WARUM TUST
DU DIR DAS AN?
Tagebuch eines Schulleiters
Von Harald Togal
WARUM TUST DU DIR DAS AN?
Tagebuch eines Schulleiters
Harald Togal
published by: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de
Copyright: © 2012 Harald Togal
ISBN 978-3-8442-3144-1
„Wenn wir nicht das Feindbild Schulleiter hätten,
würden wir übereinander herfallen.“
Stimme aus dem Lehrerzimmer
Hier steht das, was mich oft fassungslos gemacht hat. Als
„einfacher“ Lehrer kriegt man wenig von dem mit, was sich auf der
Leitungsebene einer Schule abspielt. Die Wahrnehmung ändert sich,
wenn man als Schulleiter den täglichen Wahnsinn der Schule in seiner
ganzen Fülle erleben muss. Wenn ich das eine oder andere davon
unter Freunden bekannt gab, hörte ich: „Das gibt es doch nicht, das
darf nicht wahr sein.“ Also habe ich es aufgeschrieben.
Die Situation an „meiner“ Schule weist einige Besonderheiten auf.
Um die geht es hier auch. Es ist schwer, Außenstehenden Einblick in
Schule zu vermitteln. Einblick in diese Schule zu geben, scheint fast
unmöglich zu sein.
Mein Tagebuch ist wahr, nichts ist übertrieben, nichts erfunden. Aber
es enthält nicht die ganze Wahrheit. Es gab auch Positives: Das
Engagement von Lehrerinnen und Lehrern bei den Sportturnieren,
den Projektwochen, dem Schüleraustausch, den Tagen der
offenen Tür oder bei der Beratung der Schülerzeitung.
Ich erhielt viel Unterstützung, von den Schulsekretärinnen, dem
Hausmeister, dem technischen Assistenten, von einigen Kolleginnen
und, nicht zuletzt, vom Schulelternbeirat. Ich habe Freunde, die mir
immer die Daumen drückten. Vor allem danke ich meiner Frau, ohne
deren Geduld und Liebe ich diese Zeit nicht durchgestanden hätte.
Harald Togal
Im Sommer 2004
„Für viele Steinböcke wird es das Jahr ihres Lebens!“
Aus dem Jahreshoroskop 2001 der Zeitschrift „Fernsehwoche“
Lasciate ogni speranza, voi, qu’entrate…
(Ihr, die ihr eintretet, lasst alle Hoffnung fahren.)
Dante, Göttliche Komödie
Die Schule liegt in einer Sackgasse. Ein Verkehrsschild am Beginn
weist sie als Fußgängerzone aus. Zuerst kommt das Feuerwehrgerätehaus,
dann das Bürgerhaus mit einer jugoslawischen Gaststätte, danach
eine Turnhalle und ein etwas verwahrloster Parkplatz. An der
Zufahrt zum Parkplatz steht ein Altkleidersammelbehälter, daneben
ein Altschuhsammelbehälter. Rechts steht eine Grundschule und
schließlich ganz hinten die Gesamtschule. Der Parkplatz ist schlecht
beleuchtet. Morgens liegen oft Bierdosen herum. Das Gelände ist
auch ein gern genutzter Hundekotplatz.
Einem Feng-Shui-Anhänger fiele das Betreten der Schule schwer: Im
Windfang des Eingangsbereichs befinden sich die Schülertoiletten.
Jeder, der die Schule betritt, muss daran vorbei, durch den ewig müffelnden
Windfang hindurch. Bautechnisch hingegen ist das eine geniale
Lösung: Für innen und außen gibt es eine einzige, von beiden
Seiten gut erreichbare Toilette.
Wen dies weniger stört, der muss sich mit der Frage auseinander setzen,
ob er eine Schule oder einen Recyclinghof betritt. Eine gelbe Tonne
neben dem Briefkasten am Eingang ist noch zu verkraften. Im
Toilettenwindfang stehen links und rechts, neben der Jungen- und der
Mädchen-Toilette, jeweils zwei weitere Mülltonnen; macht zusammen fünf.
Wer diese Schwelle überwunden hat, betritt die Eingangshalle, in der
sich sieben Abfallbehälter unterschiedlichster Bauart befinden. Trotz
oder vielleicht gerade wegen der großen Auswahl an Abfallbehältern
werden zusammengeknüllte Bäckereitüten, Schokoriegelverpackungen
und Getränkedosen aber mit Vorliebe auf dem Fußboden abgelegt.
Ein Pflanzenfriedhof lockert dieses Ambiente auf. Zwei Dutzend
dürre Fici Benjamini, abgesägte Yucca-Stämme oder beschädigte Philodendren
zieren den Bereich. Diese Anhäufung unterschiedlichster
Pflanzen vor dem Eingang zum Lehrerzimmer wird als „Dschungel“
bezeichnet; eine Kränkung für die Regionen der Erde, wo es ihn
(noch) gibt.
Die Wände der Eingangshalle sind von Schülerinnen und Schülern bemalt
worden: Fantasy-Gemälde, ein überdimensionales impressionistisches
Bild auf der Tür zum Lehrerzimmer, die Betonsäulen altdeutsch
rustikal mit Fachwerk übermalt. Jedes Werk für sich betrachtet beeindruckend.
Ein Vorgeschmack auf fehlende pädagogische Koordination?
Der Neue ist davon überzeugt, dass Räume erzieherische Wirkung
haben. Verwahrloste, ungepflegte Schulkasernen sind lernhemmend
und aggressionsfördernd.
Der Eingangsbereich hat durchaus Charme. In der Mitte befindet sich eine
nicht allzu große Aula, die sich vorzüglich für Veranstaltungen eignet,
auf der linken Seite, hinter einer Glaswand, eine kleine Bücherei,
daneben eine mit Teppichboden ausgelegte Sitzlandschaft. Überhaupt
befinden sich im Erd- und Obergeschoss in mehreren Nischen
liebevoll gestaltete Sitzecken, Produkte des Werkunterrichts. An der
zentralen Wand im Eingangsbereich, ebenfalls im Fachwerkstil bemalt,
hängen große Fotos aller Klassen. Davor blanke Holzbänke und
-würfel, eine bei den Schülerinnen und Schülern beliebte Sitzgelegenheit.
Kaum eine andere dem Neuen bekannte Schule hat solche
schönen Sitzecken in den Fluren. In den Pausen sind sie leider nicht
zu benutzen, da die Schüler das Gebäude verlassen müssen. So hat es
die Gesamtkonferenz beschlossen.
Eine letzte Mülltonne steht vor dem Eingang zum Verwaltungsflur.
Vorherrschende Farbe dort, wie überall in der Schule, ein aggressives
grünliches Gelb der Blechwände. Es wird aber von einer Unzahl A0-
Fotopostern vergangener Sport- und pädagogischer Tage, von Auslandsfahrten,
Kunstprojekten und Kollegiumsausflügen gemildert.
Über den Postfächern der Lehrerinnen und Lehrer hängen Girlanden
aus Endlos-Lochpapier. Darauf stehen – in Fraktur – pädagogische
Leitsätze und Zielvorstellungen.
Vor der Tür zum Schulleiterzimmer hängen modische Kreuze, wohl
im Religionsunterricht gefertigt, im Nikki-de-Saint-Phalle-Stil, Pop-
Kreuze, naiv bemalte Holzlatten. Darunter stehen eine große blaue
Holzbank, deren Farbe sich mit dem unentschiedenen Gelb der
Wände beißt, und hölzerne Sitzwürfel, gruppiert um einen zu hohen
Tisch, einem Kastenmodell des Schülercafés unter einer Glasplatte.
Auf der blauen Bank ist eine hölzerne Gliederpuppe festgeschraubt.
Sie jagt dem Neuen, der in den ersten Wochen sein Büro erst spät
abends bei Notbeleuchtung verlässt, jedes Mal einen gehörigen
Schrecken ein. Er lässt sie vom Hausmeister wegschaffen. Damit handelt
er sich eine erste Rüge des Personalrats ein.
Seit wann diese Ausstellungsstücke im Verwaltungsflur präsentiert
werden, ist nicht zu klären. Die Antworten variieren zwischen ewig
und bestimmt länger als drei Jahre.
Die beiden freien Wände im Schulleiterzimmer werden von Fototapeten
geschmückt, Naturlandschaften. Davor stehen Verwandte der
Pflanzen aus dem Eingangsbereich. Auf der Tür zum Sekretariat klebt
die Fototapete einer rosafarbenen Bauernhaustür.
Der raumhohe Kaktus, den der neue Nutzer des Schulleiterbüros als
einzigen Zimmerschmuck vorerst überleben lässt, zeigt sich undankbar.
Er kippt eines Tages über den Schreibtisch und jagt seine haarscharfen
Nadeln in die Hände und Unterarme des Neuen.
In den Verwaltungsräumen setzt sich die Recyclinghofidee fort. Alle
Zimmer haben einen oder mehrere mit blauen Abfallsäcken ausgestopfte
50-Liter-Papierkörbe.
Nachtrag: Der Neue ersetzt die 50-Liter-Papierkörbe durch normale
Büropapierkörbe. Die Zahl der Mülltonnen wird erheblich reduziert.
Dennoch wird die Schule bald als eine der saubersten im
Kreisgebiet gelobt werden.
Der Schreibtisch
Über Tage hinweg ist der Neue damit beschäftigt, die Hinterlassenschaft
des Vorgängers aus dem Schreibtisch zu räumen: Hustenbonbons,
Tempotaschentücher, vertrocknete Folienstifte, hunderte Kulis
und Bleistifte. In den Schränken ruhen vergilbte Publikationsverzeichnisse
und Broschüren. Der Neue wünscht sich einen Erlass, der
Ruheständlern auferlegt, ihren Schreibtisch aufzuräumen. Herr
Dahlheimer, der Vorgänger, wird in seiner Abschiedsrede behaupten,
er hätte einen aufgeräumten Schreibtisch hinterlassen.
Der Vorgänger
Herr Dahlheimer war überraschend vorzeitig pensioniert worden. Es
hatte Auseinandersetzungen gegeben, so war zu hören, u. a. mit der
Stellvertreterin, dem Personalratsvorsitzenden und dem Schulelternbeiratsvorsitzenden.
Die Steuergruppe für das Schulprogramm war
von der Gesamtkonferenz aufgelöst worden. Dalheimer war Befürworter
der Förderstufe gewesen. Das Kollegium war dagegen. Es hatte eine,
auch öffentlich geführte, erregte Auseinandersetzung darüber gegeben.
Er hatte sein altes Klavier an die Schule verkauft. Auf Schulrechnung
soll ein Klavierstimmer dann das alte und das neue private gestimmt
haben. Als der Neue das Beschriftungsgerät sucht, bekommt er den
Tipp, er solle den Vorgänger anrufen. Der Hausmeister erzählt, dass er
eines Tages Gartenmüll in mehreren Abfallbehältern der Schule gefunden
habe und die Nachbarn verdächtigte. Kleinlaut habe der Vorgänger
zugegeben, dass er von ihm stamme. Auch private Wäsche
habe er in der schuleigenen Waschmaschine gewaschen. Der damalige
Hausmeister habe seine Wohnung renoviert.
Die Abschiedsfeier
Zur Abschiedsfeier hatte er das gesamte Kollegium geladen. Gekommen
war ein knappes Drittel. Der Schulrat schützte einen anderen
Termin vor, so dass der Neue dem alten Direktor die Entlassungsurkunde
überreichen musste. Der Vorgänger hielt sich selbst eine
Laudatio. Darin kam von Plato bis Pestalozzi vor, was bei solchen
Gelegenheiten vorzukommen pflegt. Ein schon früher pensioniertes
Mitglied der Schulleitung redete von seinen Schwierigkeiten, eine
Rede zu halten. Der Neue las ein Gedicht von Eugen Roth.
Zu dem Zeitpunkt, für den das Büffet angekündigt war, erschienen
Freunde aus dem örtlichen Karnevalsverein und sangen ein nicht
enden wollendes Bänkellied auf ihren Vereinskollegen. Der Neue
nahm beim Büffet schon für die Vorspeise einen großen Teller.
Die Schulleitung
Aus der Schule waren Hilferufe gekommen. Der Neue war vom Schulamt
zum Halbjahr an die Schule geschickt worden. Nicht nur der
Schulleiter war pensioniert worden, der pädagogische Leiter ebenso,
ein Jahr zuvor der Leiter des Haupt- und Realschulzweiges.
Der Förderstufenleiter, Herr Nagel, hatte eine schwere Operation hinter
sich und zur Wiederherstellung der Gesundheit seine Arbeitszeit
reduziert. Da sein Lebenswerk, die Förderstufe, aufgelöst wird, ist ihm
nicht zu verdenken, dass er resigniert. Er taucht im Laufe des Vormittags
auf, kopiert ein paar Unterrichtsmaterialien, lässt die Fehldrucke
rund um den Kopierer liegen und verschwindet grußlos
gegen Mittag. In den Leitungsteamsitzungen diskutiert er gerne
grundsätzlich. Er ist gegen Computer in der Schule, gegen die Schaffung
einer Vertretungsreserve, für gewerkschaftliche Positionen, gegen
nachmittägliche Sitzungen des Leitungsteams. In den Gesamtkonferenzen
provoziert er den Neuen gerne.
Die Leiterin des Gymnasialzweiges, Frau Willnow, hat ebenfalls aus
Gesundheitsgründen reduziert und unterrichtet zudem mit der
Hälfte ihrer Stunden an der Oberstufenschule in der Stadtmitte. Sie
hat einige anstrengende Monate lang die Schule geführt. Den Neuen
unterstützt sie sehr.
Die Stelle des pädagogischen Leiters wird nicht wieder besetzt. Die
Landesregierung hält nichts von Gesamtschulen. Sie setzt ihnen administrativ
zu, z. B. mit der Nichtbesetzung freier pädagogischer Leiterstellen.
Die Stelle des Leiters des Haupt und Realschulzweiges wird
auf absehbare Zeit auch nicht besetzt werden, da die Schülerzahl
unterhalb der Grenze liegt, ab der die Stelle ausgeschrieben werden
muss. Somit haben nur der vier Klassen umfassende Gymnasialzweig
und die sechs Klassen umfassende Förderstufe eine hauptamtliche
Leitung, die 11 Haupt- und Realschulklassen aber nicht.
Für die Funktion der Stellvertreterin war fünf Jahre zuvor eine Lehrerin
aus dem Kollegium ausgewählt worden, Frau
Zastrow. Da sie eine Besoldungsstufe überspringen musste, ließ ihre
endgültige Ernennung auf sich warten. Die Zusammenarbeit zwischen
Dahlheimer und der Stellvertreterin muss schwierig gewesen sein.
Frau Zastrow regierte in Zeiten der Abwesenheit des Schulleiters
selbstherrlich. Sie hob seine Anweisungen auf und angeblich durchsuchte
sie seinen Schreibtisch. Dahlheimer war häufig abwesend. Er
hatte einen Schüleraustausch mit Marokko ins Leben gerufen.
Sie war vom damaligen Leiter des Schulamtes ausgesucht worden. Es
gibt den Verdacht, diese Auswahl sei geschehen, weil Dahlheimer von
einem Dezernenten ausgewählt worden war, den der Schulamtsleiter
wiederum nicht sehr mochte. Ein Mitspracherecht bei der Besetzung
der Stellvertreterstelle hat ein Schulleiter nicht.
Über Frau Zastrows Amtsführung gibt es widersprüchliche Meinungen.
Dass die Chemie in der Schulleitung nicht gestimmt habe, wie
Herr Schwegler, der Koordinator, sagt, sei eine wohl wollende Umschreibung.
Jetzt endlich, seit der Ankunft des Neuen, werde in den
Leitungsteamsitzungen nicht mehr gebrüllt.
Über Frau Zastrow ist nachzulesen, dass sie sich beim Schulamt über
die Sekretärin beschwerte, weil die aus ihrer Ananasdose genascht
hätte. Die Zusammenarbeit war für die Sekretärin so belastend, dass
sie kreisrunden Haarausfall, eine Stresskrankheit, bekam. Frau Zastrow
soll einmal im Sekretariat auf dem Boden gelegen und geschrieen
haben, so dass man den Notarzt rufen musste. Sie habe gerne Stellen
gezeigt, wo sie Abhörwanzen vermutete.
Zwei Jahre nach ihrer Zwischenbeförderung stand die Ernennung
bevor. Dahlheimer äußerte sich nicht eindeutig zur Frage der
Bewährung. Seine laue Beurteilung löste im Schulamt Erstaunen aus.
Jahrelang hatte er Klage über sie geführt. Jetzt konnte er sich Frau
Zastrow als Stellvertreterin vorstellen. Es gibt Vermutungen, dass sie
inzwischen zu viel von ihm wusste, als dass er ihre Nichtbewährung
hätte vorschlagen können. Schließlich schob er eine negative Aktennotiz
nach.
Nachtrag: Mit Hilfe der Rechtsstelle der Lehrergewerkschaft wird
Frau Zastrow drei Jahre mit dem Schulamt in Fehde wegen der
ausgebliebenen Beförderung liegen.
Einmal wollte Dahlheimer ihr eine Falle stellen. Er, ein „guter zweiter
Mann“, wie Herr Schwegler sagt, hatte den Stundenplan immer selbst
gemacht. Einen Stundenplan, was meist Aufgabe der Stellvertreterin
ist, hatte Frau Zastrow nie erstellen müssen.
Vor zwei Jahren beauftragte er sie in den Sommerferien damit. Sie
packte einen Schulcomputer in ihren Wagen, kam aber ohne Plan aus
den Ferien zurück. Der Vorgänger musste in einem dreitägigen Marathon
den Plan selbst machen.
Anschließend war sie fast ein Schuljahr krank. Sie reichte wöchentlich
Atteste ein, bis Dahlheimer sie nach Monaten entnervt bat, sich
doch eine langfristige Erkrankung bescheinigen zu lassen. Im Folgenden
Jahr kam sie zurück an die Schule, aus Gesundheitsgründen mit
reduzierter Arbeitszeit, erhielt einen unterrichtsfreien Tag für Therapiestunden
und späten täglichen Unterrichtsbeginn wegen morgendlicher
gymnastischer Übungen. Außerdem hatte das Schulamt
zur Beschleunigung ihrer Gesundung verfügt, dass sie nicht mit
Schulleitungsaufgaben belastet werden dürfe. Inzwischen als behindert
eingestuft, beantragte sie eine spezielle, ihrem Rückenleiden angepasste
Arbeitsplatzausstattung. Sie erhielt sogar einen Sonderparkplatz
auf dem Schulhof, der mit einem Gitter abgetrennt wurde.
In dieser Situation, zu Beginn des 2. Schulhalbjahres, trifft der Neue
ein. Er braucht Klarheit, ob die Stellvertreterin den Stundenplan fürs
kommende Schuljahr macht. Er fragt im Februar, wie es um sie stehe.
Sie legt sich nicht fest, ist aber zu allem bereit. Es gehe ihr schon viel
besser. Aber ganz stabil sei ihre Gesundheit noch nicht. Sie könne
nicht verhindern, dass sie gelegentlich ausfalle. Aber wenn sie wieder
in der Schulleitung mitarbeite, sei klar, dass der Neue die Schule nach
außen zu vertreten habe. Da werde sie ihm nicht reinreden. Der Neue
ist überrascht, woran sie schon denkt. Er bittet sie, ihn möglichst frühzeitig
zu informieren, wie es mit ihr weitergehe.
Als der Neue Frau Zastrow einmal darauf anspricht, dass sie mit
Elternfragen rechnen müsse, weil sie äußerst rigide „blaue Briefe“ verschicke,
gleichzeitig aber häufig gefehlt habe, bittet sie ihn, ihr das
schriftlich zu geben. Der Neue betont, dass er dieses Gespräch kollegial
führe, weil er besorgte Elternanrufe gehabt habe und ihr dies
nicht verheimlichen wolle. Sie zieht daraufhin eine Statistik aus der
Tasche und liest dem Neuen vor, aus welchen Gründen sie ihren
Unterricht nicht habe halten können: Wandertag, Projekttag, und
dann sei da noch die Jugendbüchervorstellung gewesen, die er, der
Neue, angeordnet habe.
Eine weitere Kollegin trifft der Neue in der Schulleitung an: Frau Melles.
Sie erstellt aushilfsweise die Aufsichts-, Vertretungs- und Stundenpläne.
Es gibt Stimmen im Kollegium, die sagen, dass die Schule
noch nie so gute Pläne gehabt habe. Die Zusammenarbeit mit ihr ist
vom ersten Moment an hervorragend. So geht der Neue durch die
Schule, wundert sich, dass das Lehrerzimmer und die Flure voll sind,
die Klassenräume leer, obwohl seit Minuten die fünfte Stunde angefangen
hat. Da fordert Frau Melles bereits durch die Lautsprecher die
Schülerinnen und Schüler auf, in die Klassen zu gehen.
Der Status des Neuen ist brisant. Er nimmt Schulleitungsaufgaben
wahr, ohne Schulleiter zu sein, ohne eine ministerielle Beauftragung
zu haben. In ähnlichen Fällen wird der Leiter einer benachbarten Schule
dienstverpflichtet. Ihm wird nahe gelegt, unauffällig zu agieren, niemanden
im Kollegium zu verprellen, keine unpopulären Entscheidungen
zu treffen, nichts zu verändern. Er versucht, dies Frau Melles
zu erklären, die ihn des Öfteren auffordert, Missstände abzustellen.
Sie ist auch für die Organisation des Haupt- und Realschulzweiges
verantwortlich. Das ist auf Dauer nicht mit ihren Aufgaben beim
Stunden- und Vertretungsplan zu vereinbaren, daher sucht der Neue
nach weiteren Kolleginnen oder Kollegen, die in der Schulleitung
mitarbeiten könnten. Frau Melles aber möchte die Zweigleitung
behalten. Sie will sich als Stellvertreterin bewerben. Und diese Tätigkeit
ist nützlich für eine Bewerbung.
Der Neue beauftragt sie in Absprache mit dem Schulamt wesentliche
Aufgaben einer Stellvertreterin wahrzunehmen. Das führt zu Irritationen
im Kollegium, insbesondere bei den Anhängern der „teilkranken“,
von allen Schulleitungsaufgaben entbundenen Frau Zastrow.
Frau Melles gibt zu verstehen, dass sie unter keinen Umständen
gewillt sei, an der Schule zu bleiben, wenn Frau Zastrow wieder als
Stellvertreterin arbeiten werde. Die jetzige Situation sei schon belastend
genug. Das kann der Neue nur bestätigen. Ihm fällt auf, dass
Frau Zastrow die Stimme senkt, wenn er das Lehrerzimmer betritt,
dass sie ständig Notizen macht, bei Konferenzen von Anfang bis Ende
mitschreibt. Obwohl schon im Mantel, bleibt sie eine Dreiviertelstunde
im Lehrerzimmer, als der Neue mit dem Personalratsvorsitzenden
über Gott und die Welt redet. In den Pausen schielt sie ständig ins
Raucherzimmer, wo der Neue sich oft aufhält. Sein Tabakkonsum ist
gestiegen, seit er an dieser Schule ist.
Zur Schulleitung gehört auch Herr Schwegler, der Koordinator. Er hatte
eine andere Schule wegen Fehlverhaltens verlassen müssen. Der
Elternbeiratsvorsitzende nennt ihn Generalfeldmarschall. Er habe beim Schulfest
die Eltern ganz schön herumkommandiert. Schwegler erzählt gelegentlich
vom Militär, sein Ton bei Durchsagen ist schneidig. Die Schülerzeitungsredaktion
befiehlt er in den Pausen häufig in sein Zimmer. Die Tür hat
außen einen Knopf, keine Klinke. Man muss anklopfen oder, sofern
man einen passenden Schlüssel hat, aufsperren. Der Neue lässt das
ändern. Als er einmal fragt, ob Schwegler denn eine Kursliste für die
Zeitungs-AG führe, erwidert der ungerührt, der Neue habe nie erwähnt,
dass er auf Kurslisten bestünde.
Nachtrag: Die einzige Ausgabe der Schülerzeitung im laufenden
Schuljahr erscheint kurz nachdem der Neue von einer Schülerzeitungsredakteurin
interviewt worden war. Ohne das Interview.
Vom Schulamt war ihm eine Kollegin als mögliche Mitarbeiterin in
der Schulleitung genannt worden, Frau Moser. Er beauftragt sie mit
der Koordination der Schulprogrammarbeit und einem Konzept zum
Wahlunterricht. Vier Deputatstunden kann er ihr dafür anbieten. Eine
äußerst großzügige Regelung. Das ist ihr zu wenig. Sie nimmt aber an.
Eigentlich hätte sie die H- und R-Zweigleitung übernehmen sollen,
die aber Frau Melles behalten will. Die mit den beiden nicht allzu
umfangreichen pädagogischen Aufgaben betraute Kollegin Moser ist
immer ein wenig mürrisch und grüßt nie. Der Neue liest im Haushaltsplan,
dass sie ein Klavier haben möchte. Er sichert es ihr zu. Er
bekräftigt es auch dann noch, als Haushaltsfachmann Schwegler
meint, es werde schwierig mit der Finanzierung. Der Neue bittet sie
zu prüfen, ob es statt für 11.000 DM vielleicht für 8.000 ginge. Sie
schickt den Personalrat vor, der sich für den Klavierkauf einsetzt.
Der meldet auch gleich Kritik an der Beauftragung von
Schwegler mit Haushaltsangelegenheiten an.
Der Neue betont gegenüber dem stets forsch auftretenden Koordinator,
dass die Hauptverantwortung für den Haushalt bei ihm, dem
Neuen, läge. Er gibt dem Personalrat zu erkennen, dass er für alternative
Namensnennungen offen sei. Solange das aber nicht der Fall
wäre, sei er dem Koordinator für seine Mitarbeit sehr dankbar.
Raumfragen
Seit einigen Jahren gehen die Schülerzahlen der Schule zurück. Der
Schülerberg der 70er und 80er Jahre ist abgebaut, die Geburtenrate
sinkt. Die Schulform Gesamtschule ist bei der überwiegend konservativen
Bevölkerung nicht gut angesehen. Selbst sozialdemokratische
Lokalpolitiker schicken ihre Kinder lieber auf Privatschulen. Aber
auch örtliche Gegebenheiten wirken. Der Stadtteil hat keine Neubaugebiete
und die Schule liegt verkehrsungünstig.
Mehrere Klassenräume stehen leer. Sie werden umfunktioniert. Es
gibt daher einen Film- und einen Videoraum, die kleinen Lateingruppen
haben ihren Raum, es gibt das Schülercafé und den Meditationsraum
einer Religionslehrerin.
Der Neue hat sich einen Home-Room genommen, in den seine
Klassen zum Unterricht kommen. Er arbeitet nicht gern mit veralteten
Lehrbüchern und braucht daher in seinem Unterricht Sachbücher
und Lexika, Papier, Filzstifte und Scheren und viel Platz zum
Aufhängen von Wandzeitungen. Da ist ein Raum, in den die Schülerinnen
und Schüler kommen, sinnvoller, als wenn er wie ein Packesel
von Klassenraum zu Klassenraum zieht.
Dieser Raum hatte schon bei seinem Vorgänger leer gestanden.
Gelegentlich war er zum Backen von Waffeln benutzt worden. Der
Neue hatte die ersten Wochen gewartet, aber es zeichnete sich ab,
dass der Raum auch weiterhin von niemandem beansprucht wurde.
Da kommt der technische Assistent, über den die Schule an einem Tag
in der Woche verfügt, und weist ihn darauf hin, dass seit Jahren eine
ungenutzte fahrbare Videoanlage in seinem Büro stehe. Den Vorgänger
habe er schon vergeblich darauf aufmerksam gemacht. Der
Neue lässt sie in seinen Home-Room bringen. Im Lehrerzimmer hängt
er aus, dass ein zusätzlicher Recorder dort stehe. Einige Wochen
später fragt der Personalrat, ob andere Lehrer den Recorder auch
benutzen dürfen.
Technische Assistenten an Schulen sind ein Relikt aus den 70er
Jahren, der Zeit der Bildungsreformversuche. Die Stellen sind inzwischen
weitgehend abgebaut worden.
Zwei benachbarte leer stehende Klassenräume sind durch eine Schiebetür
getrennt. Er lässt den Hausmeister die schwergängige Schiebetür
öffnen. So entsteht ein Konferenzraum. Die besten auffindbaren
Tische werden in einem großen Rechteck angeordnet. Das Kollegium
nimmt den Raum nur zögerlich an. Gesamtkonferenzen im Lehrerzimmer
waren gemütlicher. Man konnte auf der Couch sitzen.
Der neue große Konferenzraum eignet sich vorzüglich für Klassenarbeiten
und Tests. Dazu muss die Konferenzbestuhlung natürlich aufgelöst
werden. Der Hausmeister muss jetzt vor jeder Konferenz umbauen.
Wenn der Neue den Umbau zu früh durchführen lässt, kommt
es vor, dass ein Lehrer kurz vor der Konferenz noch einen Test schreiben
lässt und die Tische wieder umstellt. Es dauert nicht lange bis
die Tische, wie in den Klassenräumen üblich, mit Filzstiften beschmiert
sind. Der Neue fragt sich, wo man früher Klassenarbeiten
geschrieben hat.
Das Schulverwaltungsamt überlegt, der leer stehenden Räume wegen,
ob das Medienzentrum des Landkreises in die Schule ziehen könne.
Die Leiterin des Amtes vergattert ihn zur Verschwiegenheit. Er weiß
aus seinen früheren Tätigkeiten, dass solche Anfragen oft vorübergehenden
Charakter haben. Er entschließt sich, sein Leitungsteam einzuweihen,
bittet aber um Vertraulichkeit. Einige Tage später fragt der
Personalratsvorsitzende, was es mit dem Medienzentrum auf sich
habe. Er habe gehört, der Neue betreibe den Einzug eines Medienzentrums.
Er fragt in der Schulleitungsrunde nach der undichten Stelle. Religionslehrerin
Moser gibt den Vertraulichkeitsbruch zu. Er führt ein
Gespräch mit ihr, bittet darum, dass sie ihm versichere, künftig loyaler
zu sein. Er bietet ihr in diesem Gespräch aber auch mehrfach die
weitere Zusammenarbeit an. Sie erklärt daraufhin, dass sie im nächsten
Schuljahr nicht mehr zur Verfügung stehe und schon vor einiger
Zeit das Schulamt nach einer Versetzung in eine andere Schule
befragt habe.
Er will die Sache nicht hoch hängen. Er fertigt nach Rücksprache mit
dem Juristen des Schulamtes eine Aktennotiz an, will sie eine angemessene
Zeit aufbewahren und sie dann in Absprache mit der
Kollegin vernichten. Die Kollegin Moser verweigert die Kenntnisnahme
und wirft ihm vor, nicht korrekt zu sein, weil so etwas in die
Personalakte gehöre. Sie lässt eine Rechtsanwältin intervenieren, als
der Neue dann die Aktennotiz zwecks Aufnahme in die Personalakte
ins Schulamt schickt. Das will sie jetzt doch nicht mehr. Das Amt fordert
eine schriftliche Stellungnahme vom Neuen. Er leitet diese ein
mit der Bemerkung, er freue sich, dass Frau Moser jetzt doch auf die
Aufnahme der Notiz in ihre Personalakte verzichte. Daraufhin rügt
das Amt den Neuen und verbittet sich ironische Bemerkungen. Er
solle nochmals und ausführlich Stellung nehmen.
Nach vier Wochen wird der Einzug des Medienzentrums vom Landrat
erst einmal ad acta gelegt.
Nachtrag: Das Medienzentrum kommt dann doch. Mitarbeiter des
Schulverwaltungsamtes begehen das Gebäude. Sie finden fünf Räume
im Erdgeschoss, u.a. den gerade neu eingerichteten Konferenzraum.
Die gefallen ihnen. Dem Neuen gefällt das überhaupt nicht. Mitten
im Gebäude, in Ia-Lage sozusagen, eine fremde Dienststelle mit Publikumsverkehr.
Er kann die Amtsleiterin davon überzeugen, dass sie
mit Räumen im Untergeschoss besser bedient ist. Es sind fußkalte,
etwas muffige Räume, aus denen er, sofort als er gekommen war,
Klassen ausquartiert hatte. Aber die werden ansehnlich renoviert.
Opfern muss er dafür das Fotolabor. Herr Zierhold, zuständig für
Arbeitslehre, ist darüber nicht erbaut und grummelt ein wenig. Aus
der Staubschicht, die auf den Geräten liegt, einigen mit Datum versehenen
Notizzetteln und dem Zustand der angebrochenen Chemikalien
lässt sich aber ablesen, dass das Labor seit einem Jahrzehnt
nicht mehr benutzt worden sein kann.
Nach einigen Wochen, in denen die Personalräte mit besorgten Gesichtern
herumlaufen, weil der Neue jetzt doch angeblich seinen
Willen bekommen hätte, erkennen die meisten, dass sie das Privileg
haben, sich noch Minuten vor Unterrichtsbeginn eine Videokassette
oder eine DVD ausleihen zu können. Lehrerinnen und Lehrer
anderer Schulen müssen eine Woche vorher bestellen oder selbst
zum Medienzentrum fahren.
Das Pressefoto
Der Dienstantritt des Neuen hat sich in der Öffentlichkeit herumgesprochen.
Der Chef des Lokalblattes sagt sich an. Er schießt ein Foto
vom Neuen am Schreibtisch, mit dem Telefonhörer in der Hand.
Leider versagt der Fotoapparat. Inzwischen sind weitere Schulleitungsmitglieder
im Zimmer. Auf dem Foto, das dann erscheint, sind
Frau Melles, Frau Willnow, Herr Schwegler und der Neue abgebildet.
Der Personalrat übt Kritik an der Veröffentlichung. Ihm gefällt nicht,
dass Herr Schwegler auf dem Foto ist.
Wissensmanagement
Lehrbücher und Lernmaterialien sind über zahlreiche Räume verteilt.