Gefühlslooping

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Gefühlslooping
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Heidi Dahlsen

Gefühlslooping

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Inhaltsverzeichnis

Titel

1.

2.

3.

4.

5.

6.

7.

8.

9.

10.

12.

13.

14.

15.

16.

17.

18.

19.

20.

21.

22.

23.

24.

25.

26.

Autorin Heidi Dahlsen

Impressum neobooks

1.

Heidi Dahlsen


Gefühlslooping

Für Melissa und ihre Mama.


© 2018 Heidi Dahlsen

3. Auflage

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.

Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche

Genehmigung der Autorin in irgendeiner Form reproduziert,

vervielfältigt oder verbreitet werden.

Kontakt e-Mail: sperlingsida@yahoo.de

Autorenhomepage: www.autorin-heidi-dahlsen.jimdo.com

eBook-Erstellung: Heidi Dahlsen

CoverDesign: http://mybookmakeup.com/

CoverBild: pixabay.com

Illustrationen: Media Verlagsgesellschaft mbH


Lydia fährt langsamer als es die erlaubte Höchstgeschwindigkeit zulässt. Das ist sonst eigentlich überhaupt nicht ihre Gewohnheit, aber heute hat sie es nicht eilig, ans Ziel zu kommen.

Worauf habe ich mich nur eingelassen?“, fragt sie sich immer wieder in Gedanken und überlegt krampfhaft, welche der vielen Ausreden, die ihr mit Leichtigkeit zugeflogen sind, wohl am Glaubhaftesten erscheint, damit sie sich doch noch vor der Therapie drücken kann.

Mein innerer Schweinehund will mich wirklich mit allen Mitteln davon überzeugen, dass ich kneife. Nichts da“, ruft sie sich zur Ordnung. „Lydia! Du ziehst das durch!“

Sie atmet tief ein und hofft, dass sich bald alles zum Guten wenden wird.

Als sie ihr Auto auf dem Parkplatz abstellt und sich umsieht, ist sie erleichtert, denn die Klinik ist in einem modernisierten Gutshaus untergebracht und wirkt von außen eher wie ein Kurhaus. Nur ein kleines Schild neben dem Eingang weist darauf hin, welche Behandlungen im Inneren durchgeführt werden. Sie wundert sich etwas darüber, dass kein einziges Fenster vergittert ist.

Die wildesten Vorstellungen über psychiatrische Einrichtungen hatten ihre Fantasie im Vorfeld scheinbar etwas ausufern lassen. Sie schmunzelt, als sie sich an einen Albtraum erinnert, in dem sie in einer Gummizelle laut schreiend vergebens auf Befreiung wartete. Die Zwangsjacke entwickelte ein Eigenleben und schnürte ihr die Luft ab, sodass sie schweißgebadet und voller Panik erwacht war.

Scheinbar alles nur halb so schlimm“, denkt sie erleichtert. „Hoffentlich.“

Nachdem der Termin für den Beginn ihrer Therapie in der Psychiatrie feststand, überkamen sie ständig Zweifel, ob die denn wirklich nötig sei. Deshalb ist es ihr nicht leicht gefallen, ihre Koffer zu packen, und sie ist etwas stolz auf sich, weil sie die Anreise durchgehalten hat.

Auch das Aufnahmegespräch mit der Psychologin lief ziemlich harmlos ab. Eigentlich wollte sie sich nur einen ersten Eindruck verschaffen und schnell wieder nach Hause fahren. Da sie aber davon überzeugt war, dass der zweite Anlauf auf keinen Fall einfacher werden würde, fragte sie spontan nach, ob sie bleiben dürfe. Sie wunderte sich selbst über ihren Mut und hoffte im selben Moment, diesen Entschluss nicht bereuen zu müssen. Die Ärztin bot ihr an, vorerst in einem Doppelzimmer einzuziehen. Das wollte Lydia eigentlich auf gar keinen Fall und dachte kurz über die Vor- und Nachteile nach. Sie fühlte sich etwas hin- und hergerissen, denn sie konnte nicht einschätzen, wie `gefährlich´ die andere Frau ist.

Als diese ihr jedoch vorgestellt wurde, zerstreuten sich ihre Zweifel, denn sie machte einen ziemlich normalen und friedlichen Eindruck und stellte sich gleich selbst mit den Worten vor: „Hallo. Ich bin Elfi und muss jetzt zur Therapie. Richte dich erst mal häuslich ein. Wir können uns nachher ausführlich unterhalten.“

Sie verließ den Raum, und Lydia war froh, sich erst einmal in Ruhe umschauen zu können.

Elfi scheint einen seltsamen Humor zu besitzen“, denkt sie. „Ich will hier auf keinen Fall häuslich werden. Und das ist auch gut so, denn sonst würde ich nicht alles dafür tun, die Therapie schnell zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen, und müsste sonst ewig hierbleiben.“

Lydia legt ihre Sachen in den Schrank und stellt ihren Laptop auf den Schreibtisch am Fenster. Hoffnungsvoll schaut sie auf das Display ihres Handys und muss feststellen, dass weder ein Anruf noch eine Notfall-SMS eingegangen ist. Sie ist etwas enttäuscht, weil somit kein Grund für sie vorliegt, umgehend wieder nach Hause zu fahren.

Nachdem sie fertig ausgepackt hat, geht sie nach draußen, um sich die Außenanlagen anzusehen und ist erfreut, als sie einen idyllischen See erblickt, an den sich ein Park anschließt.

Ihre erste Aufregung hat sich unterdessen gelegt. Sie fühlt sich eigentlich ganz gut.

Vielleicht kann ich meinen seit langem gefassten Vorsatz, wenigstens ab und zu zu joggen, hier umsetzen.“

Sie geht zum See und setzt sich auf eine Bank. Als sie ihren Blick schweifen lässt, bemerkt sie, dass sie allein ist und ist froh darüber. Vor der Konfrontation mit den anderen Patienten graut ihr. Wieder kommen Zweifel auf, und sie würde am liebsten fluchtartig die Klinik verlassen. Sie ist so sehr in Gedanken versunken, dass sie hochschreckt, als sie angesprochen wird.

„Nein, nein“, antwortet Lydia schnell. „Ja, natürlich können Sie sich zu mir setzen. Ich bin vorhin erst angekommen und weiß noch nicht so recht … wie …“

Die Frau grinst. „Dass du die Neue bist, musst du nicht betonen. Das sieht man dir an.“ Lydia wird rot. „Keine Angst“, sagt die Frau und winkt lässig ab, „hier guckt in den ersten Tagen jeder so, wie du jetzt. Das gibt sich. Und über dein Verhalten musst du dir an diesem Ort absolut keine Gedanken machen. Wo, wenn nicht hier, kannst du sein, wie du schon immer sein wolltest?“

„Dürfen wir eigentlich zusammensitzen und uns unterhalten?“, fragt Lydia.

Die Frau lacht. „Wenn es nicht erlaubt wäre, hätte man um den See herum nur einzelne Stühle in großem Abstand aufgestellt. Die gemütlichen Bänke verführen uns ja regelrecht dazu, miteinander zu plaudern.“

„Dann bin ich ja beruhigt.“

Lydia wird schwindlig. Schweißperlen treten auf ihre Stirn. Schnell wischt sie diese weg.

„Bist du freiwillig hier?“, fragt die Frau.

„Mehr oder weniger“, antwortet Lydia.

„Tja, manchmal bleibt einem nichts anderes übrig. Du solltest dich von Anfang an daran gewöhnen, dass sich fast alle duzen.“ Sie streckt Lydia ihre Hand entgegen und stellt sich vor. „Ich bin Karin.“

„Lydia.“

Eine Weile beobachten sie die Schwäne und Enten, die auf dem See schwimmen.

Da Lydia das Schweigen etwas unangenehm ist, stellt sie fest: „Es ist ja ganz schön hier draußen.“

 

„Drinnen wird es dir auch bald gefallen“, antwortet Karin und stupst sie aufmunternd an.

„Das kann ich mir nicht vorstellen“, erwidert Lydia.

„Glaube mir, es ist nicht so schlimm, wie du es dir vielleicht vorstellst. Die Therapeuten sind freundlich und verständnisvoll. Was willst du mehr?“

„Ich wäre lieber zu Hause und würde arbeiten“, sagt Lydia wehmütig.

„Das glaube ich dir. Dabei würdest du dich bestimmt wohler fühlen.“ Lydia nickt. „Und, wo hat dich dein bisheriger Lebensstil hingeführt?“, fragt Karin. Lydia zuckt mit den Schultern. „Siehst du, es ist doch nicht so einfach. Deine Welt kommt bald wieder in Ordnung, wenn du dich nicht allzu sehr gegen die Therapie sträubst.“

Lydia ist erfreut, als sie Elfi kommen sieht.

„Störe ich?“, fragt Elfi.

Lydia lächelt sie an und schüttelt den Kopf.

Karin erhebt sich. „Ich muss sowieso los. LF hat es nicht gern, wenn man sie warten lässt. Und dabei betonen die hier ständig, dass man die Gesprächszeiten frei wählen kann. Na ja, mit irgendeiner Parole müssen sie die Menschen ja herlocken. Wer würde sonst schon freiwillig bleiben?“

Sie zwinkert Lydia zu und macht sich auf den Weg zum Hauptgebäude.

„Karin hast du also schon kennengelernt“, sagt Elfi.

„Sie ist ganz nett.“

Elfi nickt. „Wunderst du dich, dass sie gesund erscheint?“

Lydia nickt.

„Viele wirken sogar normal“, sagt Elfi. „Was in jedem vor sich geht, kann man nicht sehen.“

„Du meinst, ich sollte vorsichtiger sein.“

„Gefährlich ist niemand“, sagt Elfi. „Einige sind ziemlich anstrengend und erzählen jedem, was ihnen alles auf der Seele brennt.“

„Karin hat mir von sich nichts verraten.“

„Sie gehört eher zu den Schweigsameren. Das liegt vielleicht auch daran, dass sie gemeinsam mit ihrer Tochter hier untergebracht ist und sozusagen Familienanschluss hat. Im Obergeschoss ist eine Station mit Mädchen, die Essstörungen haben. Karins Tochter wird dort therapiert.“

„Wer ist LF?“, fragt Lydia.

„Frau Doktor Lachmann-Friedrich“, antwortet Elfi. „Viele kürzen hier so manches ab. Wahrscheinlich klingt es für sie dann weniger bedrohlich.“

„Ihr Name passt an diesen Ort“, sagt Lydia. „Der macht beinahe Hoffnung.“

„Jedenfalls ist Lachmann allemal besser als Buhmann.“ Elfi grinst. „Nicht, dass du dich wunderst, aber die Köchin heißt Hermine Fröhlich und der Hausmeister Wolfgang Scherzer. Vielleicht heißen sie gar nicht wirklich so, sondern wollen mit ihren Namen eine positive Einstellung bei uns bewirken. Ist doch egal. Sie sind nett, und das ist die Hauptsache. Du musst also vor niemandem hier Angst haben.“

„Ich habe keine Angst.“

„Sei froh, denn dann wirst du unsere Ingrid besser ertragen können.“

Lydia stutzt. „Was ist denn mit ihr?“

„Vielleicht ist es besser, wenn ich dich warne“, flüstert Elfi geheimnisvoll und schaut sich um, dass niemand in der Nähe ist, der sie hören kann. „Ingrid ist nämlich eine Hexe.“ Lydia schaut sie ungläubig an, sodass Elfi ihr lächelnd erklärt: „Hier darf jeder sein, wer und was er ist oder zu sein glaubt.“

Lydia stöhnt. „Worauf habe ich mich bloß eingelassen?“

„Du wirst dich bald eingewöhnt haben. Glaube mir, niemand ist gern hier … außer vielleicht Ingrid. Mein Gott, nun guck nicht so, als wärst du in der Hölle gelandet.“ Sie stupst Lydia mit dem Ellenbogen freundschaftlich an. „Das war ein Scherz. Ingrid hält sich doch bloß für eine Hexe.“

„Was haben denn die anderen so für Probleme?“, fragt Lydia wie nebenbei, obwohl sie eine ausführliche Antwort kaum erwarten kann.

„Marga ist Witwe und überwindet den Tod ihres Mannes nicht“, erklärt ihr Elfi. „Horst ist Frührentner und kommt mit dem Nichtstun nicht klar. Die beiden gestylten Männer, die immer zusammenhängen, sind Manager, die ihren anstrengenden Job nicht verkraften. Sie sind davon überzeugt, dass sie etwas Besseres sind und geben sich nicht mit uns ab. Du brauchst dir also erst gar keine falschen Hoffnungen zu machen.“

„Oh nein“, wirft Lydia schnell ein. „Ich habe alles andere als Interesse an einem Mann.“

„Dann wirst du von denen auch nicht enttäuscht. Karin kennst du schon. Und unsere Hexe Ingrid wird schon bald deine Nähe suchen und sich selbst vorstellen. Hi, hi, hi …“

„Du machst mich neugierig.“

„Deine Neugierde wird Ingrid ganz bestimmt befriedigen. Sie ist ziemlich … sagen wir mal … anhänglich. Das kann belastend sein, wenn du gerade mit dir selbst genug zu tun hast. Dann ist da noch Andrea, die es umgehauen hat, als sie erfuhr, dass sie adoptiert wurde. Weil sie unbedingt ihre leiblichen Eltern finden will, hat sie Ärger mit ihren Adoptiveltern. Sie ist ganz schön durcheinander und bleibt lieber für sich allein. Die Frau mit der roten Mähne heißt Sonja. Sie leidet darunter, überhaupt keine Kinder bekommen zu können, denn ihr Mann sträubt sich auch gegen eine Adoption. Und ich bin total überfordert mit der Betreuung mehrerer Kinder. So quält sich eben jeder mit dem was er hat oder vermisst. Das Schicksal scheint es niemandem recht machen zu können.“

2.


Nach dem Mittagessen, legt sich Lydia auf ihr Bett.

„Das Mittagsschläfchen werde ich vermissen“, sagt Elfi.

„Wirst du bald entlassen?“, fragt Lydia.

„Leider“, antwortet Elfi. „Dann ist es mit meiner Ruhe wieder vorbei.“

„Bist du nicht froh, endlich nach Hause zu können?“

„Einerseits schon, aber … lassen wir das jetzt. Versuche einfach, etwas zu schlafen. Das tut wirklich gut.“

Elfi nimmt sich ein Buch und liest. Lydia starrt an die Decke. Die Informationen, die sie über die anderen Patienten erhalten hat, haben ihre Neugier geweckt. Trotzdem ist ihr unbehaglich zumute, und sie sehnt sich in ihre Wohnung und zu ihren Freunden zurück. Wehmütig denkt sie an ihre Freundin Christine und nimmt sich vor, sie am Abend anzurufen.

Als ein leiser Signalton ertönt, steht Elfi auf und macht sich für die Entspannungstherapie fertig. Entschuldigend sieht sie Lydia an. „Ohne mein Handy wäre ich aufgeschmissen und würde alle Termine verpassen.“

Sie winkt Lydia kurz zu und verlässt das Zimmer. Lydia fühlt sich allein etwas unbehaglich und ist zufrieden darüber, nicht auf einem Einzelzimmer bestanden zu haben. Sie ist jetzt überzeugt davon, dass Elfis Anwesenheit ihr die Eingewöhnung etwas erleichtern wird. Bevor sie weiter ins Grübeln verfallen kann, klopft es. Lydia erfasst Panik. Ihr Herz beginnt zu hämmern.

„Ja, bitte“, sagt sie, worauf Frau Doktor Lachmann-Friedrich das Zimmer betritt.

„Frau Bach, ich würde Sie gern kurz sprechen“, sagt die Ärztin.

Voller Unruhe und bemüht, sich diese nicht anmerken zu lassen, setzt Lydia sich an den Tisch.

Die Ärztin nimmt neben ihr Platz und gibt ihr eine Einführung in den Klinikablauf, erklärt die verschiedenen Therapieangebote, an denen sie teilnehmen kann, und händigt ihr die Hausordnung aus. Zum Abschluss erklärt sie Lydia, wann das erste Gespräch und in welchen Abständen die weiteren stattfinden sollten. Sie verabreden sich für den Nachmittag des nächsten Tages.

Als Lydia bewusst wird, dass mit diesem Termin ihre Behandlung beginnen wird, durchströmen Hitzewellen ihren Körper. Sie kann sich nicht vorstellen, über ihre Probleme mit einer fremden Person zu sprechen, und überlegt krampfhaft, wie viel sie überhaupt preisgeben möchte. Schon wieder zweifelt sie an der Richtigkeit ihres Entschlusses. Einerseits sagt sie sich, dass das schreckliche Erlebnis doch schon so lange her ist und eigentlich bald in Vergessenheit geraten müsste. Ein vernünftigerer Gedanke signalisiert ihr jedoch, dass das garantiert nicht der Fall sein wird, denn dann hätte sich ja schon längst alles in Wohlgefallen aufgelöst, anstatt immer wieder durch ihr Hirn zu spuken.

Als Elfi zurückkommt, mustert sie Lydia und stellt fest: „Du guckst, als würdest du die Vollstreckung deines Todesurteils erwarten.“

„So fühle ich mich auch.“

„Quatsch. Niemand wird über dich ein Urteil fällen. In LF habe ich das erste Mal jemanden gefunden, der mir in Ruhe zugehört und mir Ratschläge gegeben hat, mit denen ich etwas anfangen konnte. Nun sehe ich etwas gelassener in die Zukunft.“

„Irgendwo in meinem Innersten ist mir das auch bewusst, aber …“

„Bald hast du genug Gelegenheit, dein Innerstes nach außen zu krempeln“, unterbricht Elfi sie. „Ich möchte nicht wissen, welche absurden Geschichten LF ständig zu hören bekommt. Und die sind fast alle real.“

„Darum beneide ich sie“, sagt Lydia. Elfi schaut sie fragend an, sodass Lydia ihr erklärt: „Na ja. Dann müsste ich mir nicht so viele Gedanken über den Inhalt meiner nächsten Romane machen.“

„Du schreibst Bücher?“, fragt Elfi erstaunt. „Und deine einzige Sorge besteht darin, dass dir irgendwann nichts mehr einfallen könnte? Wollen wir tauschen?“

Lydia schüttelt den Kopf. „Nein. Ganz so einfach ist es bei mir auch nicht.“

„Jetzt bin ich etwas beruhigt“, sagt Elfi. „Ich dachte schon … LF ist wirklich verständnisvoll, fast mütterlich. Außerdem verlangt sie nicht, dass du in drei Tagen vor deines Rätsels Lösung stehst. Lass dir einfach Zeit. Den Rat kann ich dir mit ruhigem Gewissen geben. So angenehm und friedlich, wie es sich hier leben lässt, bekommst du es zu Hause nicht so schnell wieder.“

„Bist du verheiratet? Hast du Kinder?“, fragt Lydia, weil sie gern etwas über Elfi erfahren möchte.

„Ja. Ich hatte vergangenes Jahr Silberhochzeit und habe einen Sohn, eine Tochter und vier Enkelkinder. Mein Sohn ist mit seiner ersten großen Liebe verheiratet und sehr darauf bedacht, seine Frau glücklich zu machen. Bei ihr bin ich mir nicht so sicher, dass die Gefühle für ihn überwältigend sind, aber das kann ich nicht beeinflussen. Ihr ältester Sohn Shawn ist sechs Jahre alt, Ethan ist vier und bereits elf Monate nach ihm wurde Bella-Shirin geboren. Der Sohn meiner Tochter heißt Raphael und ist sieben Jahre alt.“

„Da geht es bei euch sicher rund“, stellt Lydia fest.

„Oh ja. Meine Enkelkinder sind sehr oft bei mir.“ Elfi macht eine Pause und seufzt. „Eigentlich sollte ich mich darüber freuen … aber … allzu viel ist ungesund, sagt ein Sprichwort. Ich komme einfach nicht zur Ruhe, denn die Jungs wachen morgens mit dem ersten Sonnenstrahl auf und machen schon lange keinen Mittagsschlaf mehr. Sie sind demzufolge total überdreht, sodass die Kleine ebenfalls nicht schlafen kann. Somit kann ich mich auch mittags nicht mal ein Weilchen ausruhen. Und abends sieht Ethan nicht ein, dass Shawn etwas länger aufbleiben darf als er, und tobt im Bett herum. Außerdem kennen die Kinder weder geregelte Mahlzeiten noch gesunde Nahrung. Wenn sie hungrig werden, naschen sie unkontrolliert Süßigkeiten oder bedienen sich im Kühlschrank. Ich bin nur auf der Hut, dass sie das bei mir nicht tun, und versuche, ihnen mit kleinen Ritualen Tischmanieren beizubringen. Das ist nicht einfach, weil sie bei ihren Eltern ja doch wieder tun und lassen können, was sie wollen. Ständig machen sich die Jungs einen Spaß daraus, ihre kleine Schwester zu ärgern, und mit Vorliebe kleben sie ihr Kaugummi in die Haare. Du kannst dir sicher vorstellen, wie anstrengend das ist. Ich verstehe meine Schwiegertochter gut, dass sie sich überlastet fühlt, aber dass sie die Kinder ständig bei mir ablädt, ist …“ Sie macht eine Pause und überlegt, wie sie sich ausdrücken soll.

„… eigentlich unverschämt und eine Frechheit“, ergänzt Lydia.

Elfi schaut traurig vor sich hin und nickt. „Es so zu sehen, habe ich erst hier gelernt.“ Sie seufzt. „Ich wollte immer, dass es meinen Enkelkindern gut geht. Die merken doch, dass sie ihre Eltern nerven und ständig abgeschoben werden.“

„Das wäre ein Fall für die Super-Nanny“, sagt Lydia. „Die biegt das im Nu wieder hin.“

„Meine Schwiegertochter würde sich niemals darauf einlassen“, erwidert Elfi kopfschüttelnd. „Sie lässt sich oft genug von ihren Kindern bestätigen, dass sie die beste Mami der Welt ist. Die Kleinen sind fest davon überzeugt, dass es wirklich so ist … obwohl … Shawn scheint sie durchschaut zu haben. Ihm kann sie nicht mehr so leicht etwas vormachen. Er hat letztens die Augen verdreht und gefordert, dass sie ihn damit in Ruhe lassen soll. Sie hat sich auf ein Machtspiel mit ihm eingelassen und dermaßen fest seinen Arm umklammert, bis er zu weinen anfing. Erst da hat sie von ihm abgelassen, ihm jedoch einen dermaßen wütenden Blick zugeworfen, der sogar mir durch Mark und Bein ging. Wie muss sich da erst so ein kleiner Junge fühlen? Als Oma steht man hilflos daneben. Einmal habe ich versucht, mit ihr darüber zu reden. Sie hatte zur Antwort nur einen Satz für mich übrig: `Hättest du deinen Sohn besser erzogen, hätte er vielleicht eine Frau geheiratet, die dir recht ist.´ Als würde es mir nur darauf ankommen.“

 

Lydia ist erschüttert und gleichzeitig froh, bisher keine Kinder bekommen zu haben. Sie wüsste nicht, wie sie sich mit so einer Schwiegertochter auseinandersetzen sollte und wie sie diesem Sohn klarmachen könnte, dass es so nicht weitergeht, ohne dass er gleich beleidigt ist. Als ihr ihre Freunde Christine und Olli in den Sinn kommen, muss sie wehmütig lächeln und kann sich nicht vorstellen, dass die beiden mit ihren Kindern irgendwann einmal solche Probleme bekommen werden.

Aber Elfi hat sich das sicher früher auch nicht träumen lassen, als ihr Sohn noch klein war“, denkt sie.

„Was war eigentlich der Auslöser, dass du in Therapie musstest?“, fragt Lydia.

„Über die Jahre wurde die Belastung immer stärker. Zuerst hat mein Körper gestreikt und bald darauf mein Geist … und dann war beinahe alles zu spät.“

„Warum hast du nicht eher die Notbremse gezogen?“

Elfi überlegt kurz. „Weil es nur langsam immer schlimmer wurde. Das fühlt sich genauso an, als würdest du auf einem Fluss in einem Boot sitzen und gegen die Strömung, die stärker und stärker wird, rudern müssen. Du paddelst und paddelst und musst dich immer mehr anstrengen. Irgendwann kannst du einfach nicht mehr und lässt dich treiben.“

Lydia nickt. „Vor diesem Problem stand ich auch schon. Aber bei mir hat sich das nicht über Jahre angestaut. Ich hatte das Glück, dass meine Freundin für mich da war. Sie macht sich immer um alles und jeden Sorgen und hat mich sozusagen vor dem Sumpf bewahrt. Außerdem habe ich bei unserem Klassentreffen eine Schulkameradin, die Ärztin ist, wiedergetroffen. Sie hat mir die Therapie empfohlen und mich hier eingewiesen.“

„Hast du ein Problem damit, in der Psychiatrie zu sein?“, fragt Elfi.

„Wer hat das nicht?“, stellt Lydia die Gegenfrage.

Elfi schmunzelt. „Warst du auch erleichtert, als du feststellen konntest, hier niemanden Bekanntes zu treffen?“

Lydia hat sich genau aus diesem Grund seit ihrer Ankunft immer wieder verstohlen umgeschaut und nickt. „Stimmt. Das ist schon ungemein beruhigend.“

„Mit Fremden spricht es sich leichter über Probleme, weil man weiß, dass man die sowieso nicht wiedertrifft.“

„Da kann man sich sehr täuschen“, sagt Lydia. „Als ich vergangenen Herbst Urlaub gemacht habe, wohnte im Bungalow neben mir ein Ehepaar, die dachten das auch. Jetzt sind wir ganz gut befreundet, und ich konnte ein Buch über ihr Leben veröffentlichen.“

„Oh. Da muss ich wohl aufpassen, was ich erzähle“, sagt Elfi. Sie schlägt sich auf den Mund und zieht übermütig lächelnd den Kopf ein.

„Nein. Ich würde nur darüber schreiben, wenn du mir dein Einverständnis gibst. Und dann würde ich alles anonym verfassen.“

„Gott sei Dank. Ich dachte schon, du lässt ein Tonband mitlaufen oder so.“

„Ich habe morgen mein erstes Gespräch“, sagt Lydia und zieht ihre Stirn in Falten.

„Es wird dir nichts weiter übrig bleiben, als alles frisch von der Leber weg auszuplaudern. Einen Rat kann ich dir geben, je eher du damit beginnst, je eher geht es dir besser.“

„Das ist mir schon bewusst, aber …“

„Nichts aber“, wird sie von Elfi unterbrochen. „Hol einfach tief Luft und dann raus mit dem ganzen Schlamassel.“