Kraniche über Otterndorf

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Er war verletzt. Robs Herz krampfte sich zusammen. Es schien noch ein junges Tier zu sein und gab klägliche Laute von sich. Besänftigend sprach Rob auf den verängstigten Vogel ein und untersuchte ihn dabei behutsam. Am Kniegelenk stimmte etwas nicht. Er war sich nicht sicher, wie es zu der Verletzung gekommen war. Ob der Kranich die weißen Rotorblätter des Windrades als Wolkenschleier wahrgenommen oder ihre Geschwindigkeit falsch eingeschätzt hatte? Der Vogel zuckte zusammen, als Rob den rechten Flügel berührte, gebrochen schien da aber nichts zu sein. Beim Kniegelenk war er sich nicht so sicher. Der Kranich wich vor ihm zurück, hielt aber dann einen Augenblick still, als spüre er, dass Rob es gut mit ihm meinte.

Immer diese verfluchten Windräder! Rob hasste diese Dinger, nicht nur, dass sie die Landschaft verschandelten, sie waren auch eine große Gefahr für Vögel.

Rob zog dem Kranich seine Jacke über den Kopf, worauf er sich sofort beruhigte, brachte ihn mit dem Motorrad zu seinem Hof und bereitete ihm einen Platz in seinem Gewächshaus. Hier untersuchte er ihn genauer, reinigte die Wunde und schiente mit einem Stöckchen sein Bein. Das war kein leichtes Unterfangen, denn der Vogel schlug ängstlich mit den Flügeln, war aber schon sehr entkräftet. Rob vermutete, dass er auch schon länger nichts zu fressen bekommen hatte, und er sah sich in seiner Küche um, ob er etwas hatte, was den ersten Hunger stillen könnte. Er weichte ein paar Haferflocken in Wasser ein. Heidelbeeren waren auch noch da. Mit einem Holzstäbchen versuchte er ihn zu füttern und hielt ihm dazwischen die Heidelbeeren hin. Rob stieß dabei leicht trillernde Laute aus, wie er es früher oft getan hatte, wenn er mit dem Vater oder auch alleine die Kraniche beobachtete. Dabei sah er dem jungen Tier in seine schönen, noch dunklen Augen, und der Vogel schaute zurück, als verstehe er alles, was Rob dachte und sagte. Und nach einer Weile erwiderte er zaghaft das Trillern. Und Rob strahlte übers ganze Gesicht, als der Kranich zu fressen begann.

*

Kommissar Frank erschien am nächsten Morgen zu der außerordentlichen sonntäglichen Zusammenkunft im Präsidium mit leichter Verspätung.

Alle Augen ruhten auf dem Chef, prüfend oder amüsiert.

„Na, geht’s wieder?“, Amelung klopfte ihm kameradschaftlich auf die Schulter.

Heidi Lührens kam mit einem Tablett voller Tassen mit frisch gekochtem Kaffee ins Zimmer. „Hartmut“, rief sie erfreut, denn sie hatte sich wirklich Sorgen gemacht, „was war denn los mit dir?“

„Hm“, man sah ihm an, dass ihm sein Schwächeanfall in der Nacht sehr unangenehm war, „ich weiß es auch nicht … wahrscheinlich der Alkohol, ich trinke sonst kaum was.“

„Na, wie dem auch sei“, sagte Heidi, „jetzt gibt’s erst mal Kaffee.“

„Ja, ja“, er versuchte die Erinnerung abzuschütteln, „lasst uns anfangen.“

Betretenes Schweigen. Irritiert schaute Hartmut in die Runde: „Was ist los?“

„Wir warten noch auf jemanden“, erklärte ihm Kollege Dressler, „wir haben es auch erst erfahren, es kommt noch jemand dazu. Sie sollte eigentlich erst am Montag hier sein, aber in Anbetracht der aktuellen Situation wurde sie wohl von unserem heutigen Treffen informiert“, erklärte Amelung.

Hartmut, der gerade einen Schluck Kaffee trinken wollte, setzte die Tasse wieder ab und stellte sie auf den Tisch: „Wie, es kommt noch jemand? Wer denn? Eine Frau? Und wieso wird sie über ein internes Treffen am Sonntag informiert, von wem denn?“

„Von mir“, sagte schuldbewusst Libuše, „es ist eine Bekannte von mir, die ich auf einem Lehrgang kennengelernt habe, und ich hatte ihr damals geraten, sich doch einmal bei uns zu bewerben. Sie ist Fallanalytikerin, besser gesagt eine Profilerin.“

„Wie bitte“, ereiferte sich Hartmut, „sind wir denn in einem Fernseh-Krimi? Seit wann brauchen wir einen Profiler?“

„Eine Profilerin“, die Betonung lag auf der letzten Silbe. Mit einem undefinierbaren Lächeln war Lisa Lehmann ins Zimmer getreten und betrachtete amüsiert Kommissar Frank, ging ein paar Schritte auf ihn zu und reichte ihm die Hand: „Ich glaube, wir wurden einander schon vorgestellt! Bleibt es beim Du?“

Hartmut sah sie mit offenem Mund an. Die mysteriöse Dame von der Party letzte Nacht, mit der er ganz unverschämt geflirtet hatte, weil er eigentlich angenommen hatte, sie nie wiederzusehen.

Libuše glaubte, die Situation etwas auflockern zu müssen: „Wahrscheinlich habt ihr Liz alle schon gestern bei mir kennengelernt oder sie zumindest einmal kurz gesehen.“

„Na, so jemanden kann man ja gar nicht übersehen“, murmelte Dressler, der eine Schwäche für schöne Frauen hatte.

Die Begrüßungsrunde begann, und schnell einigte man sich auch darauf, es bei allen beim ‚Du‘ zu belassen, da sich einige schon am Tag zuvor miteinander unterhalten hatten. Dennoch war das ein unübliches Vorgehen, und es hakte auch bei den meisten mit der Anrede. Und plötzlich war eine gewisse Zurückhaltung zwischen dem eingespielten Team und der Fremden zu spüren, von der man nicht wusste, ob sie sich eingliedern würde oder sich für das Allein-Seligmachende hielt.

*

Der Kranich, der sich als junges Weibchen entpuppte, hatte mittlerweile schon beachtliche Fortschritte gemacht. Am Anfang taumelte er immer wieder, wenn er versuchte, sich fortzubewegen. Da stellte Rob sich direkt vor ihn hin und breitete seine Arme aus. So weit, dass er Cara, wie er den Kranich nun nannte, am liebsten umarmt hätte, stattdessen wedelte er mit den Armen auf und ab und ahmte den Flügelschlag nach. Längst zutraulicher geworden, beobachtete Cara genau, was hier passierte, und versuchte dann vorsichtig, die Flügel zu benutzen.

Täglich übte Rob mit ihr. Und es war für ihn die schönste Zeit am Tag, auf die er sich immer besonders freute. Wenn Cara wieder etwas dazugelernt hatte, war Rob ganz stolz auf sie. Cara durfte bereits eigenmächtig ihren Verschlag verlassen, und wenn Rob in den Hof kam, wurde er freudig von dem Vogel begrüßt. Und wenn er die Arme hob, begann auch Cara mit den Flügeln zu schlagen. Die Wunde am Knie unterhalb der Schwingen im Gefieder war gut verheilt. Doch um das Gleichgewicht nicht zu verlieren, musste Cara immer noch die Flügel bewegen. Sie konnte noch nicht richtig laufen und brachte lediglich ein lustiges Hopsen zustande. Rob hatte schon seit Jahren nicht mehr so viel gelacht.

„Cara, süße Cara. Sieh mal, was würdest du denn von mir denken, wenn ich so herumliefe“, dabei hüpfte Rob durch den Hof und stellte sich dabei extra ungeschickt an.

Der Kranich legte den Kopf ein bisschen schief, und Rob hatte das Gefühl, als würde er schmunzeln. Und dann versuchte Cara wieder ein kleines Stück zu fliegen.

„Das war schon viel besser als gestern“, lobte Rob, „du willst doch keine Außenseiterin werden, wenn du erst zu deinen gefiederten Gefährten zurückkehrst.“

Als er hörte, was er da gesagt hatte, musste Rob schlucken, und er wurde traurig. Cara sah ihn forschend an und stupste ihn mit ihrem Schnabel.

„Du verstehst mich so gut“, er streckte seine Hand aus, und Cara machte noch einen Hopser zu ihm hin und knab­berte an seinen Fingern. Da traute Rob sich zögernd, ihr ganz sacht das Gefieder zu streicheln.

„So, und jetzt wird nach Nahrung gesucht. Denn du wirst dich ja irgendwann wieder selbst versorgen müssen“, riss Rob sich los, kniete sich hin und scharrte auf dem Boden herum.

Cara reckte ihren langen Hals nach vorne, betrachtete ihn genau und spielte dann mit. Als sie plötzlich ein Maiskorn fand, das Rob vorher dort versteckt hatte, schien sie zu begreifen, dass das ein sehr nützliches Spiel war.

Und endlich kam der Tag, als Cara ihm entgegenflog, als er einmal mit dem Motorrad in den Hof einfuhr. Rob war so froh, und es gab nichts auf der Welt, was er sich mehr wünschte, als dass Cara wieder ganz gesund werden würde. Von nun an begleitete der Kranich Rob bei seinen Fahrten. Er flog dann neben ihm her oder einfach ein Stück voraus. Und Rob drosselte die Geschwindigkeit oder neckte den Vogel, indem er ihm davonsauste. Und man konnte wahrlich von gemeinsamen Ausflügen sprechen, und wenn es das gab, auch von gemeinsamem Glück. Doch Rob wusste: Nun war der Tag nicht mehr fern, an dem er Abschied nehmen musste und Cara zu den anderen Kranichen zurückkehren würde.

*

„Okay“, sagte Hartmut Frank, „tragen wir doch erst einmal zusammen, was wir schon haben.“

Heute holte er nicht seine gefürchtete Schiefertafel und ein Stück Kreide hervor, denn auch bei Kommissar Frank hatte die Computertechnik Einzug gehalten und er hantierte am PC. Und alsbald erschienen an der kalkweißen Wand der Name und ein Foto des Opfers Holger Kling, und Hartmut kommentierte: „54 Jahre alt, lebt von seinem ererbten Grundbesitz, den er an Windparkbetreiber verpachtete, seit zwei Jahren geschieden. Die Ehefrau lebt drüben in Brunsbüttel und ist offenbar neu liiert. Kling galt als unauffälliger, regelmäßiger Besucher des Lokals ‚Goldener Anker‘, ein früherer Schulkamerad des Wirtes dort.“

„Jochen“, er wandte sich Dressler zu, „sprichst du mit seiner Frau? Es dürfte interessant sein, ob sie die Verpachtung der Gebiete guthieß. Dann könnte sich Helmut mal in der Umgebung seines Hofes umhören, was Kling so für ein Zeitgenosse war.“

Beide Kollegen nickten.

„Nun zu Ihnen, besser gesagt zu dir, Liz“, fast hätte er gestottert, „wir haben ja nun wenig konkrete Anhaltspunkte. Unser Mörder hat weder Fingerabdrücke noch Fußspuren hinterlassen. Die Spurensicherung vermutet sogar eher Tod durch einen Raubvogel. Ich weiß ja nun nicht …“

Amelung beendete den Satz für ihn: „… ob hier überhaupt ein echtes Betätigungsfeld für eine Profilerin sein wird. Oder wird jetzt überlegt, ob der Vogel psychisch gestört war?“

 

„Jetzt schießt du aber scharf“, verschaffte sich Heidi Gehör, „ihr wisst doch noch gar nichts, vielleicht ist es ja doch ein normaler Mörder. Nun gebt der neuen Kollegin doch mal eine Chance!“

„Danke, Heidi. Das ist total nett von dir!“ Im Gegensatz zu ihren Cuxhavener Kollegen hatte Liz keine Schwierigkeiten mit dem ‚Du‘, „aber ich komme schon klar. Und zudem … glaube ich nicht so recht an diese Raubtier-

Theorie. Tiere töten eher, um sich oder ihre Brut zu verteidigen oder weil sie Hunger haben. Die Tat war ausgesprochen grausam, das würde keinen Sinn machen. Gehen wir jetzt aber von einem menschlichen Täter aus, bekommt der Mord schon ein ganz anderes Gesicht. Dieser Mörder wollte nicht einfach nur töten, er wollte bestrafen, er wollte vernichten, auslöschen. Wut steckt dahinter, ein konkreter Anlass. Rache vielleicht, bestimmt sogar“, überlegte sie.

Sie ging zum Tisch, auf dem die Fotos vom Tatort lagen, betrachtete sie noch einmal der Reihe nach. „Es war ein regelrechtes Gemetzel. Und warum wurde er gerade auf diese Art umgebracht? Genau wie draußen in der rauen Natur ein Opfer von einem stärkeren Gegner gerissen wird.“

„Ich würde nicht sagen, genau wie in der rauen Natur, sondern tatsächlich in der Natur, es war ein Raubvogel“, sagte Amelung.

Liz zuckte mit den Achseln: „Da müssen wir den medizinischen Bericht abwarten. Wenn es ein Tier war, dann ein scharf abgerichtetes … und da stünde ja dann auch wieder ein Mensch dahinter.“

„Und was ist mit dem klitzekleinen Detail, dass keine Fußspuren in der Blutlache zu sehen waren?“, fragte Dressler.

Keiner sagte mehr etwas, jeder schien seinen Gedanken nachzuhängen.

„Am besten nehme ich mir die Unterlagen einmal mit“, schlug Liz vor. „Ich habe im Best Western am Hafen gebucht. Vorerst kann ich von dort aus arbeiten, bis ich hier vielleicht ein Zimmer oder zumindest einen Schreibtisch bekomme“, dabei schaute sie Hartmut Frank fragend an.

„Das lässt sich sicher machen“, er lächelte sie nun doch an, „wir wurden ja mehr oder weniger vor vollendete Tatsachen gestellt … “ Das konnte ja heiter werden, Hartmut war noch nicht einmal Zeit geblieben, sich darüber klar zu werden, was er denn nun davon hielt, seine Party-­Bekanntschaft so schnell wiederzusehen. Und nun würde er sie täglich treffen, auf engstem Raum mit ihr arbeiten, es machte ihn nervös, aber – er begann sich insgeheim auch ein bisschen darauf zu freuen.

Liz war eine selbstbewusste, geradlinige Frau, nicht ohne Ehrgeiz, der sie aber noch nie in ihrem Urteilsvermögen beeinträchtigt hatte. Sie hatte lange Zeit in Berlin gelebt, doch sie musste weg aus der Stadt, und das hatte einen triftigen Grund ... einen Grund, der niemanden etwas anging.

Sie hatte sich auf gut Glück erkundigt, ob in den Nordregionen eine Fallanalytikerin gebraucht wurde, und man hatte ihr zugesagt, dass sie in Cuxhaven beim nächsten größeren Fall dabei sein würde. Dass es so schnell gehen würde, hatte sie jetzt wirklich nicht gedacht. Es konnte doch kein Zufall sein, dass sie nun ausgerechnet hier diesen Mann wiedertraf, der sie gestern Abend tatsächlich beeindruckt hatte mit seiner poetischen Schlagfertigkeit und, wenn sie ehrlich war, nicht nur damit. Sie erwiderte sein Lächeln und dachte dabei, mein kleiner „Bard of Avon“, dieser Spitzname Shakespeares klang in ihrer Vorstellung fast wie ein Kosewort.

„Wo ist das zerknitterte Papier?“, wie vom Donner gerührt war Hartmut aufgesprungen, das hatte er völlig vergessen, „ich hab es gestern nicht mehr gepackt, es einzutüten.“

Alle schauten ihn verständnislos an.

„Das gibt es doch nicht“, Hartmut konnte es nicht fassen, „es war ein zusammengeknülltes, gelbes Stück Papier. Ich weiß, dass es wichtig ist.“

„Wir haben die Sachen des Toten sichergestellt, es waren ihm ein paar Dinge aus der Jacke gefallen. Aber ein Papierknäuel war nicht dabei“, erklärte Jochen Dressler.

„Das ist doch nicht euer Ernst! Es muss ganz in der Nähe von dem Ort gelegen haben, an dem ich … nun sagen wir mal, ein bisschen in die Knie gegangen bin. Wie oft haben wir schon Tatort-Begehungen gemacht, wir dürfen einfach nicht nur den kleinsten Radius nehmen. Da muss alles, wirklich alles inspiziert werden“, sagte der Kommissar verärgert und griff sich seine Jacke, „ich fahre sofort wieder nach Otterndorf.“

„Jetzt mach mal halblang“, sagte Amelung, „vielleicht hat es auch der Wind weggeweht. Und du hattest es ja wohl auch wieder vergessen.“

„Warte“, sagte Libuše zu ihrem Chef, „ich komme mit. Wir sind doch hier ohnehin fertig für heute, nehme ich an.“


Dunkler Tanz des Kranichs

„Was sage ich euch schon die ganze Zeit“, Britta Peters ging ungeduldig vor der Bühne auf und ab, „mit Gefühl … mit mehr Gefühl!“

Die Tanzenden auf der Probebühne hielten außer Atem inne und schauten missmutig zu ihrer Choreografin hinunter. Sie hatten sich das alles leichter vorgestellt, sie waren doch keine Profitruppe, sondern ein zusammengewürfeltes Grüppchen der Volkshochschule. Und Britta Peters, die den Kurs leitete, war keine Pariser Ballett-Choreografin, sondern hatte gerade erst ihr Studium beendet, dafür aber höchst eigenwillige Vorstellungen.

„Entschuldigt“, kehrte Britta auf den Boden der Tatsachen zurück, „ich weiß, dass ich euch zu sehr trieze, aber ich habe die gesamte Vorstellung schon genau im Kopf und sehe alles vor mir ablaufen, und das sieht irgendwie anders aus.“

„Ja, aber es soll doch auch Spaß machen“, verteidigte sich Heiner und schaute Beifall heischend in die Runde. Manche nickten ihm zu, aber Henriette brachte es auf den Punkt: „Du hast bestimmt ein tolles Stück entworfen, aber irgendwie verzettelst du dich beim Erklären. Du gibst uns ein Bild und wir versuchen es umzusetzen, und schon kommt das nächste und das nächste.“

Ernüchtert schaute Britta zu ihren Mitstreitern auf der Bühne: „Ein bisschen liegt es auch daran, dass wir noch ein paar zusätzliche Mitwirkende brauchen könnten. So will ich zu viel in eine Person legen. Okay – lasst uns noch mal ganz neu anfangen – bitte?“

Einer nach dem anderen stieg zu ihr herunter, Henriette legte den Arm um ihre Schultern: „Klar machen wir das. Wir wollen doch schließlich gewinnen“, und sie schaute aufmüpfig die anderen an, „oder?“ Zustimmung kam von allen Seiten. Denn keiner hatte Lust, Britta ernsthaft anzugreifen, da sie eine dieser Frauen war, die beinahe jeder mochte: sympathisch, offen, freundlich.

Heute zur Probe hatte sie ihre langen, braunen Haare mit einer blauen Schleife zu einem flotten Zopf zurückgebunden, der sie noch sportlicher aussehen ließ als sonst. Und energisch – denn sie wusste, was sie wollte, ohne die anderen damit zu überfahren. Ein bisschen übereifrig war sie allerdings, gerade bei Dingen, an denen ihr Herz hing. Denn natürlich wollte auch sie gewinnen.

Die Otterndorfer Kranichhaus-Gesellschaft hatte zum bevorstehenden Jubiläum ihres 60-jährigen Bestehens einen Wettbewerb ausgeschrieben: Gruppen und Einzelpersonen sollten einen künstlerischen Beitrag zu einem Thema rund um das Kranichhaus leisten. Und Britta Peters hatte sich eine Choreografie ausgedacht, die nun wirklich zu dem Barockhaus passte: Der Tanz des Kranichs.

Es war ihr vor Kurzem eingefallen, als sie in Hamburg im Theater eine Szene aus „Schwanensee“ gesehen hatte. Plötzlich nahmen die herrlichen Balzgebärden der Kraniche vor ihren Augen Gestalt an, und die Idee war geboren. Das gab dann auch den Ausschlag, gänzlich in das Otterndorfer Haus ihrer Tante Beatrice zu ziehen. Bisher hatte sie in einer kleinen Studentenwohnung in Hamburg gewohnt, die sie jetzt aufgab. Beatrice Peters war nach Cuxhaven gezogen und kümmerte sich wieder mehr um die Führung ihrer Firma „Globus“. Sie war auf dem besten Weg, wieder zu der knallharten Geschäftsfrau zu werden, die sie gewesen war, bevor sie die Liebe für sich entdeckte. Doch sie hatte ihre große Liebe verloren, und dem schalen Beigeschmack des Verschmähtwerdens konnte sie bisher noch nichts anderes entgegensetzen.

Überraschenderweise fühlte sich Britta in dem großen Haus wohl, in dem sie glückliche Kindheitsjahre verbracht hatte. Obwohl doch ihr Vater dort …

Unsanft wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. Auch alle anderen schauten erschrocken auf, als der Hausmeister plötzlich in die Halle stürzte. Aufgeregt berichtete er von dem grausigen Mord, der in der Nacht davor entdeckt worden war. Obwohl ihr Treffen noch gar nicht so lange dauerte, hatte keiner mehr Lust, weiter zu proben.

*

Eine Fremde kommt an einen neuen Ort, und ein Mord geschieht, überlegte Britta. So war es vor einiger Zeit der Urlauberin Rita Sieversen in Cuxhaven ergangen. War Britta etwa die Nächste, die das erleben musste? Aber so fremd war sie ja schließlich gar nicht. Voller Entsetzen stellte sie fest, wie sehr sie es immer wieder verdrängte, dass der Ermordete in Cuxhaven am Galgenberg ihr eigener Vater gewesen war. Immer von Neuem schob sie diese Tatsache weit von sich, und es funktionierte deshalb so gut, weil sie ihren Vater jahrelang nicht gesehen hatte, bevor der Mord passierte. Sie hatte sich immer nur vorgestellt, er lebt da in Otterndorf mit seiner Schwester Bea, hat bestimmt tausend Geliebte und braucht uns ja offensichtlich überhaupt nicht. Nach der Trennung der Eltern hielt sie zu ihrer Mutter und lebte auch bei ihr. Zu ihrem Vater hatte sie ein zwiespältiges Verhältnis und ihn nur selten auf sein Drängen hin getroffen. Sie gab ihm die Schuld am Unglück ihrer Mutter. Doch im tiefsten Inneren hatte sie sich immer nach ihm gesehnt und ihn schmerzlich vermisst. Nie hatte sie sich ganz gefühlt. Aber dieser Schmerz war dick in Watte verpackt, sodass sie ihn zwar wahrnahm, aber nicht darunter litt, als betreffe er sie gar nicht. Doch sein Tod hatte die Wunde wieder aufgerissen und sie tief erschüttert. Und sofort setzte das schlechte Gewissen ein, ihm nie mehr eine wirkliche Chance gegeben zu haben. Ihre Mutter war fassungslos, dass sie überhaupt mit dem Gedanken spielte, in das Haus ziehen zu wollen, das er der Tochter vererbt hatte. Und zunächst konnte Britta es sich auch nicht vorstellen. Doch als sie das Wohnhaus nach so vielen Jahren wieder betrat – zum Glück in Begleitung ihrer Tante Bea –, spürte sie, dass sie hierhergehörte, dass sie sich konfrontieren wollte und musste. Zudem liebte sie Otterndorf, genauso wie Cuxhaven, eigentlich die gesamte Nordseeregion.

Sie war auf dem Weg nach Hause und konnte sich nicht von den Bildern lösen, die nach den Schilderungen des grausamen Mordes in ihrem Kopf entstanden waren.

Das Piepen ihres Handys erinnerte sie daran, dass sie die Sprachnachricht immer noch nicht abgehört hatte. Eine Angestellte der Volkshochschule teilte ihr mit, dass sich auf die Annonce der VHS hin noch drei weitere Leute gemeldet hatten.

„Was“, rief Britta aus. Damit hatte sie nicht mehr gerechnet. Denn die Ballett-Szenen, die sie sich ausgemalt hatte, waren ohne zusätzliche Mitwirkende kaum zu realisieren.

Sofort sprach sie wiederum eine Nachricht auf den AB der VHS: „Danke für die tolle Neuigkeit! Wenn Sie so nett wären, teilen Sie den Interessenten doch auch die neue Adresse mit, die ich angegeben habe. Zudem haben wir uns einstimmig entschieden, die Proben auf abends zu verlegen, das können sich die Leute eher einrichten. Ich hoffe, das ist für Sie okay? Der nächste Treffpunkt wäre dann Dienstag um 19 Uhr. Vielen Dank für Ihre Mühe. Ich freu mich sehr.“

Die Euphorie kehrte zurück. Der Dämpfer, den ihr ihre Mitstreiter gerade verpasst hatten, löste sich in Luft auf. Mit drei weiteren Leuten werden wir es schaffen. Und plötzlich strahlte sie übers ganze Gesicht, und ihr Schritt beschleunigte sich von ganz allein. Sie wollte nichts als nach Hause und ihre Choreografie neu ausarbeiten. Dennoch hatte sie das seltsame Gefühl, als verfolge sie jemand, sie drehte sich mehrmals um, aber sie sah niemanden.

*

Kommissar Frank und seine Kollegin Libuše standen ratlos in der Marktstraße in Otterndorf. Keine Spur mehr von dem gelben Papier weit und breit.

Libuše fragte vorsichtig: „Und du bist dir ganz sicher, dass da Papier-Schnipsel gelegen haben?“ Es klang ungläubig.

Hartmut nickte: „Keine Papier-Schnipsel, so eine Art Papier-Stern. Auch wenn ich etwas getrunken hatte, glaub mir, er lag dort!“

Libuše rief noch einmal die Spurensicherung an. Und Hartmut inspizierte die hohen grauen Papierkörbe in der Nähe, und zwar richtig. Er leerte die Behälter aufs Trottoir und kramte hemdsärmelig im Müll herum.

 

„Pah, was stinkt das“, machte Hartmut doch seinem Unmut Luft. Denn am Wochenende sammelte sich eine riesige Menge Unrat an. Aber – beim zweiten Papierkorb hatte er Glück. Da war es! Er fischte ein gelbes Papierknäuel heraus. „Ich hab’s!“

Schon war Libuše zur Stelle. „Na, das hat ja keine so richtige Form mehr“, meinte sie skeptisch.

„Doch, siehst du das nicht“, ereiferte sich Hartmut, „es erinnert an eine Bastelfigur aus dem Kindergarten.“ Er zupfte an den Ecken des Papiers und zog es leicht auseinander, und allmählich schälte sich die ursprüngliche Form wieder heraus.

Libuše machte große Augen und lachte dann: „Das ist kein Bastelknäuel – sondern eine Origami-Figur. Meine Nichte hat da solche Bögen zu Hause mit Faltanleitung.“

Auf Hartmuts fragenden Blick erläuterte sie: „Japanische Faltkunst eben, und das scheint mir ein Kranich zu sein!“

*

Britta hatte es sich auf ihrem Sofa im Wohnzimmer gemütlich gemacht und träumte sich zurück zu dem Abend vor ein paar Wochen, als sie mit ihrer Tante Beatrice in Hamburg im Ballett gewesen war.

„Ach herrje, wo hast du mich denn hingeschleppt?“, beschwerte sich Beatrice Peters. Sie saßen im Minerva-­Theater – natürlich auf den besten Plätzen, denn Tante Bea hatte ihren großzügigen Tag gehabt, als ihre Nichte sie bat, doch einmal wieder mit ihr in die Oper oder ins Ballett zu gehen. Aber weiter hatte sie sich um nichts gekümmert, lediglich bezahlt, eine ihrer leichtesten Übungen.

„Das ist Kunst, Bea“, erklärte Britta nachsichtig.

„Das ist verstaubter Kram aus der Mottenkiste“, war ihr sarkastischer Kommentar.

Britta prustete los, sollte sie jemals etwas Künstlerisches zuwege bringen, so würde sie es ihrer Tante zur Begutachtung vorlegen, denn was unter ihren Augen Gnade fand, das musste schon etwas Besonderes sein.

Sie saßen in Tschaikowskis Ballett „Schwanensee“, Britta hatte Lust gehabt auf etwas Konventionelles, aber dass es so bieder inszeniert sein würde, dass hatte auch sie nicht geahnt. Die Musik war natürlich traumhaft, und sie merkte, dass sie den Tänzern auf der Bühne in ihrer Fantasie die rüschigen Kleider auszog und sie mit gewagten Kostümen ausstaffierte und dass sie ihre Bewegungen, ihre Tanzschritte, ihre Gebärden umwandelte in ein viel aufregenderes Ballett. Und da war es geschehen, in ihren Gedanken gingen die Tänze auf der Bühne eine atemberaubende Liaison ein mit der Ausschreibung der Otterndorfer Kranichhaus-Gesellschaft, die originelle Beiträge zu ihrem ehrwürdigen Barockhaus suchte. Und sie sah Kraniche vor sich, sich umtanzen, miteinander streiten, sich umwerben und verlieben.

„Bea, du bist einfach toll!“, teilte sie der Tante mit, als sie in der Pause auf den Barhockern im Foyer saßen und mit einem Sekt anstießen.

„Wie komm ich denn zu der Ehre?“, fragte Bea ehrlich interessiert, denn sie war eine Frau, bei der man mit Komplimenten gar nichts erreichte und die allem auf den Grund gehen musste.

„Deine Kritik hat mich zu einer ganz anderen Choreografie-Idee verleitet“, sie prostete ihr zu, „und die werde ich versuchen, in Otterndorf mit Laiendarstellern umzusetzen.“

„Da hast du dir ja was vorgenommen“, spottete sie, „wie willst du denn ausgerechnet in Otterndorf grazile Balletteusen finden … ich hätte nie gedacht, dass ich mich heute noch amüsieren würde. Es hat schon seinen Grund, warum ich aus dem Dorf weggezogen bin.“

Britta schlug scherzhaft mit dem Programmheft nach ihrer Tante: „Schlange!“

Sofort verfinsterte sich Beas Gesicht, und Britta merkte zu spät, was sie gemacht hatte.

„Tut mir leid“, sie guckte betreten auf ihr Glas, „ich wollte dich nicht an Erika erinnern.“ Beas große Liebe, die sie für die Urlauberin Rita Sieversen verlassen hatte und mit ihr nach Berlin gezogen war.

„Schon gut“, versuchte Beatrice die Vorstellung wegzuschieben, „es sagte eben niemand so liebevoll ‚Schlange‘ zu mir wie Erika. Aber na ja, was vorbei ist, ist vorbei. Wie sagst du immer so schön, auf zu neuen Ufern – aber es gibt hier wahrlich mehr neue Ufer als Flüsse, doch überall schmeckt das Wasser schal und banal.“

„Also, Tante Beatrice“, Britta betonte das Wort Tante, „bitte keine Details! Es wird schon wieder eine kommen, die dir das Herz stiehlt.“

*

Hartmut Frank lieferte das erbeutete Stück Papier bei der Spurensicherung ab und konnte endlich Feierabend machen. Für alle Fälle hatte er in seinem Handy ein Foto davon gespeichert.

Endlich zu Hause, parkte er seinen Wagen in der Garage. Er wohnte in einem der schönen, zurückgesetzten Häuser der Nordheimstraße in Sahlenburg mit kleinem Garten und Sitzecke im Hof. Schon seine Eltern hatten hier gelebt, und nach ihrem Tod war er hierher zurückgekehrt. Wie so oft war er den Weg des geringsten Widerstandes gegangen und hatte sich quasi ins gemachte Nest gesetzt. Zwar war die Straße nicht eben die attraktivste, entsprechend den früheren Reihendörfern zog sie sich beinahe kerzengerade bis fast hinunter zum Strand, aber auf der gegenüberliegenden Seite gab es überall Durchgänge zum Wernerwald. Es war befreiend, abends noch einmal ein Stück in den Wald hinein zu schlendern und einfach abzuschalten oder, wenn es sich nicht vermeiden ließ, den jeweiligen Fall noch einmal neu zu überdenken.

Heute aber zog es ihn zu seinem Sessel im Erker, denn er fühlte sich schon wieder erschöpft. Hoffentlich bekam er keine Erkältung. Was hatte ihn nur so geschwächt auf Libušes Party? Es konnte nicht nur der Alkohol gewesen sein, er hatte den ganzen Abend über lediglich zwei, drei Gläser Wein getrunken und mindestens doppelt so viel Wasser. Irgendetwas am Tatort hatte ihn irritiert, er schloss die Augen, bekam es aber nicht zu fassen. Auf jeden Fall hatte es mit dem Kranich zu tun oben auf dem Kranichhaus, wie durchbohrt war er sich vorgekommen von seinen Blicken.

Plötzlich ertappte er sich dabei, dass er vor sich hinlächelte. Sie war ganz schön schneidig, die neue Mitarbeiterin, fiel ihm unpassenderweise an dieser Stelle ein. Sie wusste genau, was sie wollte, irgendwie gefiel ihm das. Er stand ja eigentlich mehr auf den sanften Typ Frau, aber diese Liz, die hatte was. Und sexy fand er sie auch. Auf der Party war es ein lockeres Umkreisen gewesen, diese Leichtigkeit war jetzt natürlich passé. Nun musste man sich erst mal beim Arbeiten zusammenraufen, aber – schon wieder lächelte er – sie flirtet da einfach weiter. Seine Stirn legte sich in Falten, ob ich ihr überhaupt gewachsen bin? Früher wäre er solchen Frauen aus dem Weg gegangen, aber jetzt … was hatte er zu verlieren? Ihm fiel eine Chanson-Zeile ein: „Lass sie fallen, die Bilder von dir und mir“, das wär’s doch: jemandem zu begegnen, bei dem man so sein konnte, wie man wirklich war.

Aber dass man ihnen einfach eine Profilerin zugeteilt hatte, war schon ein starkes Stück. Klang das nicht ein bisschen so, als glaube man, sie würden es alleine nicht schaffen? Um sich abzulenken, kramte Hartmut sein Handy aus dem Jackett und schaute sich noch einmal das Foto der Origami-Figur an. Und es erfasste ihn dieses rauschhafte Gefühl, als sei er auf eine heiße Spur gestoßen. An was erinnerte ihn nur dieses eckige Papierknäuel, und wo hatte er etwas Ähnliches schon einmal gesehen? Ein kantig gefaltetes Tier als Signatur eines Mordes? Richtig, jetzt fiel es ihm ein, es war kein anderer Fall, der ihm im Gedächtnis geblieben war, es war …

Hartmut sprang auf und suchte aus seinem Regal eine bestimmte DVD heraus, legte sie in den Player ein und spulte vor. Stopp, da war die Szene: Der beauftragte Killer hinterließ am Tatort des Mordes eine Origami-Figur, aber im Film war es kein Kranich, sondern ein Einhorn.

„Donnerwetter“, er war ganz aufgeregt, „da kopiert jemand ,Blade Runner‘“, einen seiner Lieblings-Sci­ence-Fiction-Filme!