Tod im ewigen Eis

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„Ich werde nicht wirklich sterben. Ich fliege zu den Göttern. Der weiße Schwan wird sich um mich kümmern.“ Sie deutete mit schwacher Hand zum Himmel. „Dort oben werde ich weiter leben, von da aus werde ich auf Dich aufpassen. Lass mich hier liegen, hier ist ein schöner Platz. Ich kann einen See sehen, auf dem viele weiße Schwäne schwimmen. Kannst Du sie nicht sehen?“

Die ganze Zeit war Gilger neben seiner Mutter gesessen, innerlich hatte er sich wie ausgetrocknet gefühlt. Vor lauter Müdigkeit musste er eingeschlafen sein – als eine Berührung ihn plötzlich aufschreckte. Er hatte im Schlaf die Hand ausgestreckt und den kalten Körper seiner Mutter berührt, ihm war als würde ein Messer mitten in seine Brust gestochen. Unfähig sich zu rühren, blieb er lange neben seiner toten Mutter liegen. Erst spät stahl sich eine Träne aus seinem Auge, dann aber setzte eine ganze Tränenflut ein.

Gilger war jetzt alleine. In ihr Dorf konnte er nicht zurückkehren. Und auch nicht in andere Siedlungen der Aschkanen. Die würden ihn in sein altes Dorf bringen, wo ihn der sichere Tod erwartete. Jetzt erst recht, nachdem sie geflüchtet waren und es so aussah, als habe er in der Tat auf Maluga mit einem Pfeil geschossen und sie fast umgebracht.

Eine große Leichenfeier konnte er für seine Mutter nicht organisieren, niemand würde zu ihrem Begräbnis kommen. Schweren Herzens hob er eine Grube aus und legte die Schwänin hinein, ganz vorsichtig, als wolle er ihr nicht wehtun. Er färbte ihr Gesicht und die Hände mit Okra, der gelben Erde, die sie in einem Säckchen die ganze Flucht über mit sich geschleppt hatte. Gilger zog ihr Schuhe und Mütze an und legte ihr den schönen Fellumhang um.

Noch fehlt etwas, dachte er bei sich. Daheim hätte sie noch allerhand andere Dinge mit ins Grab bekommen, insbesondere Sachen, die sie als Mittlerin oft benützt hatte. Nicht weit entfernt lagen ein paar schöne weiße Federn, ihm dünkte, als ob sich ihr anderes Ich dazu gesellen wollte. Daneben lag ein wunderschöner Stein mit schwarzer Maserung. Als er ihn in die Hand nahm, veränderte er seine Farbe, von einem matten grau über gelbgrün bis tiefgrün.

Einen so schönen lebendig erscheinenden Stein hatte Gilger noch nie gesehen. Das war zweifellos ein Zeichen der Götter, dass sie die Schwänin bei sich aufnehmen wollten. Dankbar nahm Gilger den Stein und legte ihn auf die Brust seiner Mutter. Damm bedeckte er den Leichnam mit frischen Gräsern und schaufelte mit beiden Händen das Grab zu. Auf die Erde steckte er weiße Schwanenfedern, mit denen er einen Kreis als Symbol für die Unendlichkeit bildete.

Gilger trauerte noch drei Tage am Grab seiner Mutter. Dann erst raffte er sich schweren Herzens auf, um seinen eigenen Weg zu suchen. Er wanderte weiter dem großen Fluss entlang, bog in ein hübsches Seitental ein, wo er einem munter rauschenden Flüsschen bergwärts folgte. Aus der Ferne beobachtete er ein paar Mädchen, die volle Körbe mit leckeren Beeren nach Hause trugen. Er folgte ihnen, ohne sich ihnen zu zeigen. Ihm schien es sicherer, abzuwarten und weitere Erkundungen zu machen. Die Menschen in der nahe gelegenen Siedlung schienen friedlich zu sein, nachts hörte er sie von Weitem singen.

Am nächsten Morgen verließen die Mädchen erneut ihr Dorf. Wieder hatten sie ihre Körbe dabei. Gilgers Herz klopfte bis zum Hals. Er musste seinen ganzen Mut zusammennehmen, um auf die Mädchen zuzugehen und sie anzusprechen. Stotternd erzählte er, dass er von weit her komme, seit vielen Tagen schon unterwegs sei. Er wolle sich die Welt anschauen, Neues erkunden.

„Dann komm doch einfach mit uns“, sagten die Mädchen. „In der Zwischenzeit kannst Du uns ja beim Beerensammeln helfen“, antworteten sie kichernd. Mit vollen Körben kehrten sie gegen Nachmittag ins Dorf zurück, vorbei an großen abgeernteten Getreidefeldern. Dabei fiel ihm auf, dass eine von ihnen einen schönen grün schimmernden Schmuck an ihrem Halsband trug. Einen Stein, wie er ihn erst vor Kurzem gefunden und seiner Mutter ins Grab gelegt hatte.

Im Dorf wurde kein großes Aufheben um den Neuankömmling gemacht. Offenbar waren die Dorfbewohner an Fremde gewöhnt. „Suchst Du auch Arbeit in der Mine?“ wurde er mehrfach gefragt. Wobei Gilger dann jedes Mal ein unbestimmtes „Ja“ brummte. Denn er wusste nicht, was darunter zu verstehen ist, wollte seine Unwissenheit aber nicht zugeben. Ihn erstaunten die riesigen Felder, die in keinem Verhältnis zur Größe des Dorfes standen. So viel konnten die Menschen hier auf keinen Fall selbst verzehren.

In sein Auge stachen die hübschen Mädchen und Frauen, von denen sich einige mit den schönen grünen Steinen geschmückt hatten. Andererseits sah er nur wenige Männer. Er fragte das Mädchen, das er als erstes mit dem grün schimmernden Halsschmuck gesehen hatte, nach der Herkunft dieser schimmernden Schmuckstücke.

„Sie sind alle von der Mine. Unsere Männer bringen sie manchmal mit; wenn sie uns eine besondere Freude machen wollen“.

„Oder wenn sie eine ganz besondere Freude von uns erwarten…“ kicherte ihre Freundin. „Hast Du denn keinen mitgebracht?“ fragte sie ihn, in dem sie ihn schelmisch ansah und dabei leicht mit ihren Hüften kreiste. „Die Mine, wo ist denn die?“ stammelte Gilger, dem plötzlich die Röte ins Gesicht stieg.

IV

Am Morgen nach dem Fest regnete es in Strömen, heftige Windböen schlugen Äste und Zweige umher, ein kalter Wind pfiff in Öcetims Lager und weckte ihn unsanft. Öcetim kauerte sich eng in seinen Umhang, am liebsten wäre er bei dem scheußlichen Wetter liegen geblieben; zumal sein Schädel brummte und ihm nicht wohl war. Doch er hatte sich mit Celso verabredet – und mit dem Kahlköpfigen schien nicht zu spaßen zu sein. Schon früh am Morgen wollten sie aufbrechen. Celso, er und noch ein paar Jungen in seinem Alter, hatte Celso gesagt. Missgelaunt und nur notdürftig gewaschen zog er über seine Felljacke einen aus Schilfgras selbst gefertigten Umhang, der ihn gegen Wind und Regen schützte.

Mit geringer Verspätung kam Öcetim zum ausgemachten Treffpunkt. Verlassen lag die Siedlung da, kein Mensch war zu sehen, nur aus den Hütten quoll Rauch, die Leute zogen es offensichtlich vor, ihren Rausch auszuschlafen. Öcetim überlegte, ob er nicht zurück zu seinem Lagerplatz gehen sollte. Sollte er wirklich tagelang in solch einem Regen marschieren, sich durch den Matsch quälen, um zu einer Mine zu gelangen, wo ihn eine ungewisse Zukunft erwartete? Was ihm noch vor wenigen Tagen verlockend erschien, ängstigte ihn nun zunehmend. Ihm schien, als wolle ihm der Regengott ein Zeichen geben, dass er nicht zu den Minen gehen solle - zumindest jetzt noch nicht.

Von Zweifeln geplagt wollte Öcetim schon dem Wink des Wettergottes folgen und seine Schritte zurück zu seinem einfachen Lager wenden, als Celso mit zwei jungen Männern um die Ecke bog. „Einer ist wohl abgehauen, ein Hasenfuß, der die neue Welt nicht erleben will. Den Feigling werde ich mir bei nächster Gelegenheit vorknöpfen, zumal er mir noch zwei Hände voll Rad schuldet“, brummte Celso mit drohendem Unterton, während seine Hände einem imaginären Burschen den Hals umzudrehen schienen. „Wir gehen. Der Hinkende dort ist Gilger und der dort heißt Hirgelo, der Andere nennt sich Öcetim, und wenn einer umkehren will, dann schlag ich ihm den Schädel ein! Jetzt aber los! Dass mir ja keiner schlapp macht, in der Mine werdet ihr schon erwartet.“

Schweigend stapften Celso und die drei jungen Burschen im Gänsemarsch durch den Wald. Vereinzelt war ein Ächzen und ein Stöhnen zu hören, als wollten die Waldgeister ihr Mitleid mit dem kleinen, von Wind und Regen zerzausten Trupp ausdrücken. Kein Wild war zu sehen, die Tiere hatten einen trockenen Unterschlupf gesucht. Der Regen peitschte ihnen ins Gesicht, das Wasser rann unter ihren Kleidern kalt am Körper herunter. Mit hohem Tempo lief Celso voraus, blickte aber immer wieder zurück, um sich zu vergewissern, dass auch alle mitkamen und keiner sich verdrückte.

Das Sonnenlicht war schon verschwunden, als sie spätabends unter einem Felsüberhang Schutz vor dem nicht nachlassenden Regen suchten. Vom langen und anstrengenden Marsch erschöpft, ließen sich die drei jungen Burschen auf ein trockenes Fleckchen Erde fallen. Auch Celso gesellte sich zu ihnen. „Habt Ihr auch Proviant dabei?“ fragte er die Jungen und zog eine Hammelkeule aus seinem Beutel. „Wenn nicht, dann müsst Ihr Euch was besorgen, Jagdwaffen habt Ihr ja.“

Die nächsten beiden Tage regnete es ununterbrochen weiter. Die Rastpausen waren ähnlich ungemütlich wie die erste, doch fanden sie immer ein einigermaßen trockenes Plätzchen zum Schlafen und ein paar kleine Tiere und Wurzeln, aus denen sie ein Abendessen zubereiten konnten. Während dieses dreitägigen anstrengenden Marsches lernten sich die drei jungen Männer kennen. Ihren Führer Celso hatten sie alle auf dieselbe Weise kennen gelernt. Alle hatte er trickreich genötigt, mit ihm zu kommen, um in der Mine zu arbeiten. Keiner hatte bisher von einer Mine gehört. Die neue Art der Arbeit und die seltsamen Steine, die aus der Erde gefördert werden mussten, interessierten sie und regten ihre Phantasie an. Wenn sie Celso danach fragten, brummte der nur unverständliche Worte und wies sie darauf hin, dass sie schlafen und ihre Kräfte schonen sollten.

Am letzten Tag ihres Marsches hatte endlich der Regen aufgehört, der Wald dampfte vor Feuchtigkeit und es schien, als wollten die Vögel um die Wette singen. Die Sonne wärmte die Körper der noch Schlaftrunkenen, die sich nach der Nässe und Kälte wie neugeboren fühlten. Nur mit ihren Lendenschürzen bekleidet sprangen sie wie kleine Kinder auf einer Waldlichtung umher und erfrischten sich in einem klaren See. Celso knurrte und schimpfte wegen dieses jugendlichen Übermuts und mahnte zur Eile. Nach einem Frühstück mit gebratenen Wachteln und einem Stück Fladenbrot, das Celso jetzt großzügig mit den drei jungen Männern teilte, zogen sie wieder los.

 

In der Ferne war ein Hügel erkennbar, er sah irgendwie seltsam aus, auch die Landschaft hatte sich verändert. An manchen Stellen wuchsen die Bäume nur zu geringer Höhe, als ob der Boden sie schlecht ernährte.

Ihr Weg führte stetig bergauf, oben gab es keinen Wald mehr, der war komplett abgeholzt worden. In der Ferne waren einige Feuer zu erkennen, wuchtige Schläge waren zu hören und Öcetim nahm einen schwefeligen Geruch wahr. Gelegentlich trafen sie auf Menschen, die ihnen einzeln oder in Gruppen entgegen kamen. Sie wechselten mit Celso ein paar Grußworte, die drei Jungs sahen sie mit einem Ausdruck des Bedauerns an, sagten zu ihnen aber kein Wort. Manchmal überholten sie Frauen, die Fladenbrot und in irdenen Krügen Pastosaako trugen; einmal auch einen Jungen, der vier Ziegen bergauf trieb.

Bestimmt waren diese Nahrungsmittel für die Mineure, die im oder am Berg arbeiteten und deshalb keine Zeit hatten, sich um ihr Essen zu kümmern. Das würde ihnen von der „Leitung“ gestellt, fühlte sich Celso auf ihre Fragen genötigt zu sagen. Gegen Mittag des vierten Tages traf der kleine Trupp auf einem Sammelplatz ein.

Überall wurde in der Erde gegraben, gebuddelt und Steine aus der Erde geschleppt, ohne Rücksicht auf die Erdgöttin. Die Haut der Mutter Erde war übersät mit Kratern, wie offene Wunden sahen die Gruben aus. Außerdem standen an kleinen Rinnsalen sowohl alte und kaputte, aber auch neue Öfen aus Steinen und Lehm, in einigen brannte Feuer, stinkender Rauch stieg in den blauen Himmel empor.

Ein dicker, wichtig dreinblickender Mann kam auf sie zu, begrüßte Celso mit Handschlag und warf prüfende Blicke auf Öcetim, Gilger und Hirgelo. „Mehr als diese drei Hänflinge hast Du nicht mitgebracht? Wir hätten mehr gebrauchen können. Na ja, sie werden dann eben doppelt arbeiten müssen“, meinte der Dicke.

„Mein verehrter Marabeo“, entgegnete ihm Celso, „sie werden doppelt arbeiten, ihr müsst sie nur richtig anfassen.“

Marabeo rief einen seiner Helfer herbei, damit er sich um die drei Jungen kümmere. Er selbst ging mit Celso beiseite und sie tuschelten geheimnisvoll. Dabei schielte Celso unablässig auf Marabeos Gürtel, an dem ein großer lederner Beutel hing, dessen Inhalt bei jedem seiner Schritte dumpf und hart schepperte. Marabeo hatte einen rötlich glänzenden Dolch in seinem Gürtel stecken, einen Dolch, der ganz sicher nicht aus Feuerstein gefertigt war. ʼOb so das Kupfer aussieht, das hier in der Mine gefördert wird?ʼ fragte sich Öcetim im Stillen.

Marabeos Helfer stellte sich ihnen als Wurkaz vor, er war Marabeos rechte Hand. Er bat sie Platz zu nehmen und bot ihnen Pastosaako, Fleisch und Fladenbrot an. Ausgehungert vom langen Marsch machten sich die drei Jungen über das Essen her und bestürmten Wurkaz mit Fragen. Der blickte sie nur griesgrämig an, antwortete aber nicht. Stattdessen deute er auf eine alte und windschiefe Hütte und meinte, dass sie dort würden schlafen können. Morgen bei Sonnenaufgang sollten sie sich genau hier an dieser Stelle einfinden. Er oder ein Wächter wären tags und nachts unterwegs, um nach dem Rechten zu schauen. „Nicht dass hier noch was verloren geht….“, erklärte er ihnen mit bösem Grinsen.


Die drei Jungs schauten sich unschlüssig an, schulterzuckend brachten sie ihr weniges Gepäck in die vor Dreck starrende Hütte. Nachdem sie den Unrat aus der Hütte geschafft und das Ungeziefer vertrieben hatten, streiften sie ziellos auf der Bergkuppe umher. Überall waren geschäftige Menschen zu sehen, viele Männer, einige Jugendliche in ihrem Alter, jedoch nur wenige Frauen. Auffallend waren die vielen Kinder, die aber nicht spielten, sondern arbeiteten und auch keinen fröhlichen Eindruck machten.

Am nächsten Morgen wurden Gilger, Öcetim und Hirgelo verschiedenen erfahrenen Arbeitern zugeteilt und erhielten knappe Unterweisungen über die zu erledigenden Tätigkeiten. Den Anweisungen ihrer Vorgesetzten hatten sie unbedingt Folge zu leisten. Wurkaz stellte ihnen das recht drastisch dar, in dem er auf einen Pfahl deutete. „Arbeitsverweigerer werden dort angebunden. Sie bekommen nichts zu essen und zu trinken, nur etwas Honig, aber der ist nicht für die Elenden gedacht. Er wird ihnen auf die Haut geschmiert und lockt die Insekten an, die an den Gefesselten hochkrabbeln, um den Honig zu fressen. Ihr seid doch ganz erpicht hier zu arbeiten, oder nicht?“ Dabei blickte er jedem fest in die Augen. „Jedenfalls hat es Celso so Marabeo berichtet, bevor er für seine Vermittlungsdienste von ihm entlohnt wurde. Diese Rad schuldet ihr jetzt uns, die habt ihr hier abzuarbeiten! “

Niedergeschlagen gingen Öcetim und Gilger mit dem ihnen zugewiesenen Mann zu einer Stelle, wo keine Bäume wuchsen und auch das wenige Gras nicht gesund aussah, nur Moose und Flechten konnten sich auf diesem kargen Boden behaupten. Der steinige Boden war von rotbraunen Streifen durchzogen.

„Hier liegt das Erz verborgen. Wenn es Kupfer enthält, wächst fast nichts mehr. Das ist gut für uns, denn dann müssen wir nicht tief graben, sondern es einfach nur freihacken“, sagte ihnen ihr Meister, der sich Golgor nannte. Er war von kräftiger Statur, hatte einen langen Bart und trug eine Mütze auf dem Kopf. Sie war aus kleinen Kaninchenfellen zusammen genäht und wurde mit einem Lederriemen um das Kinn gebunden.

„Gestern hatte ich auf diesem Stück ein Feuer gemacht, hier am Rand sieht man noch das verbrannte Moos. Die Hitze mag der Fels nicht, er erschrickt, wenn anschließend kaltes Wasser darauf gegossen wird und bekommt dann feine Risse. Dann lässt es sich für uns leichter arbeiten, hier könnt ihr das sehen.“ Golgor fuhr mit seinem Finger den zarten Rissen im Fels nach. „Hier ist der Stein schon gesprungen. Nehmt diese Schlägel, und immer feste auf den rotbraunen Streifen schlagen, bis sich handliche Steine herauslösen.“

Golgor drückte jedem von ihnen eine Astgabel aus Eichenholz in die Hand, auf deren kürzerem Ende ein gut faustgroßer Serpentinstein mit Lederriemen festgebunden war. Er wies sie an, gut auf diese besonders harten Steine zu achten, weil diese nur auf den höchsten Berggipfeln gefunden werden und deshalb sehr wertvoll waren.

Mit aller Kraft hauten Öcetim und Gilger auf den rotbraunen Fels, Schweiß rann ihnen vom Körper herab, doch trotz ihrer Anstrengungen sprangen nur kleine Splitter ab. Als Öcetim gerade wieder kräftig auf das Gestein schlug, löste sich der Serpentinstein aus seiner ledernen Verbindung mit der Astgabel und fiel direkt auf seinen Fuß. Öcetim schrie auf, fasste instinktiv an die Stelle, wo der Stein seinen Fuß getroffen hatte. Es tat höllisch weh. Öcetim wurde blass, vor Schmerzen wurde ihm schwindlig und er musste sich auf den steinigen Boden setzen.

Gilger rannte zu ihm so schnell er mit seinem behinderten Bein nur konnte. Er nahm Öcetims Fuß in beide Hände, um ihn genau zu untersuchen, die Haut war geschürft und blutig. Gilger drückte auf den Knochen, der blieb fest, verschob sich nicht. „Nur eine Schürfung, kein Knochenbruch, also nur halb so schlimm“, beruhigte er seinen neuen Freund.

„Ihr müsst Euch Schuhe besorgen. Schaut her“, sagte Golgor und zeigte ihnen seine Fellschuhe. „Die Sohlen sind aus Bärenleder. Ich habe sie mit Heu ausgestopft, damit Schläge wie der, den Öcetim gerade erhalten hat, abgefedert werden. Am besten besorgt Ihr Euch große Treter, damit ihr sie gut ausfüttern könnt.“

„Wie sollen wir uns jetzt Schuhe machen? Gras oder Heu gäbe es ja, aber wir haben kein Leder.“

„Es gibt schon welches hier oben“, belehrte sie Golgor. „Aber nicht umsonst.“

Mit Gilgers Unterstützung konnte Öcetim zu einem Schuppen humpeln. Marabeo, der auch hier das Kommando hatte, zeigte ihnen große Schuhe, die gut auszustopfen zu waren. „Die könnten passen, probiert sie mal an“, sagte er zu den beiden und fischte zwei Paar Schuhe aus einem hölzernen Kasten. „Sie haben eine Bärenfellsohle, feste Lederriemen und sind sauber gearbeitet. Ich gebe sie Euch für wenig Rad. Einverstanden?“ Öcetim und Gilger setzten sich auf den Boden, nickten zustimmend und zogen die Schuhe an.

Daraufhin nahm Marabeo zwei frische Haselnussstöcke und ritzte ein paar seltsame Kringel hinein. „Das seid Ihr“, bedeutete er ihnen mit Blick auf die Haselnussstöcke, dann schnitt er in das Haselholz ein paar Striche. „Und das ist der Preis für Eure Schuhe“, erklärte er mit wichtiger Miene. „Damit ist alles festgelegt.“ Öcetim und Gilger schauten ihn verständnislos an, wagten aber nicht nachzufragen.

Es war ein angenehmes Gefühl, in den weichen Schuhen auf dem steinigen Boden zu gehen. „Da drüben wächst noch Gras“, sagte Golgor, als sie wieder zu ihm kamen. „Stopft Eure Schuhe damit aus, dann aber mit doppelter Kraft weiter, noch habt ihr keinen einzigen Stein aus diesem Felsband gelöst.“

Öcetim fühlte scharf den Schmerz, achtete aber nicht auf das heftige Stechen in seinem Fuß. Mit voller Kraft hieb er auf den harten Fels, jetzt endlich bröckelte ein kieselgroßes Stück ab und ein großer Riss entstand im rotbrauen Felsen. Auch Gilger hatte einen Riss im rotbraunen Gestein verbreitern können, mit genau platzierten Schlägen gelang es ihnen, die gewünschten faustgroßen Brocken aus dem Stein zu schlagen.

In der Pause gab es gutes und reichliches Essen: Ziegenfleisch, Emmerbrei und Pastosaako. Frisch gestärkt arbeiteten Gilger und der verletzte Öcetim bis zum Einbruch der Dunkelheit weiter, trotz ihrer schmerzenden Körper und den Blasen an ihren Händen fühlten sie sich gut. Sie waren stolz, so viele Steinbrocken aus dem harten Felsen gelöst zu haben.

Am Lagerfeuer auf dem großen Platz hörten sie den Geschichten der erfahrenen Arbeiter zu. Sie erzählten von kleinen Berggeistern, die tief im Inneren der Berge wohnten, von ihrem Herrscher, dem alle Berggeister zu dienen haben und den rauschenden Festen, die dort im Inneren der Berge gefeiert werden. Die Berggeister besitzen jede Menge an gelben, roten, blauen, grünen Steinen. Steine, die sich ganz kalt anfühlen und glänzen und schimmern wie der Mond am Himmel. Wegen dieser Steine gäbe es immer wieder Streit zwischen den Berggeistern, dann stampfe ihr Anführer mit seinem Fuß fest auf den Boden, so dass auch hier oben bei den Menschen die Erde wackelt.

Über all diesen seltsamen Geschichten schliefen Öcetim und Gilger ein. Erst als das Lagerfeuer niedergebrannt und ihnen kalt geworden war, wachten sie wieder auf und schleppten sich müde und mit schmerzenden Gliedern in ihre Hütte, wo sie Hirgelo schon fest schlafend vorfanden. Er hatte sich Heu besorgen können, auf dem er nun weich ruhte. „Morgen holen wir auch Heu“, flüsterte Öcetim, um Hirgelo nicht zu wecken. „Für unsere Schlafplätze und für unsere schönen neuen Schuhe.“

Morgens bei Sonnenaufgang sammelten sich alle Männer und Kinder auf dem großen Platz. Es waren so viele, dass mehrere Hände nicht ausreichten sie zu zählen, sie hatten ganz unterschiedliche Arbeiten zu erledigen.

Öcetim und Gilger hatten wieder Steinbrocken aus dem Felsen zu schlagen, Hirgelo durfte zu den Schmelzöfen. Erst hier wurde das reine Kupfer gewonnen, nicht das mit Eisen und Schwefel und anderen Dingen vermischte, sondern das Kupfer, das so viele Leute heiß begehrten.

Diese Arbeit war interessant und schwierig, denn in den Öfen musste eine ganz bestimmte Temperatur erreicht werden, damit das Kupfer flüssig werden und sich von den Verunreinigungen lösen konnte.

„Hier musst Du ein Loch lassen“, erklärte ihm Golgor. „Hier stecken wir später die Düse hinein, durch die Luft in das Innere des Ofens geblasen wird. Damit das Feuer noch besser brennen und eine große Hitze entwickeln kann. Der Ofen muss ungefähr so hoch werden“, dabei deutete er auf seinen Bauchnabel, „und auch ungefähr so breit.“

Hirgelos Meister ging zu einem Bach, an dessen Ufern sich besonders guter Lehm befand. Er rollte kleine Lehmschlangen daraus und legte diese spiralförmig übereinander, so dass ein kleines Rohr entstand. Als es getrocknet war, band er es an einen Lederbalg und legte es vorsichtig in das von Hirgelo frei gehaltene Loch in den Ofen. Der bestand aus großen, kreisförmig aufeinander geschichteten Steinen, die mit Lehm verbunden wurden. Mit weiteren Lehmbatzen wurde das Loch nun zugeschmiert.

 

Glühende Holzkohle war in den Ofen gelegt worden, dann eine dünne Schicht der zuvor zerkleinerten und in großen Steinbeeten gerösteten erzhaltigen Steine, darauf war wieder eine dicke Schicht mit glühender Holzkohle gelegt worden. Nun hatte Hirgelo unter der Aufsicht seines Meisters den Blasebalg zu bedienen. Er musste sehr gleichmäßig arbeiten, um nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig Luft in den Ofen zu blasen. Eine letzte Schicht Holzkohle wurde oben in den Ofen geschaufelt, dann wurde der Ofen mit großen Steinen und Lehm verschlossen. Vorsichtig und konzentriert drückte Hirgelo auf den Blasebalg, um ausreichend Luft in den Ofen zu bringen und das Feuer immer heißer werden zu lassen.

Golgor hatte sich niedergekniet, schaute einmal auf den Ofen, dann wieder zu Hirgelo und dem Blasebalg. Den Meister schien nichts mehr um sich herum zu interessieren, er hatte nur noch Augen für den Ofen und Hirgelos Blasebalg, dabei bewegten sich seine Lippen unaufhörlich. Hirgelo vermutete, dass er den Gott des Feuers und des Blitzes um seinen Segen bat. Sein Meister tanzte nicht, er hatte auch keine Zaubergetränke oder berauschenden Drogen wie ein Schamane eingenommen. Dennoch war er tief versunken in seiner Andacht, als redete er von Angesicht zu Angesicht mit den Göttern. Dabei war er hellwach und registrierte jede Veränderung des Feuers, das durch die Wand des Ofens flackerte. Durch die oberste schon weit nieder gebrannte Holzkohlenschicht züngelten gelbrote Flammen. Plötzlich veränderten sie ihre Farbe und wechselten ins Grünliche.

Da schien Golgor aus seiner Trance zu erwachen, mit einem Stock stieß er ein Loch in den Ofen, eine schwarze Flüssigkeit quoll heraus. Der Meister nickte zufrieden und wies Hirgelo an, die heißen Ofensteine abzutragen. Er erklärte ihm, dass er zuvor nassen Lehm dick auf seine Hände und Unterarme auftragen solle, um sie gegen die enorme Hitze zu schützen und sich keine Brandverletzungen zuzuziehen.

Stück für Stück kam nun schwarze Schlacke zum Vorschein, die Hirgelo wegzuwerfen hatte, da sie kein Kupfer enthielt. Unten, am Boden des Ofens, lag ein schwarzer Kuchen, an manchen Stellen schimmerte er rot wie Lachs. „Das ist es“, sprach der Meister ehrfurchtsvoll, dabei jedes Wort betonend: „Hier steckt das drin, weshalb sich alle hier so plagen. Kupfer! Woraus sich die schönsten und wertvollsten Dinge machen lassen, die ein Mensch je gesehen hat.“

Die Arbeit in der Mine war hart und sie wurde zunehmend eintönig. „Manche Leute sind an den Öfen eingesetzt und manche arbeiten in den Stollen im Berg drinnen“, sagte eines Tages Öcetim zu Hirgelo und Gilger. „Wir klopfen uns mit unseren Steinschlägel hier draußen bucklig, fast immer müssen wir in gebückter Stellung arbeiten, kein Wunder, dass mich abends der Rücken schmerzt.“

Hirgelo dagegen wurde die Arbeit am Schmelzofen zunehmend langweilig. Er wollte auch in einer Höhle arbeiten, weil da der Wind nicht so kalt wehe und es einfach wärmer sei. Er wurde deshalb bei Wurkaz vorstellig, der ihn von oben bis unten ansah und ihn grob an der Schulter fasste. „Die Kinder, die bisher dort gearbeitet hatten, sind nicht mehr zu gebrauchen, sie sind krank oder auch schon tot, Du kannst sie ersetzen und gleich mit mir kommen.“ Wurkaz sagte dies ohne eine Gefühlsregung, er hatte schon viele Kinder hier kommen und sterben sehen. Sie hatten keine Eltern, niemand wusste genau, woher sie kamen. Manche sagten, Celso habe sie geraubt oder ihren Eltern abgekauft. Aber das kümmerte oben in der Mine niemanden. Die Leute, die in der Mine arbeiteten, waren einfach zu sehr mit sich selbst beschäftigt und abends froh, wenn sie selbst den Tag heil überstanden hatten.

Wurkaz brachte Hirgelo zu Walober, einem untersetzten Mann mit missmutiger Miene, der Hirgelo gleichgültig ansah, seine flache Hand in seinen Rücken drückte und ihn nach vorne in die Höhle stieß. „Da schau und duck Dich, hier rieseln immer mal wieder Steine herunter, manchmal kleinere, manchmal größere. Es wäre gut für Dich, wenn Du Dir eine Mütze besorgen würdest.“

Hirgelo ging zum Schuppen am großen Platz, wo er auch schon seine Schuhe erstanden hatte. Dort traf er aber nicht Marabeo, sondern einen jungen Mann. Seine schwarzen, leicht gelockten Haare hatte er kurz geschnitten, über seinen weit auseinanderstehenden Augen und seiner scharf geschnittenen Nase zogen sich feine Augenbrauen. Sie gaben seinem Gesicht einen weichen, fast weiblichen Anstrich. Sein muskulöser Hals und seine kräftigen Schultern aber erzählten von harter Arbeit. Das Erstaunlichste an ihm war jedoch seine dunkle Haut. Noch nie hatte Hirgelo einen derart dunklen Menschen gesehen.

Der dunkelhäutige junge Mann war erst am Tag zuvor in die Mine gekommen und sprach ihre Sprache nur schleppend. „Ich Namos“, stellte er sich vor. „Ich hier arbeiten jetzt, neu.“ Hirgelo schaute ihn neugierig an, besann sich dann und bedeutete ihm, dass er eine passende Mütze für sich suche. Namos nahm ein paar Mützen von einem Ast am Dach des Schuppens und bat Hirgelo sie anzuprobieren. Der entschied sich für eine größere Zipfelmütze, die er mit Heu auspolstern konnte und somit Schutz gegen herabfallendes Gestein bot. Während Namos ihm den Lederriemen unter dem Kinn festband, ermahnte er ihn, dies nie zu vergessen, wobei er seine Worte durch eindringliche Gesten unterstrich.

Als Namos auch in Hirgelos Haselnussrute ein paar Striche schnitzte, betrat Marabeo den Schuppen, schaute sich Hirgelos neue Kopfbedeckung genau an, prüfte die Haselnussrute mit Hirgelos Zeichen und die jetzt frisch von Namos darauf angebrachten Schnitzereien. „Gut“, brummte er und nickte Namos zu.