für Zweisamkeit ist keine Zeit.“

„Das hört sich nicht gut an“, sagt Lydia.

„Ja, ich weiß. Aber ich finde keine Lösung dafür. Olli ist so froh, dass Markus sein neuer Agentur-Partner geworden ist und selbstständig mitarbeitet. Aber Markus wird ja nun bald noch einmal Papa und ich glaube nicht, dass er sein Baby nur nachts sehen möchte. Jutta strebt ein etwas geregeltes Familienleben an und will mit ihm gemeinsam das Kind aufwachsen sehen.“

„Wann bekommen sie ihr Baby?“

„Ungefähr in sechs Wochen.“

„Erzähl doch bitte von ihrem neuen Zuhause. Die Einzugsparty habe ich leider verpasst.“

„Oh ja, das war ein Fest. Das ganze Anwesen ist prächtig. Ein Zweifamilienhaus, in dem auf der einen Seite Markus‘ Eltern wohnen und auf der anderen Seite Jutta mit Markus. Und unter dem Dach sind Jenny und Janek untergebracht.“

„Ist Jenny immer noch so … so unausgeglichen?“

„Oh ja, Jutta hat ihre liebe Not. Zu Markus‘ Eltern hat sie jedoch ein gutes Verhältnis. Sie vermitteln immer zwischen Mutter und Tochter.“

„Und Markus‘ Sohn Janek?“

„Der wohnt auch bei ihnen. Er ist jetzt schon ein erfolgreicher Reiter und kann hier sein Training optimal absolvieren. Seine Mutter hat sich an der Ostsee eine neue Existenz aufgebaut. Ich glaube, sie ist ganz froh, dass sie neu durchstarten kann. Man muss eben bei einer Trennung abwägen, was für alle das Beste ist.“

„Und Juttas Mutter? Hat sie sich nun mit dem Gedanken, noch mal Oma zu werden, abgefunden?“

„Das weiß ich gar nicht. Über die wird nicht mehr gesprochen, weil Jutta sich jedes Mal so aufregt und das ist nicht gut für das Baby, das sie erwartet.“

„Das kann ich gut verstehen. Die Frau ist unmöglich. Wie kann man seine Unzufriedenheit nur so ausleben? Jutta und Markus sind so liebe Menschen, die wären doch froh, wenn sie sich als liebevolle Oma ins Familienleben einbringen würde.“

„So sehe ich das auch, man kann jedoch niemanden zu seinem Glück zwingen.“ Christine zuckt mit den Schultern. „Jedenfalls wünsche ich dir von ganzem Herzen, dass es dir gut geht und dass dies lange so bleibt. Du weißt, wenn etwas ist, wir sind für dich da.“

„Ja, das weiß ich. Ich habe mir vorgenommen, mich nicht mehr in meiner Wohnung zu verkriechen.“

„Das klingt gut.“

„Mit meiner Verlegerin muss ich dringend sprechen. Ich bin gespannt, was sie zu dem Manuskript sagt. Das ist mal eine ganz andere Geschichte. Voll aus dem Leben gegriffen. So erfahren viele, die sich mies fühlen, wie es in der Psychiatrie zugeht. Vielleicht kann ich denen somit die Entscheidung, sich ebenfalls helfen zu lassen, erleichtern.“

„Eine gute Idee. Solche Ratgeber werden gebraucht. Ich drücke dir die Daumen, dass sie es ebenso sehen.“

„Vielleicht kannst du mir helfen, einen aussagekräftigen Titel zu finden. Am besten wäre, dass mit einem Wort oder wenigstens kurz und knapp alles gesagt ist.“

Christine überlegt. „Ich kenne den Inhalt noch nicht, da ist das nicht einfach.“

Lydia schiebt ihr einen Zettel hin. „Hier sind meine Ideen.“

Christine liest vor: „Sag JA zur Therapie …

Meine Erlebnisse in der Psychiatrie …

Chaos der Gefühle …

Gefühlskarussell.“

„Passend sind alle noch nicht. Was meinst du?“, fragt Lydia.

„Hmmm … etwas mit Gefühlen würde mir zusagen, denn die Gefühle der Patienten fahren Achterbahn. Das passt gut.“

„Ja, du hast recht. Gefühlschaos ist mit einer Achterbahnfahrt zu vergleichen. Eigentlich drehen die Gefühle eher Loopings.“

„Dann nenn es doch `Gefühlslooping´ und fertig.“

„Gefühlslooping“, murmelt Lydia vor sich hin. „Das klingt gut, das schreibe ich gleich auf. Danke, Christine.“

„Freut mich, wenn ich dir helfen konnte.“

„Manchmal tue ich mich schwer, Worte zu finden, um den Text auf den Punkt zu bringen. Heute bin ich sowieso etwas hin und her gerissen.“

„Warum?“

„Vergangene Nacht träumte ich, dass ein Tornado auf mich zugerast kam. Nirgends konnte ich Halt finden und somit riss er mich mit sich.“

„Oh je, du sagtest doch, dass du keine Albträume mehr hast.“

„Das ist es ja. Ich habe mich während des Flugs in dem Strudel sehr wohl und sogar sicher gefühlt.“

„Das scheint ein gutes Zeichen zu sein. Ich würde es so deuten, dass auf dich zwar stürmische Zeiten zukommen, jedoch mit wunderbaren neuen Eindrücken und einem Happy End. Lydia, bestimmt hat das etwas Gutes zu bedeuten.“

„Ich hoffe es.“

2.

„Was ist nun schon wieder mit Jenny los?“, fragt Jutta kopfschüttelnd. „Wieso kommt sie nicht wie abgesprochen gleich nach der Schule nach Hause?“

„Sie hat einen neuen Freund“, antwortet Janek und ist augenblicklich sauer auf sich selbst, weil er wieder einmal den Mund nicht halten konnte.

„Was?!?“, ruft Jutta aus. „Das fehlt uns gerade noch. Wieso weiß ich wieder nichts davon? Weißt du schon Genaueres?“ Janek zuckt mit den Schultern. „Los, raus damit!“, fordert Jutta ihn auf weiterzusprechen.

Er schaut seinen Vater hilfesuchend an.

„Lass gut sein, Jutta“, antwortet Markus für seinen Sohn. „Vielleicht hat sich die Freundschaft mit diesem Jungen auch bald wieder erledigt. Also musst du dich gar nicht erst aufregen. Beruhige dich. Denk an das Baby.“

„An das denke ich unaufhörlich, weil es mich ständig mit kräftigen Fußtritten an seine Anwesenheit erinnert.“

„Ich würde dir die Schwangerschaft gern abnehmen“, bietet Markus lächelnd an und streichelt ihr sanft über den Bauch.

„Lenk nicht ab. Ich möchte endlich über meine Tochter und deren Umgang Bescheid wissen. Warum erfahre ich nie etwas?“ Erst jetzt bemerkt sie, dass Janek den Raum verlassen hat. Sie seufzt. „Warum kann meine Tochter nicht so vernünftig sein, wie dein Sohn? Immerhin sind sie gleichaltrig und beide in der Pubertät. Ich dachte, wenn wir zusammenwohnen, dann wirkt sich Janeks Vernunft wenigstens etwas auf Jenny aus. Aber Pusteblume.“

Bevor Markus etwas erwidern kann, wird die Haustür aufgerissen und Jenny kommt hereingestürmt. Im Schlepptau hat sie einen jungen Mann.

„Wir gehen in mein Zimmer.“ Sie hebt eine Hand und zeigt mit dem Daumen hinter sich. „Ach ja und der nette junge Mann hier ist Albert. Mein neuer Freund.“

Der Junge macht einen Schritt nach vorn, grinst Jutta und Markus verlegen an und nickt zur Begrüßung leicht mit dem Kopf. Da Jenny ihn unsanft zur Treppe zieht, kommt er etwas ins Straucheln und es bleibt ihm nichts weiter übrig, als hinter ihr her zu stolpern.

Jutta glaubt, ihren Augen nicht zu trauen. Bevor sie jedoch etwas äußern kann, sind die beiden verschwunden. Sie plustert ihre Wangen auf.

Markus grinst. „Schatz, reg dich bitte nicht auf. Gib ihm eine Chance. Das ist heute modern.“

„Hast du das gesehen? Er sieht aus, als wäre er eben einer Geisterbahn entsprungen. Was sollen die Leute sagen, wenn er öfter hier ein und aus geht?“

„Man sollte einen Menschen nie nach Äußerlichkeiten beurteilen“, sagt Markus.

„Das mache ich sonst nicht, aber hier ist es doch offensichtlich. Ein schwarzer Ledermantel, schwarze Stiefel mit Spinnennetzen darauf, eine Kopfseite geschoren, die andere zieren lange schwarze Haare, ganz abgesehen von dem vielen Metall im Gesicht und an den Ohren. Das färbt doch auf die Seele ab.“

„Gib ihm eine Chance.“

„Das wird mir schwer fallen.“

„Ich bin dann mal weg“, sagt Janek leise und hofft, dass ihn niemand hört, damit ihm weitere Fragen erspart bleiben.

„Janek!“, ruft Jutta. Sie geht zu ihm, damit er ihr nicht wieder entwischt. Er verdreht die Augen und schaut sie etwas genervt an. „Bitte erzähle mir, was mit diesem Albert los ist“, fordert sie ihn auf.

„Was soll denn mit ihm los sein?“, fragt er scheinheilig.

„Du weißt genau, was ich meine.“

Markus stellt sich hinter Jutta, legt sein Kinn auf ihre Schulter und beide Hände auf ihren Bauch, um das Baby darin zu beruhigen. Er zwinkert seinem Sohn aufmunternd zu.

„Warum kannst du nicht einmal etwas mit Jenny allein klären?“, fragt Janek. „Sie erzählt mir in letzter Zeit fast gar nichts mehr, nur weil sie weiß, dass ich deiner Neugier immer wieder nachgebe.“

„Das ist keine Neugier“, sagt Jutta empört. „Das ist … äh … hmmm“, sie überlegt angestrengt, bevor sie weiterspricht. „Ich bin schließlich ihre Mutter und für sie verantwortlich.“

„Ich muss jetzt los“, sagt Janek. „Sonst komme ich zu spät zum Training.“

Markus signalisiert ihm mit einem leichten Kopfnicken, dass er gehen kann. Janek schnappt sich seine Tasche und ist umgehend verschwunden.

„Komm, Jutta. Du legst dich jetzt hin. Denk daran, was der Arzt gesagt hat“, erinnert Markus sie. „Du sollst die Aufregung in Grenzen halten, egal wie schlimm es kommt. Ich koche dir einen Tee.“

Er kann es kaum erwarten, dass seine Eltern aus dem Urlaub zurückkommen und seine Mutter Jenny wieder unter ihre Fittiche nimmt. Sie ist die einzige, die an das junge Mädchen herankommt. Dass Pubertät so schlimme Auswirkungen haben kann, hätte er nie gedacht, denn sein gleichaltriger Sohn ist im Gegensatz zu Jenny regelrecht friedlich und umgänglich.

Na, was nicht ist kann noch kommen“, denkt er und schickt ein Stoßgebet in Richtung Himmel. „Hoffentlich nicht.“

Während er in der Küche hantiert denkt er wieder einmal über Jenny nach. Jutta hat ihren Mann vor einem Jahr verlassen und sich kurz darauf bereits in ihn verliebt. Jenny leidet unter der Trennung ihrer Eltern, zumal die kaum noch miteinander reden. Auch die Schwangerschaft ihrer Mutter macht ihr zu schaffen. Bisher hatte sie in Janek einen Verbündeten. Seitdem sie feststellen musste, dass ihre Mutter ihn über sie unermüdlich ausfragt, spricht sie fast gar nicht mehr mit ihm.

Weihnachten hat sie Markus‘ Eltern kennengelernt und ziemlich schnell Vertrauen zu ihnen gefasst. Denn Oma Anni geht auf ihre eigene liebevolle Art mit dem jungen Mädchen um. Sie sagt, dass das darauf zurückzuführen ist, dass sie Jenny nicht erziehen muss, sondern nach Strich und Faden verwöhnen kann, so wie es sich für eine Oma gehört. Von Vorteil ist auch, dass alle zusammen in ein Zweifamilienhaus gezogen sind, sodass Jenny sich mehr bei Markus‘ Eltern aufhält. Oma Anni hört ihr unermüdlich zu und macht Vorschläge zur Lösung ihrer Probleme. Jenny fühlt sich ernst genommen und gar nicht bevormundet oder gar kontrolliert. Und Opa Wolfgang trägt ebenfalls zu Jennys Wohlergehen bei, denn er bezieht sie in die Planung des Grundstückes, vor allem des Pools, mit ein und spielt unermüdlich ihren Chauffeur, wenn sie wieder mal spät dran ist oder zu erschöpft, um mit dem Rad zu fahren.

Markus versucht ebenfalls zwischen Jenny und Jutta zu vermitteln, was ihm manchmal sogar gelingt. Jutta macht sich jedoch immerzu Sorgen, weil sie das Gefühl hat, bei Jenny einiges gutmachen zu müssen, denn sie hat ständig ein schlechtes Gewissen, ihr wegen der Scheidung und des Umzugs zu viel zugemutet zu haben. Obwohl Jenny öfter bestätigt, dass das nicht der Fall ist, sie sich in der Kleinstadt sogar wohlfühlt, lässt sich Jutta von ihrem Standpunkt nicht abbringen.

Er wartet geduldig bis das Teewasser kocht und füllt es in die Kanne. Aus dem Schrank nimmt er zwei Tassen, Löffel und Zucker.

Als das Telefon im Wohnzimmer läutet, greift Jutta nach dem Hörer und nimmt das Gespräch entgegen.

„Ich glaube nicht, was ich gesehen habe!“, vernimmt sie sogleich die wütende Stimme ihrer Mutter.

Jutta stöhnt auf und ärgert sich, dass sie Markus nicht gerufen hat. Sie kommt aber gar nicht dazu, lange darüber nachzudenken, denn ihre Mutter lässt ihrem Unmut freien Lauf.

„Ich kann nicht nachvollziehen, dass du deine Tochter so rumlaufen lässt. Hast du unterdessen jeden Einfluss auf sie verloren? Was sollen nur die Leute denken? Ich traue mich schon gar nicht mehr auf die Straße, weil ich immerzu Angst haben muss, einem von euch zu begegnen. Meine Nachbarn reden hinter meinem Rücken und machen sich lustig. Was ist das für ein Kerl, mit dem sich Jenny eingelassen hat? Karneval ist längst vorbei. Oder sind die beiden schon von den Toten auferstanden? Was wollt ihr mir noch zumuten?“

 

Als sie kurz Luft holt, ergreift Jutta ihre Chance und erwidert: „Hallo Mutti, Jenny ist eben erst nach Hause gekommen. Ich konnte noch nicht mit ihr sprechen.“

„Pah! Das höre ich jedes Mal von dir. Du taugst wirklich nichts als Mutter und nun kommt noch das nächste Kind.“ Jutta kann sich vorstellen, wie ihre Mutter den Kopf schüttelt und ihre Lippen zusammenpresst, sodass nur noch ein dünner blasser Strich erkennbar ist. Genau so hat sie immer vor ihr gestanden, als sie ihr als Kind Vorwürfe gemacht hat. Und genau so eine Mutter wollte sie selbst nie für Jenny werden. Sie seufzt und denkt: „Wie man es macht …“

„Da fehlen dir wohl die Worte!“, wird sie angeblafft.

„Jenny hatte es in letzter Zeit nicht leicht“, versucht sie ihre Mutter zu beschwichtigen.

„Wie lange willst du noch darauf rumreiten? Wer hat es schon leicht im Leben? Ich habe dir bereits mehrmals gesagt, dass bei diesem Kind Hopfen und Malz verloren sind.“

„Ich weiß“, erwidert Jutta leise, um ihre Mutter nicht noch mehr aufzuregen und endlich ihre Ruhe zu haben.

„Und die Eltern von deinem Markus tun ihr gar nicht gut. Die verwöhnen sie nur. Wie oft sehe ich, dass Wolfgang sie durch die Stadt kutschiert. Pflichten braucht das Mädchen, Pflichten ohne Ende und kein Himmelschloss. Die wird doch bei euch allen wie eine Prinzessin gehalten. Na, wenn ich etwas zu sagen hätte … dann … Warum hast du dich nicht dafür eingesetzt, dass ich zu euch ziehen darf? Dann wäre Jenny schon längst ein wohlerzogenes Kind, das euch nicht auf der Nase rumtanzt und mit dem man sich nicht schämen muss …“

Markus kommt mit einem Tablett herein und sieht, dass Jutta Tränen über die Wangen laufen.

Leise fragt er sie: „Deine Mutter?“

Sie nickt.

Er nimmt ihr den Hörer aus der Hand und bevor er etwas sagen kann, hört er ihre Mutter wettern: „… immer höre ich nur Markus hier und Markus da und Oma Anni macht dies und Opa Wolfgang jenes. Du versteckst dich hinter denen. Bilde dir endlich mal eine eigene Meinung und steh dazu. Wenn ich bei euch wohnen würde, dann wäre …“, weiter kommt sie nicht, denn Markus unterbricht sie.

„Frau Schubert!“, sagt er laut und bestimmt. „Jutta kann Ihnen jetzt nicht weiter zuhören. Sie muss sich noch etwas ausruhen, denn wir haben nachher einen Arzttermin. Vielleicht versuchen Sie es später noch einmal, dann können wir Ihnen berichten, wie es Ihrem noch ungeborenen Enkelkind, auf das wir uns alle sehr freuen, geht.“ Er legt einfach auf und reicht Jutta ein Taschentuch.

„Danke“, sagt sie und schnäuzt kräftig.

Markus schüttelt den Kopf. „Ich habe dir doch gesagt, du sollst das Telefon einfach klingeln lassen und nicht mehr rangehen.“

„Es hätte doch etwas passiert sein können … mit Jenny“, erwidert Jutta.

Markus atmet hörbar aus. „Sie ist kein kleines Kind mehr. Außerdem ist sie mit Albert oben in ihrem Zimmer.“

„Ach ja, das habe ich ganz vergessen. Es tut mir leid. Meine Mutter bringt nur Ärger und Unruhe in unsere Beziehung.“

„Wie wahr“, sagt Markus und lächelt versöhnlich. „Aber dafür kannst du nichts. Wir müssen eben Grenzen setzen und lernen, damit umzugehen. Als nächstes kaufe ich eine moderne Telefonanlage, damit wir im Display sehen, wer anruft. Dann werden wir eben vorerst für deine Mutter nicht erreichbar sein.“

„Eine gute Idee“, sagt Jutta und verzieht schmerzerfüllt ihr Gesicht.

„Was ist?“, fragt Markus besorgt. „Bitte beruhige dich.“ Sie stöhnt auf und hält sich den Bauch. „Komm, wir fahren gleich zum Arzt. Sicher ist sicher.“

Als sie an der Rezeption der Arztpraxis stehen, winkt ihnen Christine aus dem Wartezimmer zu. Markus ist sehr erfreut, sie zu sehen, denn nun kann sie Jutta etwas ablenken.

„Setz dich schon zu Christine“, fordert er Jutta auf. „Ich melde uns an.“

„Du siehst ja ziemlich erschöpft aus“, sagt Christine zu ihr. „Muss ich mir Sorgen machen?“

Jutta schüttelt den Kopf. „Nein. Es ist nur …“

„Lass mich raten“, wird sie von Christine unterbrochen. „Jenny? Deine Mutter?“

„Beide. Leider kann ich sie nicht einfach aus meinen Gedanken streichen. Es würde schon reichen, wenn sich meine Mutter etwas zurückhält, aber sie ruft ständig an und macht mir Vorwürfe.“

„Dann geh doch einfach nicht mehr ans Telefon.“

„Das habe ich auch schon vorgeschlagen“, meint Markus. Er umarmt Christine herzlich. „Schön, dich zu sehen. Ist bei euch alles in Ordnung?“

„Ja, das tägliche Chaos hält uns auf Trab.“ Sie schmunzelt und fragt Jutta: „Wie lange dauert es noch mit dem Baby?“

„Fünf Wochen. Ich hoffe, dass ich durchhalte und es nicht eher kommen muss, nur weil …“ Sie winkt ab und krümmt sich zusammen.

Die Sprechstundenhilfe schaut zu ihnen, springt auf und gibt Markus ein Zeichen, mit Jutta umgehend in einen Behandlungsraum zu gehen. Sie hält die Tür auf und gibt dann dem Arzt Bescheid.

Christine macht sich Sorgen, ist aber froh, wieder allein zu sein, um ihren Gedanken nachhängen zu können.