Im Dickicht

Text
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

Hans W. Schumacher

Im Dickicht

Notizen, Gedanken, Fragmente, Erinnerungen und Träume

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

IM DICKICHT

Impressum neobooks

IM DICKICHT

Irren ist menschlich. (Sprichwort)

Es irrt der Mensch, so lang er strebt. (Goethe)

Wir irren vorwärts. (Musil)

Macht Denken unglücklich oder führt Unglücklichsein zum Denken?

*

Einzusehen, was man ist, ist unmöglich. Man ist, was man wird. Alles Sein liegt in der Zukunft.

*

Alle Bücher sind zu dick, selbst Aphorismensammlungen haben den Fehler, daß zu viele Stücke auf einmal die Aufmerksamkeit beanspruchen. Alle über das Maß einer halben Stunde Lesezeit hinausgehenden Texte pflegen den Leser zu entmündigen, entwenden ihm die eigene Sprache und schwatzen ihm ein Sonderidiom auf. Der professionelle Autor schreibt vorzugsweise dicke Bücher, weil allein die ihn befriedigen und ihm das Geld und die Anerkennung bringen, auf die er Anspruch zu haben meint. So wird er zum Usurpator im Reiche des Geistes. Zum Glück muß er sich dieses mit anderen Usurpatoren teilen, das relativiert seine Macht. Auch steht es jederzeit in des Lesers Belieben, seine Herrschaft zu beenden, indem er das Buch einfach zuklappt.

*

Die schenkende Tugend, das war der Überfluß der Natur, die sich ständig weiterzeugt und neugebiert, aber nach ihrem Willen, der größeren Vernunft. Bis zum 18. Jahrhundert wußte man noch etwas davon. Danach regierte der Egoismus der kleinen Vernunft, des Zweckdenkens, der Ökonomie, der Angst vor dem Morgen.

*

Ewigkeit, Unendlichkeit, Vielheit sind gemeinsam charakterisiert durch Unerschöpflichkeit. Davor schreckt der Geist zurück, der überall Übersicht, Systematik, Einheit haben will. Der Entmutigung durch die schöpferisch sich verwandelnde Natur setzt der Mensch seinen erfundenen Gott entgegen: er ist der omnipotente Stellvertreter des ohnmächtigen Menschen. Also sagt sich der Mensch, Gott habe die Natur gemacht. Und Machen und Wissen sind dasselbe.

*

Im Tod muß ich mich sein lassen.

*

Den Geist aufgeben, heißt auf den Eigensinn verzichten.

*

Gott läßt glauben und nicht glauben. Er ist also auch daran schuld, daß man ihn vergessen hat.

*

Über Gott kann man nicht nachdenken, denn denkend übersieht man ihn.

*

Gott ist heute phantastisch.

*

Im Pantheisten segnet sich Gott selbst.

*

Gott ist als Begriff wie ein Nagel durch die Stirn.

*

Gott hat seine Allmacht eines Tages an den Menschen abgetreten, ohne ihm auch seine Güte und Gerechtigkeit mitzugeben. Möglich wäre, daß Gott sie nicht mitteilen konnte, weil er sie selbst nie besaß.

*

Nietzsche lehrte, daß man auch sein Leiden lieben muß, wenn man Gott ablösen will. Unser Hochmut ist aber nur ein intellektueller, er versagt beim geringsten Zahnschmerz. Dann ist man so wenig übermenschlich, daß man es kaum erwarten kann, sich den Massen im Wartezimmer anzuschließen. Dem Übermenschentum hat die Versicherung das Kreuz gebrochen.

*

Der Begriff Ich, Persönlichkeit, Subjekt, mit der Implikation, daß Persönlichkeit Verantwortlichkeit sei, beruht auf einer willkürlichen Entscheidung. Es ist eine petitio principii. Man setzt voraus, daß der Mensch sich entscheiden könne, frei sei, d.h. man entscheidet, daß man sich entscheiden kann. Dabei gibt es höchst verschiedene Formen des Sich-Entscheidens. Sich für den Begriff Freiheit zu entscheiden, weil man frei ist, wie man behauptet, ist gewiß einfacher, als sich zwischen zwei Frauen, die man beide liebt, glaubt entscheiden zu müssen, weil - eben aufgrund der Persönlichkeitsvorstellungen des Abendlandes - Liebe immer ausschließlich zu sein hat. Als Kompensation ist neben der Liebe zu dem einzigen Weibe nur noch die Liebe zum einzigen Gott gestattet. Daß das nicht unproblematisch ist, hat Kleist im Amphitryon dargestellt.

*

Ein merkwürdiges Faktum: Pascal, der die Verantwortlichkeit der Einzelseele vor Gott so hoch stellte, ist gleichzeitig der Urvater des Versicherungswesens.

*

Vielleicht ist der ennui die Strafe, die Gott über diejenigen verhängt hat, die nicht an ihn glauben wollen.

*

Gott wurde vielleicht erfunden, um den Menschen aus seiner Gleichgültigkeit und Langeweile herauszupeitschen.

*

Vielleicht kümmert sich Gott soviel um den Menschen, wie dieser sich um Gott kümmert.

*

So wie man sich aus Angst vor dem Tod entleiben kann, so kann man sich auch aus Todesangst das Leben verwässern, indem man nur noch an die Lebensverlängerung denkt, also an die Quantität und nicht die Qualität, wo Leben nur gilt als Material, das zu etwas anderem verbraucht werden muß. Das Nichts schickt die Langeweile voraus, das Gefühl der Nutzlosigkeit und des Versäumthabens, die Gefühle der Untauglichkeit und Ohnmacht.

*

Gott, sang man einst, hat alle Ding auf's best' bestellt. Das war die Zeit, als der Mensch Agrarier war. Gott war der oberste Landwirt: er zog sich die Menschen als seine Herde heran. Und die Herde wuchs, weil sie noch Natur war. Heute wächst nichts mehr von selbst, glaubt man; es muß nachgeholfen werden. Nicht einmal die Natur ist noch natürlich. Sie war es nie, sagen die Radikalsten, um als besonders gescheit zu gelten.

*

Das Leben ist, wie immer es auch gewesen sein mag, ein Schatz der Erinnerung. Leider, wie so manche Schätze unauffindbar vergraben. Es bedarf noch einmal besonderer Wunder, ihnen auf die Spur zu kommen.

*

Unsere Initiation besteht nicht mehr im heilsamen Schock der Todeserfahrung, wir haben dafür die schlammigen Labyrinthe der Langeweile, der Vergeblichkeit, des Umsonst eingetauscht. Darin bleiben wir stecken.

*

Alles für machbar und manipulierbar halten: unsere Illusion und unser Leiden zugleich.

*

Die unfromme Lüge der Trägen und Feigen: nie genug Zeit zu haben. Jeder hat die Zeit für sich, die er nötig hat.

*

Eigentum ist Diebstahl. Das gilt insbesondere für die Zeit, die man für sich selber beansprucht.

*

Einst waren Gedanken Gemeingut, Sprichwörter Weisheiten, alles gehörte allen, alle sagten dasselbe, weil es nicht dasselbe war. Jetzt ist jeder Gedanke nur ein Fingerabdruck, gilt nur noch für den, der ihn äußert.

*

Warum wirken Aphorismen heute so altväterisch? Weil Individualismus antiquiert ist. Aphorismen sind die Individualisten des prosaischen Ausdrucks. Der Subjektivismus dagegen scheint modern zu sein. Der Subjektivismus ist der Individualismus, der sich seiner Allge-meinverständlichkeit zu schämen begonnen hat.

*

Es gibt keine Wissenschaft, es gibt nur Wissenschaftler.

*

Der wirkliche Tod eines Autors erst gibt seinen Reden von der Vergänglichkeit die Beglaubigung. Vorher nahm man sie nicht ernst. Darum erschüttert einen solch ein Tod mehr als ein anderer, als habe man ihn für einen Simulanten gehalten, obwohl er todkrank war. Aber sind wir nicht alle solche Simulanten?

*

Früher erschlug den Menschen die Geschichte. Heute dividiert sich die Geschichte in jedem Ich zu Null. Ihre Autorität wird zur Autorität des Ich. Jeder ist sich selber Meister und Schüler, ist der neue Atlas, trägt die Welt auf seinem Rücken, aber was er trägt, ist eine Seifenblase.

*

Unsere Verzweiflung vor der Natur. Sie erscheint uns zum Anschauen zu flach, zum Eindringen zu tief. Wir haben vergessen, daß wir Mitspieler sind, nicht außen stehende Betrachter.

*

Der raffinierte Kopf ist wie die Schlange gegen das eigene Gift immun.

*

Die geheime Sehnsucht des Dichters, daß ihm seine Kunst als Tat angerechnet werde.

Der höchste Wunsch des Dichters, sich mit Worten aus der Welt stehlen zu können.

*

Was gedacht ist, nicht zu altern (wie Beton, Plastik usw.) altert häßlich.

*

Heute darf nichts mehr alt werden. Sobald ein Haus schmutzig ist, wird es neu angestrichen, abgerissen oder umgebaut. Die Möbel werden auf den Müll geworfen, als antike Stücke sind sie nicht zu gebrauchen. Und mit dem Verlust der Vergangenheit verlieren wir auch die Gegenwart. Sie ist immer schon vergangen, kaum daß sie geschehen ist. So meint man, weil man die Schnelligkeit des Wandels überschätzt, im Wandel nicht mehr die Wiederkehr erkennen kann. Sie ist leer, unbedeutend, trotz ihrer geleckten Modernität. Deswegen suchen wir die denkmalsgeschützten Städte auf. Aber sie sind zu Museen geworden. Man kann sie kaum genießen aus Furcht, es sei das letzte Mal, daß man sie alt sieht. Man fürchtet sich vor dem Tod, beim letzten Abschied sieht man nicht mehr genau hin. Die Züge lösen sich schon auf, der Genuß wird sträflich. Man ist undankbar aus Scham vor dem Sterbenden.

*

Wird man sich an etwas Zugrundegehendem zu bilden wünschen, statt Mitleid zu haben, statt ihm helfen zu wollen wieder aufzuleben? Wir können uns aber weder bilden, noch das Alternde genießen, weil wir die Weisheit des Todes vergessen haben und auch nicht wieder erlernen wollen.

 

Die Modernität fängt an mit Fontenelles Protest: La mort est un scandale.

*

Ewiger Wechsel schadet der Intimität des Sehens, der Erkenntnis. Mit der Erfindung der Geschwindigkeit entliefen uns die Dinge. Sie sprechen nicht mehr zu mir, auch wenn ich vor ihnen stehen bleibe. Beunruhigen mich auch nicht. Sie haben aufgehört, Rätsel zu sein. Früher standen Bäume, Blumen, Steine da wie die Sphinx, mit dem Anspruch auf Lösung, oder das Leben war verwirkt. Später erlebte ich, daß mir die Natur gleichgültig wurde, vor der ich einst Angst hatte, weil sie mich aus den Angeln hob. Im Zimmer bleiben, erschien damals sicherer, als sich ihr auszusetzen. Am Schreibtisch begegnete einem nichts außer der Sprache. Mit der glaubte ich, könnte man sich gegen die Natur zur Wehr setzen. Dann aber geschah es: auch sie machte sich mausig, bedrohte mich, sprach sich gegen mich aus, versuchte mich an mir selbst, forderte mich heraus, bis ich Angst hatte, sie zu benutzen.

*

Die Poesie eines heruntergekommenen Hauses verdankt man der Armut der Besitzer. Armut, d.h. Unfähigkeit, an Geld zu kommen, aus welchen Gründen auch immer - Alter, Krankheit, Faulheit, Desinteresse -, erzeugt Vergänglichkeit und Poesie. Nur Geld hebt die Zeit auf. Aber eine frischgestrichene Fassade regt zu keinem Gedicht an.

*

Seit ich wieder Bücher lese und nichts mehr über sie, finde ich neue Freude an der Lektüre. Die Literaturwissenschaftler vergessen eine besondere Qualität des Buches: den Fluß, das Kontinuum, den Film des Romans, in dem das Einzelne davongezogen wird wie in einer Symphonie, die einen ja auch nicht verweilen läßt. Ein Roman muß in einem Zuge gelesen werden.

*

Weil man sich nicht zum Ganzen befreit, wird man vom einzelnen unterjocht.

*

Treue kann auch Sich-Festklammern sein, so wie ein Ertrinkender seinen Retter umschlingt und mit sich in die Tiefe zieht.

*

Ist mein Fleisch Fleisch?

*

Der christliche Gott ist der Wille zum Sinn, die antiken Götter sind Erscheinung des Sinns.

*

Gleich-gültigkeit, tat twam asi. Du bist nichts Besseres als dieses Schilfrohr, es ist nichts anderes als Du. Dein Vorzug, über den Unterschied zwischen Dir und dem Schilfrohr nachdenken zu können, Du denkendes Schilfrohr, verleiht Dir keine Überlegenheit. Es ist auch nicht dazu da, daß Du über es nachdenkst.

*

Früher stand die Welt dem Menschen nicht fremd gegenüber. Dem Mikrokosmos des Menschen entsprach die Welt als Makranthropos. Sie redete in Metaphern zu uns. Aber schon seit einiger Zeit sind alle Metaphern zur frommen Lüge erklärt worden, entlarvt als Selbsttäuschungen, Projektionen. Die Welt kann nicht mehr zu uns sprechen, außer wenn wir uns selbst betrügen wollen. Manche Religionen erklären die Welt überhaupt für den größten Betrug

*

68-er Begriffserläuterung: Dem Konsumterror unterliegen, heißt soviel wie ein Lustobjekt zu sein.

*

Im Kommunismus stiehlt alles der Staat. So wird der Satz Eigentum ist Diebstahl umgekehrt.

*

Mancher trägt sein Unglück mit sich herum in Form von Willenlosigkeit, Ideenarmut, Mundfaulheit als Angst vor dem Geschriebenem d.h. vor der Beliebigkeit und Belanglosigkeit aller Worte, alles Persönlichen. Und doch hat jeder nur sich selbst, seine höchst privaten Erinnerungen, Gedanken, Schmerzlichkeiten, die gedeihen wie in einem vernachlässigten Mistbeet. Davon muß er zehren, auch wenn ihm diese Gewächse manchmal nicht schmecken, aber es sind wenigstens seine Produkte und keine Hollandtomaten.

*

Der Dichter kommt einem vor wie der verzweifelte Dummling im Märchen, der einen See mit dem Sieb ausschöpfen soll. Das Sieb ist seine Sprache. Was haften bleibt, sind nur Tropfen. In dem fallenden Tropfen spiegelt sich das Ganze und zerspringt gleich wieder am Boden.

*

Der Geist wehrt sich gegen die Natur und bezieht doch seine Kraft aus ihr.

*

Man liebt und haßt seine Einsamkeit gleichzeitig. Nur als Einsamer, so glaubt man, kann man große Werke schaffen. Aber dann der Gedanke: Das Glück der Einsamkeit ist wie ein Theater mit einem selbst als Schauspieler und Zuschauer. Wer dann nicht an seine Bedeutung, seine Stellvertreterschaft für die Menschheit glaubt, dem wird sein Ich so schattenhaft unwirklich, daß ihm alles Selbsterzeugte nichtig und eitel erscheint.

*

Formulierungen, die so geschliffen sind, daß sie leicht schartig werden.

*

Der Gedanke ist ein Messer. Es darf nur nicht allzu stumpf sein.

*

Denken heißt unbefriedigt sein. Nur Bedürfnisse bringen Erfindungen hervor, erst nachher behauptet man, es sei umgekehrt. Ist erst alles erfunden, jedes Bedürfnis gestillt, dann braucht man nicht mehr zu denken. Das ist das Fatale in der Konsumwelt: das Denken macht das Denken überflüssig. Zum Glück gibt es noch Bedürfnisse, die nie gestillt werden können.

*

Ich kann einem Ding erst wirklich begegnen, wenn ich vergessen habe, in welchen vom Verstand konstruierten Ordnungen es steht. Daher muß der Künstler vergessen können, was er in seiner Schulzeit gelernt hat. Jedes Kunstwerk muß eine erste Begegnung mit der Wirklichkeit sein. Die Erkenntnis ist eine zweite Begegnung, da alles Erkennen Wiedererkennen ist.

*

Hätte es zu Goethes Zeiten Berufseignungspsychologen gegeben, wäre der Wilhelm Meister nicht geschrieben worden.

*

Die Worte der Dichtung sind wie Netze, die man durchs Meer zieht. Der Zweck des Netzeknüpfens liegt im Fang. Was man fängt, war vorher unsichtbar.

*

Der Weise kann nie enttäuscht werden.

*

Der Weise will sich nicht sehen lassen. Wie macht er das? Eine Möglichkeit ist die des durchsichtigen Spiegels, der dem Beobachter sein eigenes Bild zurückwirft, während ihn ein betrachtender Blick trifft.

*

Seitdem Weisheit zum Schimpfwort wurde, verwechselt man Einfachheit mit Dummheit.

*

Wenn man den Leib vergeistigen will, werden die Dinge unheimlich.

*

Jede Wahrheit hat ihre Achillesferse. Auf diese zielt der Aphorismus.

*

Wenn man jemand lachen hört, meint man unwillkürlich, es müsse Gesellschaft um ihn sein. Und man will an ihr teilhaben.

*

Die Zweiheit der Geschlechter fordert das Denken im gleichen Maß heraus, wie sie das Denken negiert. Liebe und Denken schließen sich aus. Erkenntnis ist Zeugung (Baader), das ist die männliche Antwort auf das Problem. Damit wird die Liebe funktionalisiert. Der Körper der Frau, aber auch des Mannes, wird zum Instrument gemacht: es wird bewältigt, überwältigt, was seine eigene Seinsweise hat.

*

Die Impfung ist die Taufe der Zivilisation.

*

Der Reichtum der Natur ist unendlich. Aber wie bei aller Schatzsuche ist es die Grabung, der Schnitt, der Bruch, der an ihn heranführt. Was man von dieser Fülle zu sehen bekommt, ist immer und notwendig Fragment. Dieser Defekt ist der Stempel, den der Mensch der Natur aufdrückt, nicht nur in der Ausbeutung ihrer materiellen Schätze. Homo secans: Der Mensch, das schneidende Wesen. Messer, Schwert, Dolch waren in mythischen Zeiten das wesentliche Attribut des Mannes.

*

Von der Erfindung des Feuermachens bis zur Nukleartechnik gilt Schillers Vers: Wohltätig ist des Feuers Macht, wenn sie der Mensch bezähmt, bewacht. So ist das Messer, die zweite wesentliche Erfindung, nicht nur ein Tötungs- sondern in der Hand des Chirurgen auch ein Heilungsinstrument. Jeder Blick ins Innere, sowohl des Körpers als auch der Seele, bedarf eines Schnittes. Wie weh er tut, hängt von der Kunst, dem Wissen und der Moral dessen ab, der das Messer führt.

*

Der Mensch kann immer nur anschneiden, nie abschneiden. Der selbstgemachte Schnitt, der den Menschen von der Natur trennt, befördert ihn dennoch nicht aus ihr heraus. Der Mensch ist ein Naturwesen, dessen Natur es ist, die Natur zu zerstören, darin gleicht er Viren und Mikroben. Sollte es ihm auch gelingen, die Erde unbewohnbar zu machen, womit er sich zugleich vernichtete, kehrte doch alles wieder zur kosmischen Natur zurück.

*

Wer etwas ironisch reflektiert, ist zeitlich weiter, nimmt Zukunft vorweg. Das ist nicht ohne Gefahr. Der Ironiker verliert auf diese Weise Zeit. Ironie ist auch ein Mittel, schneller vorwärtszukommen, denn sie springt über die Probleme hinweg.

*

Schönheit ist immer das Fremde, Unverständliche. Mütter brauchen nicht schön zu sein, denn man liebt sie und diese Liebe macht auch die häßlichste Mutter schön.

*

Warum genügt einem alle Literatur seit Homer nicht und ist ein anderes Mal mit drei Worten zufrieden?

*

Die Wissenschaft möchte gern eine neutrale Ecke einrichten, wo man sozusagen ins Unreine, Vorläufige denken kann. Aber kein Gedanke läßt sich ungeschehen machen. Man denke an die vergeblichen Versuche, das Wissen um die Herstellung der Atombombe zu verheimlichen. Das geht so wenig, wie es möglich ist, die Kunst sich für eine Zeitlang abklären zu lassen, z.B. in der Architektur statt Bauten nur Unterkünfte herzustellen, wie manche Kulturkritiker propagierten, bis wieder der Stil sein Haupt erheben könne. Keine Form ist neutral, sie wirkt durch ihre bloße Existenz. Man kann, in einem Betonsilo eingepfercht, keine großen Gedanken mehr hegen. Das Vorläufige wird dann zum Immerwährenden, zu einem Gefängnis, aus dem kein Ausbruch mehr gelingt.

*

Cogito ergo sum. Tot capitae quot sententiae. Von Diktatoren übersetzt: Ich bin gegen das Denken. Köpfe tot, Sinne tot.

*

Er bemaß seinen Appetit nicht nach der Größe der Brote, sondern nach ihrer Anzahl.

*

Wenn das physische Experiment ein Frage des Geistes an die Materie ist, so muß die Frage an den geistigen Kosmos ein Experiment moralischer Natur sein. Pascal: Das Argument der Wette, de Sade, Nietzsche.

*

Solange man den Genuß, den man beim Lesen anderer Autoren empfindet, auch beim eigenen Schreiben hervorzurufen sucht, hat man seinen Stil nicht gefunden.

*

Bei der Begegnung mit dem anderen Geschlecht bedarf es der gleichen Konzentration, mit der man zum Tennisspiel geht. Ohne Spannung geht auch der Sinn des Liebesspiels verloren. Das Problem aller Ehen.

*

Die Angst, etwas Triviales zu sagen, ist manchmal größer als der Mut zur Wahrheit.

*

Es gibt eine Flüchtigkeit aus Fülle: mancher hat so viel zu sagen, daß er die Ausführlichkeit scheut und sich eine Art Kurzschrift des Gedankens angewöhnt. Es gibt aber auch eine Flüchtigkeit, mit der man in die Leere zurückwill: der Gedanke verdampft, wird Wolke und löst sich im Blauen auf. Nirwana.

*

Hakenkunde: Mit dem Geist Haken herstellen. Das Hakengespräch. Sich vorsichtig enthaken, ist schwerer, als verhakte Dinge durch Abreißen voneinander zu trennen. Verschiedene Hakenarten: der inquisitorische Haken, der moralische Haken, der ironische Haken, der verschrobene Haken (eher ein Hakenkaktus). Die Sinnlichkeit ist auch ein Haken für den Geist.

*

Unser Dichtergeist: wie das Bewußtsein die vorübergleitenden Phänomene zu einer Bühne verwandelt, erregend für mich als Zuschauer, interessant für mich als Regisseur. Ein Mädchen geht vorbei: eine Darstellerin meiner Begierde, Melancholie, Unstetigkeit. Aber was ist sie wirklich: eine Spielleiterin, die ihre Umgebung zu Puppen auf ihrer Bühne macht, Darstellern ihrer Wünsche, ihres erhofften Glücks. - Masken spielen für Masken.

*

Der Schlag ins Gesicht ist eine geistigere Form des Angriffs als der Schlag gegen Brust und Bauch. Erst die Wut betrachtet den anderen ganz als Körper.

*

Unrecht ist die objektive Wurzel des Nihilismus, Verzweiflung seine subjektive.

*

Erfinder neuer Vergnügen: müßte deutsches Staatsexamen machen. Mögliche Themen für die Hausarbeit: Die Lust der Schwermut, die Lust des Selbstmitleids, die Lust an der Selbstkritik, die Lust am Unglück des Menschen, die Lust an der Apokalypse u.a.

*

Unser Traum-Ich überlebt uns. Wir leben in unserem Traum weiter. Dieser Traum ist die Welt.

*

Zur einen Wahrheit führen viele Wege, zu meiner Wahrheit aber nur ein einziger.

*

Wie leicht gewöhnt man sich an das Ungewöhnliche, Unglaubliche, so daß es bald wie das Selbstverständlichste aussieht. Daß man sich z.B. auf ein Tier setzt, um sich von ihm befördern zu lassen. Voraussetzung ist, daß das Tier sich das gefallen läßt. Indem es sich domptieren läßt, leistet es der Selbstverständlichkeit Vorschub. Das Selbstverständliche scheint also ein Merkmal unserer Naturbeherrschung zu sein. Wenn alles so funktioniert wie ein williges Tier oder wie eine Maschine, ist es nicht mehr ungewöhnlich. Der Wille, sich nicht beherrschen zu lassen, ist folglich der Grund für alle Wunder. Oder: Das Wunder ist das Unbeherrschbare.

 

*

Vor dem konzentrischen Angriff, der von allen Institutionen der Moderne wie Wissenschaft, Technik, Verwaltung usw. auf die Individualität ausgeführt wird, kann man sich nur in die Erde oder in den Himmel flüchten.

*

Das Individuum wird auch von seinen Rücksichten geschädigt. Was es anderen ersparen zu müssen glaubt, schneidet es an sich selbst ab. Askese kann Selbst-Verstümmelung werden. Das ist kein schöner Anblick und aus diesem Grunde auch unsozial.

*

Selbstgefühl und -vertrauen sind immer dem Trotz zu verdanken, eine Art credo quia absurdum oder ein artesischer Brunnen mitten in der Wüste.

*

Das Individuum hat heute keinerlei Rechte. In unserer Gesellschaft hat es überhaupt nie recht, aber es kann nur existieren, wenn es den Drang, sich ständig rechtfertigen zu müssen, überwunden hat.

*

Wäre man allein auf der Welt, dann wäre man ein Wunder, so wie Adam ein Wunder war. Um jetzt ein Wunder zu sein, muß man sich also einbilden, man sei ganz einsam und allein, mit all der Verantwortung, die ein Wunder hat, unvergleichlich, einmalig, spontan, ursachlos zu sein.

*

Gaston Bachelard rühmt die Einsamkeit. Ein Sakrileg für unsere Sozialmoralisten. Ihr Anathema gegen die Einbildungskraft erstreckt sich auch auf die Einsamkeit. Aber sie ist die Voraussetzung für alle Abenteuer des Geistes. Teamwork läßt keine Bilder entstehen. Bilder sind Erzeugnisse der einzelnen Seele. Die Imagination nimmt die ideale Welt vorweg, die wirklicher ist, als die reale, an der das Kollektiv arbeitet.

*

Die Literaturwissenschaftler buchstabieren an Texten, weil ihre Sprachkraft ihrer Einsicht nicht angemessen ist. Ihre Einsicht mag groß sein, aber mit ihrer Sprache bringen sie den tiefsten, begeisterndsten Text ums Leben. Am Ende auch für sich selbst. Literaturwissenschaftler sind oft Leute, die sich an der Dichtung dafür rächen, daß sie selbst nicht den Mut haben zu schreiben. Eine Art geistiger Selbstmord durch Geist.

*

Manche Bücher sind wie trojanische Pferde. Man nimmt sie als Geschenk an und dann erobern sie einen. Im trojanischen Pferd saßen keine Menschenfreunde.

*

Wenn man einen großen Schriftsteller liest, erhellt sich die Welt mittelbar für uns. Für die kurze Zeit in der der Atem seiner Sprache noch in uns lebendig ist, sind wir belebt, geformt, gerichtet. Bald aber geben Boden und Wände dieser Welt nach. Alles öffnet sich wieder ins Grund- und Qualitätslose, wir trauern noch ein wenig über den Verlust an Klarheit in uns, bald aber deuten wir diese Mißstimmung als kritische Aufmerksamkeit auf Fehler des Werkes, beginnen seinen Wert zu analysieren und alles wird wieder dunkel. So dunkel, wie sich jedes Individuum ist, bevor es anfängt, für sich selbst zu denken.

*

Bücher sind das Gedächtnis der Menschheit! Aber was gehen mich die Erinnerungen von Herrn X an, ich mache meine eigenen! Genau genommen ist aber alles, was ich denke, wieder aus Büchern zusammengelesen. Von den Werken des Herrn X nehme ich das gleiche an. Wir sind Produkte, Teile des Gedächtnisses der Menschheit, sie denkt in mir und macht durch mich ein neues Buch. Unsere Bücher überleben uns und wohl auch die Menschheit. Dann sind sie nur noch Andenken auf dem Kaminsims des Weltgeistes.

*

Was kann ein Autor fiktionaler Literatur geben, was ein Wissenschaftler nicht mit wesentlich besseren Mitteln, d.h. mit einem umfänglicheren und genaueren Apparat von Begriffen, Informationen, Daten, Hintergrundwissen liefern könnte? Was den Dichter rechtfertigt, ist nur das schwache Argument, daß das, was er schreibt, erlebt und daß es sein Erlebnis war. Aber die meisten Erlebnisse entstammen auch wieder Büchern. Sind sie deswegen weniger authentisch?

*

Jeder, der etwas hervorbringt, wird heimlich beneidet, weniger um die Qualität des erzeugten Werkes als um den Mut, mit dem er seinem Zeugungstrieb nachgab. Einer vorher nicht existierenden Sache zum Dasein zu verhelfen, hat in den Augen der kontrollierenden Gesellschaft immer etwas Obszönes an sich.

*

Wenn man sich schon wiederholt, darf man sich nicht um den Genuß der Kraftersparnis bringen, indem man sich der Wiederholung bewußt wird. Dann schämt man sich seiner Trägheit und sucht nach einer Methode, der Wiederholung zu entgehen. Das gelingt merkwürdigerweise gerade durch Arbeit als der bewußten Öffnung zum Unbewußten. Im Anstechen dieser Quelle finden wir plötzlich die Oase in der Wüste des Immergleichen. Vielleicht kann man so das anstößige Wort von Menzel verstehen: Genie ist Fleiß.

*

Man litt einmal am Tod der leitenden Ideen, wie man am Verlust der Leidenschaften leidet. Alles schien gleichgültig zu werden und nun schmerzte diese Indifferenz den tieferen Ansprüchen gegenüber. Ideen waren wie Gifte, die das Leben stimulierten, aber bei Überdosierung auch töten konnten. Das nahm man als gegeben hin, denn Leidenschaft und Tod sind Geschwister. Dann trat an die Stelle der Idee die Idee der Kritik, d.h. der Kritik in Permanenz. Kritik ist die dynamisierte Idee, die Idee auf dem Wege, die Wahrheit als Wahrhaftigkeit. Aber damit wurde die Idee erst recht virulent, machte tabula rasa, auch mit sich selbst.

*

Unser bewußtloses Leben, glauben wir, existiert nicht, ist unnütz, sinnlos, verloren, wenn es nicht bewußt gemacht wird. Aber wer garantiert uns, daß damit etwas gewonnen ist? Schließlich bleibt nur der Glaube an den Nutzen unserer Bewußtheit, unser einziger, unsterblicher Glaube heute, den man früher Glaube an Gott nannte, den Stellvertreter, Garanten und Rechtfertiger aller Bewußtheit. Gott wurde als oberster Denker definiert.

*

Wenn wir nicht zu schlafen brauchten, wären wir Götter. Ohne Schlaf wäre unendlicher Fortschritt im Geist möglich, ewiges Leben im klarsten Licht des Bewußtseins. Aber im Schlaf versinkt der Geist im Vergessen, wird in den Ring der Unterschiedslosigkeit zurückgeführt und muß beim Erwachen alles ab ovo noch einmal beginnen. Der Schlaf ist der kleine Tod, der den großen präludiert, sagen die Alten. Nachts stirbt der Geist in der Umarmung der Weltseele, der Mutter aller Dinge.

*

Denken ist zentrifugal, Gefühl zentripetal.

*

Carpe diem! Ich habe vor lauter Angst, das Leben zu verlieren, d.h. es nicht zu leben, nicht gelebt. Da es sowieso vorübergeht, ist es gleichgültig, ob man etwas tut oder nicht. Ihm subjektiv einen Sinn zu verleihen, den es objektiv nicht hat, ist Selbstbetrug, also kann man das auch lassen. Die feinere Art, die Absurdität erträglich zu machen, besteht darin, von der Sinnlosigkeit ständig zu reden, damit man wenigstens etwas vorweisen kann. Das gleicht der Tätigkeit des Hamsters im Laufrad, er rennt auf der Stelle und bildet sich doch ein, vorwärtszukommen.

*

Wir sterben trotz aller schönen Worte. Unsere Bücher wappnen uns nicht gegen die Vernichtung, und endlich verfallen auch die Bibliotheken dem Staub. Wir haben den Glauben daran verloren, daß unsere Worte den nach uns Kommenden noch etwas sagen können. Warum schreiben wir dennoch? Weil uns Schreiben am Leben erhält. Schreiben ist die einzige Art produktiver Moral, die uns noch geblieben ist, aber auch die egoistischste. Sie hilft nicht durch ihren Inhalt, sondern nur durch ihre Aktion, als Beispiel für die Art des Abendländers, sich die Langeweile zu vertreiben.

*

Der Tod verstört die Psyche vom Rand her, nicht von der Mitte. Er hält die dauernde Expansion auf, in der wir sonst begriffen wären. Mir macht er es zum Beispiel unmöglich, etwas Neues zu beginnen, wenn jemand gestorben ist, an dem mir lag. Ich fühle mich dann wie gelähmt, zum Nichtstun verurteilt, einarmig, verkrüppelt. Aber das Zentrum ist nicht angetastet. Nach und nach wächst der abgebrochene Zweig nach, aber der nächste Schlag reduziert mich wieder. So wird der Mensch im Kampf gegen den Tod auf sein Maß zurückgeführt. Seine Grenze ist da, wo der Tod ist. Er beschneidet uns wie der Gärtner eine wuchernde Hecke.

*

Die Rakete fährt auf zur Vernichtung der Sterne. Sie ist das einzige Denkmal der Anstrengung der modernen Menschheit, das sich in seiner Größe mit der gotischen Kathedrale messen kann. Sie ist der abgeschossene Domturm.

*

Im Kaufhof stand in einer einsamen Ecke ein weißgekleideter Angestellter, der einem nichtvorhandenen Publikum unermüdlich lautstark einen Vortrag über die Vorzüge eines Schaumschlägers hielt. Mit dem lächerlichen Ding in der Hand redete er gegen den leeren Raum an. Das Schlimmste war, daß niemand das Entwürdigende daran zu bemerken schien. Selbst höhnisches Lachen wäre noch menschlicher gewesen, als die Selbstverständlichkeit, mit der alle hinnahmen, daß, wer das Geld bezahlt, auch Absurdes fordern kann.

You have finished the free preview. Would you like to read more?