Schweizer Bahnen

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Das Rollmaterial: von der Ausland- zur Inlandherstellung

Bis zum Ersten Weltkrieg steigt der Rollmaterialbestand in der Schweiz auf gegen 20000 Güterwagen66 und 5000 Personenwagen67, 1905 gibt es 1331 Dampflokomotiven und bereits 29 elektrische Lokomotiven, ferner 151 Triebwagen68. In den ersten Jahrzehnten importieren die Schweizer Bahnen ihre Wagen und Lokomotiven hauptsächlich aus Deutschland, teilweise aus Frankreich, aus dem Elsass und aus entfernteren Gegenden. In der Schweiz selbst entwickelt sich zaghaft eine eigenständige Herstellung von Rollmaterial. Da gibt es die Werkstätten der grossen Privatbahnkonzerne in Yverdon, Olten, Zürich und Rorschach. Die grösste Privatbahnwerkstatt, Olten, beschäftigt in ihren besten Zeiten über 1000 Leute. Aber auch bestehende Industriebetriebe wie Escher Wyss in Zürich oder Rieter in Winterthur bieten sich für Rollmateriallieferungen an, und neue Firmen wie die «Schweizerische Industriegesellschaft» SIG werden gegründet.

Privatbahnzeit: Vernachlässigter Güter- und Personenwagenbestand

Es ist schwer zu fassen, wie überholt der Wagenpark der Schweizer Bahnen am Ende der Privatbahnzeit ist. Die Gesellschaften haben im Wissen um die baldige Verstaatlichung wenig investiert und spekulieren auf möglichst hohe Ablösungssummen. Rund 680 Güterwagen weisen weder Bremsen noch Bremsleitungen auf. Den grössten Anteil an Wagen machen die gedeckten Güterwagen aus. Als «K»-Wagen bezeichnet sind diejenigen, die sich zum Viehtransport eignen, weil sie sich innen reinigen und desinfizieren lassen; die anderen heissen «J»-Wagen. Die einheitliche Bezeichnung führt nach mehreren Anläufen der schweizerische Wagenverband ein, damit ein rascher Austausch zwischen den Privatbahnen gewährleistet ist. Offene Güterwagen mit Wandhöhen über 60 Zentimeter erhalten die Bezeichnung «L», Niederbordwagen die Bezeichnung «M», Spezial- und Privatwagen die Bezeichnungen «N», «O» und «P»; Untergruppen geben das Ladegewicht und die Ladefläche an. Diese betragen bei den Wagen mit den kürzesten Achsständen von 3,15 Metern weniger als 10 Tonnen Ladegewicht für 20 Quadratmeter Ladefläche.


Zum frühesten und bedeutendsten Rollmaterialhersteller entwickelt sich die Schweizerische Industriegesellschaft in Neuhausen am Rheinfall. Der Katarakt erscheint unterhalb der Bahnbrücke und des Werkes klein.

Slg. H. P. Bärtschi 2003.

Die Personenwagen der Privatbahnen bieten um 1900 110000 Sitzplätze, 85 Prozent in der dritten Klasse. Bei vielen Drittklass-Personenwagen fehlen die Beleuchtung, die Dampfleitungen und an den hölzernen Sitzbänken die Rückenlehnen. Die Federung ist ungenügend, das Laufverhalten lärmig, Aborte gibt es in der Regel nur in Zweit- und Erstklasswagen. Drehgestellwagen mit vier Achsen führen von Anfang an die Basler Centralbahn und die St. Galler VSB ein, das schlechteste Rollmaterial fährt auf der Zürcher Nordostbahn, das beste auf der Gotthardbahn.

Neue Wagen werden in der Regel zur Erweiterung des Rollmaterialbestandes angeschafft und nicht zu dessen Modernisierung. So übernehmen die Schweizerischen Bundesbahnen 1903 96 Prozent aller Personenwagen, die seit 1847 bei den Privatbahnen rollen.

Für den Neubau von Wagen gegründet, entwickelt sich die «Schweizerische Industriegesellschaft» SIG zur ersten bedeutenden Rollmaterialfabrik der Schweiz. 1853 wählen ihre Gründer den Standort in Neuhausen nicht wegen der Aussicht auf den Rheinfall, sondern wegen seiner Wasserkraft. Zusätzlich zu den Kraftwerken von Neher und Moser erstellt sie mit diesen zusammen ein Turbinenhaus am rechten Ufer des Katarakts. Die Kraft wird mittels einer schmiedeisernen Welle ins höher gelegene Werk übertragen. Noch ziehen die Industriepioniere die Nutzung des grossen Wasserreichtums den teureren Dampfmaschinen vor. Die Initiative für den Waggonbau geht vor allem auf Friedrich Peyer im Hof zurück, den Schaffhauser Wirtschaftsmann, Politiker, Mitbegründer der Rheinfallbahn und vorübergehenden Weggefährten von Alfred Escher. Europas Wagen sind zu dieser Zeit fast alle zweiachsig, die amerikanischen vierachsig mit zwei Drehgestellen.69 Die SIG gehört zu den ersten europäischen Fabriken, die ab 1855 Drehgestellwagen verkauft. Der andere Kompetenzbereich ist der Wagenkastenbau, ursprünglich für Güterwagen und für drei verschiedene Klassen von Personen – Drittklass-Passagiere müssen sich mit Hartsitzen begnügen. In den teureren Reiseklassen geniessen die Reisenden einen gewissen Beleuchtungs- und Heizkomfort. Die SIG wird so auch zu einem Pionier in der Lüftungs-, Heizungs- und Klimatechnik und betreibt zusätzlich eine Sattlerei und ein Möbeldesign-Unternehmen. Um 1900 erarbeitet die SIG Verbesserungen für den Reisekomfort und die Verbilligung des Wagenunterhalts. Man baut grössere Fenster, mehr Ablageflächen, Armlehnen, Lüftung und elektrische Heizung für alle Klassen. Nicht genug: Die SIG fabriziert Rollmaterial für den globalen Markt und für alle Wünsche, von speziellen Güterwagen bis zum luxuriösen Pullman-Wagen, vom Tram über Bergbaulokomotiven bis zu Zahnradtriebwagen für den boomenden schweizerischen Bergbahnmarkt.70 Robustheit und Zuverlässigkeit sind Grundwerte der SIG-Produkte. 25000 Schienenfahrzeuge verlassen in den ersten 115 Jahren das Werk über dem Rheinfall, auch nach Übersee.


1876 gelingt der SIG der Bau von doppelstöckigen Vorortbahn-Triebwagen für die Schmalspurbahn «Lausanne—Echallens—Bercher».

Slg. H. P. Bärtschi.


In ihren ersten 115 Jahren liefert die SIG 25000 Fahrzeuge: Seilbahnwagen Harder auf einem SIG-Flachwagen.

Slg. H. P. Bärtschi 2003.

Andere grosse Wagenbauer haben ihren Markteintritt erst um 1900 oder danach, so die «Ateliers des Constructions mécaniques Vevey» ACMV, die «Schweizerische Waggonfabrik» in Schlieren, die «Wagi», und kleinere, die, wie auch die grossen, wieder verschwinden.

Der schweizerische Lokomotivbau

1871 springt Charles Brown Senior nach 20 Jahren Tätigkeit bei Sulzer in Winterthur nach Zwistigkeiten mit der neuen Führungsgeneration ab. Der englische Ingenieur ist 1851 per Head Hunting nach Winterthur gelangt. Die Bank in Winterthur, später zur SBG und dann zur UBS fusioniert, unterstützt Brown bei der Gründung der «Schweizerischen Lokomotiv- und Maschinenfabrik» SLM grosszügig. Den Aufbau der neuen Fabrik unmittelbar auf dem Nachbargrundstück der Maschinenfabrik Sulzer durch den ehemaligen Sulzer-Mitarbeiter empfindet das Winterthurer Bürgertum als Provokation. Es kommt sogar zu Handgreiflichkeiten: Albert Sulzer-Grossmann verabreicht dem Textilindustriellen Bühler eine Ohrfeige, weil er sich in den Verwaltungsrat der SLM wählen lässt. Entscheidend für das Überleben in der 1877 ausbrechenden schweren Krise ist das Durchhaltevermögen. Dies gelingt der SLM mit Bankkrediten und Arbeitsplatzabbau und dank einer innovativen Produktepolitik. Neben dem Bau von Zahnradlokomotiven entwickelt die SLM Sonderbauarten für Werk- und Tramlokomotiven. Von letzteren können 283 Stück geliefert werden, weil man gleich auch den Strassenbahnbau mitfinanziert. Nach 1884 bleibt die SLM in der Schweiz mit wenigen Ausnahmen die einzige Anbieterin von Lokomotiven. Die Wirtschaft beginnt sich von der Krise zu erholen, der Verkehr belebt sich, die unvollendeten Neubaustrecken werden nach zehnjährigem Moratorium vollendet, der Bedarf an Lokomotiven steigt. Den Weg zum Monopolanbieter in der Schweiz bahnt sich die SLM mit einem Angebot verschiedenster Konstruktionen nach englischen, amerikanischen und vor allem deutschen und französischen Vorbildern. Ihre 1884 gegründete elektrotechnische Abteilung allerdings verkauft sie noch vor dem Elektrifizierungsboom 1897 an die Maschinenfabrik Rieter, welche sie an die Maschinenfabrik Oerlikon weiterreicht. Die SLM als «Mechaniker» ist somit bei Bestellungen von elektrischen Triebfahrzeugen von den «Elektrikern» abhängig. Verständlich, dass sie am Bau von Dampflokomotiven festhält, neue Absatzmärkte im Ausland sucht und auch mit grossem Aufwand die neuen technischen Möglichkeiten verfolgt. Beim Bau von Zahnradlokomotiven erlangt die SLM weitgehend das weltweite Monopol – dank der komplexen Antriebssysteme von Roman Abt und «Winterthur». Die SLM erreicht mit gegen 3000 Arbeitern ihren höchsten Beschäftigungsstand.71


In einer Odyssee durch drei Konstruktionswerkstätten entstehen Niklaus Riggenbachs erste Zahnradbahnlokomotiven.

Zeichnung H. P. Bärtschi 2003.


Zur Überbrückung der Krise von 1877 kann die SLM 283 Tramway-Dampflokomotiven liefern. Dampftram Bern.

Foto H. P. Bärtschi 1976.


Die SLM Winterthur erkämpft sich in der Schweiz ein weitgehendes Monopol für den Bau von Lokomotiven und international speziell für den Bau von Zahnradmaschinen. Von insgesamt 6000 gefertigten Lokomotiven wird mit diesem Stahlstich von 1896 die Ablieferung der eintausendsten gefeiert: Werk 1 mit Portal; im Hintergrund mit Werksiedlungen.

 

Slg. H. P. Bärtschi 1896.


Die SLM spezialisiert sich neben Tram- und Bergbahnlokomotiven auch auf Werkloks. Der SLM-Gründer Charles Brown I. entwirft einen Antrieb hoch über den Schienen und zwischen den Achsen: E 2/2 4 von 1900 mit Brown’scher Steuerung im Gusswerk Rondez, 1990 noch kommerziell in Betrieb.

H. P. Bärtschi 1990.

Die Depots und Unterhaltswerkstätten

Neben den grossen fünf Privatbahnen betreiben die vielen kleinen Bahnen eigene Depots zum Einstellen ihrer Fahrzeuge und Werkstätten für deren Unterhalt, Reparatur und teilweise für den Neubau von Bahnfahrzeugen. Auch die kleinsten Werkstätten sind in der Regel mit den meisten gebräuchlichen Werkzeugmaschinen für die Metallbearbeitung ausgerüstet, mit Bohr- und Fräsmaschinen und Drehbänken. Zur Ausstattung gehören meist auch eine Schmiede und eine Kleingiesserei für Achslager oder gar für Bremsklötze. Diese spezialisierten Werkstätten überleben vor allem bei Bahnen mit aussergewöhnlicher Technik: für die Pilatus-Bahn mit dem einzigartigen Zahnradantrieb System Locher lohnen sich der Ausbau und der Neubau von Stahlteilen in Alpnachstad. Die Arth—Rigi-Bahn verlegt ihre 1875 bei Arth erstellte Werkstatt nach der Eröffnung der Gotthardbahn 1884 nach Arth-Goldau und baut dort mit der platzsparenden Einrichtung einer Schiebebühne zum Querverschieben von Rollmaterial ihre Werkstattbereiche laufend aus.72


Jede grosse Privatbahn baut Zentral- und Depotwerkstätten: gedeckte Drehscheibe in der Rotonde Yverdon um 1855.

Foto SBB Kreisarchiv III.


Uniformen fördern den Stolz der Bahnarbeiter: Mütze mit gesticktem Flügelrad, gewobenem Band mit bedrucktem Schweizer-Strahlenkreuz in der Mitte und Kunstlederband mit seitlichen, versilberten Schweizerkreuzknöpfen. Mützenfabrik Hediger St. Gallen o. J.

Slg. H. P. Bärtschi.

Arbeiten für die Bahn: 110-Stunden-Wochen und monatlich anderthalb freie Tage

Sowohl der Bau als auch der Betrieb von Eisenbahnen ist in den ersten 125 Jahren personalintensiv. Insgesamt arbeiten bis zu 60000 Menschen für den Bahnbetrieb und zeitweise über 40000 auf den Bahnbaustellen. Die Zahl der für den öffentlichen Verkehr Arbeitenden sollte sich danach noch verdreifachen.

Arbeiterheere in militärischen Strukturen

Von den Armeen übernommen werden die militärischen Strukturen mit entsprechendem Rapport- und Strafwesen. Die strenge Hierarchie ermöglicht es, den unteren Besoldungskategorien schlechte Löhne und den oberen überdurchschnittlich hohe auszuzahlen – die Lohnschere zwischen Arbeitern und Direktoren beträgt eins zu hundert. Die Beamten und Angestellten haben eine sehr hohe Präsenzzeit einzuhalten, da die Bahnunternehmen mit Ausnahme der Werkstätten nicht dem 1877 eingeführten Fabrikgesetz unterstellt sind.73 Die Sozialleistungen der anonymen Aktiengesellschaften sind unterschiedlich schwach, eine soziale Wohlfahrt wie in vielen familiär geführten Fabrikbetrieben gibt es nur ansatzweise. In der hauptsächlich durch Bahnspekulationen verursachten Wirtschaftskrise werden in den Jahren um 1880 die Löhne stark gekürzt und im wirtschaftlichen Aufschwung der 1890er-Jahre kaum wieder angeglichen. Die zunehmende Unzufriedenheit mit dem Privatbahnsystem und die abnehmenden oder fehlenden Renditen der Bahnunternehmen sind schliesslich die Hauptgründe für die Verstaatlichung der grossen Bahnkonzerne.


Sanktionen dienen den Bahnunternehmen für die Massregelung ihrer Bediensteten. Als «gravierendes Kabinettstück» publiziert die Gewerkschaft vor der Verstaatlichung die zwischen 1884 und 1896 von der Nordostbahn gegen einen Lokführer verhängten Bussen und ihre Gründe.

Schweizerische Eisenbahn-Zeitung 12.4.1901.

Bahnbauarbeiter – am Beispiel des Gotthardtunnelbaus


In der Düsternis des Gotthardtunnelbaus treffen sich die Denkmäler für den Investor Alfred Escher und den spekulativen Tunnelbauunternehmer Louis Favre, der einen Schiessbefehl gegen seine streikenden Arbeiter bezahlt.

H. P. Bärtschi 2016.

Die grösste und langjährigste Bahnbaustelle ist diejenige am Gotthard. Zum Politikum werden das Erschiessen streikender Arbeiter, die mörderischen Arbeits- und elenden Wohnbedingungen; deshalb ist der Gotthardbahnbau besonders gut dokumentiert. Die Bauarbeiten beginnen ein Jahr nach dem Sieg Deutschlands über Frankreich. Der Hauptförderer, Alfred Escher, will beschleunigt bauen lassen. Deshalb bevorzugt er für die Erstellung des Scheiteltunnels vor erfahreneren Unternehmern Louis Favre und seine Versprechen einer kurzen Bauzeit und niedriger Baukosten. Hinter Favre stehen zwar Genfer Investoren, aber seine Referenzen hätten in Frage gestellt werden können. Italiener leisten die Arbeit, 94 Prozent der Besoldeten im Scheiteltunnel stammen aus dem Süden. 2600 arbeiten 1875–1882 im Durchschnitt im Tunnel, weitere 17450 bauen die Rampenstrecken. Der jüngste Bauarbeiter ist 12 Jahre alt, das Durchschnittsalter der Tunnelarbeiter beträgt 28 Jahre.

Zum Arbeitsalltag beim Tunnelbau gehören Hitze, Wassereinbrüche, unkontrollierte Detonationen, Füsse in den Exkrementen. Favres Bauunternehmen reduziert die Zufuhr von Kühl- und Atemluft zu Gunsten der Kompressorenluft. Staublunge, Cholera und Typhus und vor allem Hakenwürmer, welche die Darmwand durchbohren, fordern zusätzlich zu den mindestens 199 Unfalltoten beim Tunnelbau 120 weitere Tote und ein Mehrfaches an Opfern nach der Rückführung kranker Arbeiter in ihre Heimatorte.74 Die Stundenlöhne liegen zwischen 30 und 40 Rappen, abzüglich Unfallgeld, Lampenmiete und Öl. In den mit bis 120 Mann überfüllten Verschlägen fehlt es an jeglicher Hygiene, es stinkt in der viel zu kurzen Ruhezeit nach Jauche.75 Die Liegepritschen sind teilweise im Achtstundenrhythmus, also dreifach vermietet.

Bei den Unruhen im April 1875 macht sich der Urner Polizeidirektor persönlich von Altorf auf den Weg nach Göschenen und bewaffnet 20 Bürgerwehrleute. Ähnliches geschieht, als am 27. Juli 1875 80 Mineure die Arbeit verweigern und tags darauf 2500 Kameraden mobilisieren: gegen Schikanen, mangelnde Atemluft und Rauch im schlecht entlüfteten Tunnel, gegen eine Entlöhnung in Form von Favreschen Gutscheinen an Stelle von gemünztem Geld. Streikbrecher werden am Einfahren gehindert. Mit einem Telegramm fordert Favres Bauleiter die Urner Regierung zur Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung auf. Polizisten und Milizionäre schiessen in die Menge, vier Italiener sterben, zwölf sind verletzt, zwölf verhaftet, die Tunnelportale sind gesäubert. Es wird mit zusätzlichen Verschlechterungen der Arbeits- und Lebensbedingungen weitergearbeitet.76 Nach einer diplomatischen Note Italiens rechtfertigen sich die Behörden, die Erschiessungen seien in Notwehr erfolgt, die Neue Zürcher Zeitung verurteilt am 5. August 1875 den Streik der «Revolteurs» und begrüsst den Einsatz. Der von Bundesrat Welti eingesetzte Begutachter Oberst Hold bestätigt die These von der Notwehr. Der Urner Cantonssäckelmeister stellt Herrn Louis Favre für den patriotischen Einsatz der Todesschützen 2570 Franken und 15 Rappen in Rechnung. Damit sind die Bauverteuerungen und Verzögerungen nicht beseitigt. Erst fünf Jahre später berichtet der Arzt Laurenz Sonderegger detailliert über das Elend der Tunnelarbeiter77: Der 11 Jahre vor dem Gotthardtunnel vollendete, nur 1,3 Kilometer weniger lange Mont Cenis-Tunnel habe nicht einmal halb so viele Opfer gefordert.

Beamte und Bahnangestellte

Anders als die Bahnbauarbeiter sind die Bahnbetriebsarbeiter einem Dienstverhältnis unterstellt, einem besonderen Gewaltverhältnis, bei dem die Betriebsreglemente einen integralen Bestandteil des Arbeitsvertrages bilden. Obwohl der Beamtenstatus bis zu seiner Abschaffung behördlichen Tätigkeiten vorbehalten wäre, stufen die Privatbahnen gegen zwei Drittel ihrer Beschäftigten als Beamte ein. Die übrigen Bahnarbeiter gelten entweder als Angestellte oder Betriebsarbeiter, Hilfsarbeiter, Ablöser, Stellvertreter und Lehrlinge. Zu dieser Hierarchisierung tritt mit den Dienstreglementen und den Pflichtenheften eine berufliche Einteilung, zum Beispiel in Lokomotivführer, Heizer, Zugführer, Bremser, Rangierarbeiter, Strecken- oder Barrierenwärter. Damit das auch gut sichtbar ist, sind Beamte und Angestellte verpflichtet, im Dienst die Uniform zu tragen. Sie wird vom Unternehmen zur Verfügung gestellt und weist je nach Rang einen Stehkragen aus schwarzem Samt, versilberte Knöpfe und seidene Rocksäume aus. Bei der Centralbahn unterscheidet sich der Zugführer vom Kondukteur durch zwei versilberte Sternchen an den Kragenenden. Am klarsten zeigt sich die Stellung des Arbeiters in den Abzeichen und in der Ausstattung seiner Schirmmütze mit farbigen Schnüren. Die Uniform schafft so einerseits Respekt in der Öffentlichkeit, andererseits auch eine Distanzierheit innerhalb der Belegschaft, was zu Gunsten des Unternehmens eine Solidarisierung ausserhalb der Hierarchien und Berufsgruppen erschwert.


Handarbeit eines Streckenwärters mit Schraubenschlüssel und Hammer.

Foto H. P. Bärtschi Teegärten Sri Lanka 2018.

Da die Bahnunternehmen nur ihre Werkstätten dem Fabrikgesetz unterstellen müssen, gelten im Bahndienst über die Arbeitszeit hinaus Präsenzzeiten. Die tägliche Dienstzeit beträgt 1888 rund 16 Stunden, manchmal gegen 19 Stunden, an sieben Tagen die Woche! An Sonn- und Feiertagen muss je nach Dienstplan gearbeitet werden, auf drei Wochen Arbeit besteht ein Anrecht auf einen freien Tag. Der Gesetzesbestimmung, dass allen Eisenbahnern wenigstens 17 Ruhetage jährlich zu gewähren seien, kommen die Privatbahnen nur zögerlich nach.78 Da auch andere Empfehlungen des Eidgenössischen Eisenbahndepartements für maximale Präsenz- und Arbeitszeiten und obligatorische Pausen auf wenig freiwilliges Entgegenkommen stossen, tritt Ende 1890 das Bundesgesetz betreffend die Arbeitszeit beim Betrieb von Eisenbahnen in Kraft. Wie auch in anderen Bereichen bieten die Zürcher Nordostbahn und die St. Galler VSB weiterhin die schlechtesten Bedingungen, die Gotthard- und die Centralbahn die besten.

Unzufriedenheit und Selbstorganisierung

Die wachsende Unzufriedenheit eines grossen Teils des Personals hat in den 1860er-und 1870er-Jahren zur Stärkung der demokratischen Bewegung vor allem gegen den «Eisenbahnkönig» Alfred Escher und seine liberale Partei geführt. Mit dem Scheitern dieser Bewegung verlagern sich die Aktivitäten des Personals auf die gewerkschaftliche Ebene. Ende 1868 entsteht die Zürcher Bezirksorganisation des – wohlgemerkt – «Vereins Deutscher Lokomotivführer». Obwohl in den Lokomotiven immer ein Führer und ein Heizer zusammenarbeiten müssen, besteht zwischen ihnen ein Hierarchiegefälle, welches immerhin in Sachen Verschwiegenheit bei Alkoholkonsum überwunden wird. So entstehen 1877 bis 1888 in Zürich, Olten und Luzern die Berufsorganisationen der Heizer und schliesslich auch solche für die Zugführer, die Wagenvisiteure, die Weichenwärter und Rangierer.79 Arbeitszeitverkürzungen und höhere Löhne sind die entscheidenden Forderungen; zunehmend wichtig werden «Hülfskassen» für den Ausgleich bei Krankheit und Unfall. Für das Äufnen solcher Kranken- und Unfallversicherungen sind die Direktionen eher zu gewinnen als für Lohnaufbesserung und Arbeitszeitverkürzung, denn die Fonds gehen zu Lasten der Bediensteten und werden von den Direktionen verwaltet. International verschärft sich der Kampf der organisierten Arbeiterschaft gegen die Kapitaleigentümer. Am 1. Mai 1886 berichtet der 70-jährige Friedrich Engels stolz: «Heute hält das europäische und amerikanische Proletariat Heerschau über seine erstmals mobil gemachten Streitkräfte.»80 Zwei Jahre später gründet sich die Sozialdemokratische Partei der Schweiz neu und schliesst sich der Zweiten Internationale an. Eine Forderung ist die 48-Stundenwoche. Die oppositionellen Aktivitäten der Eisenbahner münden schliesslich in eine Initiative für die Verstaatlichung der grossen Bahnkonzerne, welche jedoch 1891 scheitert. Die Eisenbahner schliessen sich 1894 zum «Verband des Personals schweizerischer Transportanstalten» VPST zusammen und wählen Theodor Sourbeck zum vollamtlichen Sekretär. Zumindest die niedrigsten Gehälter sollen angesichts der wieder wachsenden Profite erhöht werden. Die Central- und die Gotthardbahn machen Zugeständnisse, die anderen Direktionen sehen in der Forderung eine Agitation einer Handvoll Provokateure. Diese reagieren mit der Einberufung einer Generalversammlung der schweizerischen Eisenbahner auf den Sonntag, 16. Februar 1896 in Aarau. Unter schmetterndem Tusch der Eisenbahner-Musikkorps versammeln sich 12000 Bedienstete. Sie fordern entblössten Hauptes durch Aufheben der Schwurfinger kürzere Arbeitszeiten und bessere Löhne. Mit Streik wird gedroht. Bereits am 29. Februar 1896 findet unter dem Vorsitz von Bundesrat Zemp die Verhandlung zwischen dem VPST und den Privatbahndirektionen statt. Vier Privatbahnkonzerne lenken mit der Schaffung einer verbindlichen Lohnskala ein. Nur die Nordostbahn fehlt. Sie verfolgt unter Alfred Eschers Nachfolger Adolf Guyer-Zeller sogar einen verschärften Kurs: maximale Dividende, minimale Löhne. Auch ein Jahr nach der Aarauer Versammlung reagiert die NOB-Direktion auf ein Ultimatum des VPST nicht. In der Nacht auf den 12. März 1897 legen 5000 Beamte und Angestellte der NOB ihre Arbeit nieder. Die wenigen Streikbrecher haben keine Chancen, den komplexen Bahnbetrieb aufrechtzuerhalten. In der ganzen Nordostschweiz kommen Pendler nicht zur Arbeit und Güter nicht zu den Industriebetrieben. Neben Zemp reist auch Bundesrat Müller nach Zürich und fordert die NOB-Direktion zum Einlenken auf. Diese beugt sich nach anderthalb Tagen Streik. Für die Zustimmung zum Verstaatlichungsgesetz ein knappes Jahr später ist der Streik vom 12. und 13. März 1897 ebenso entscheidend wie die noch nicht verarbeiteten Eisenbahnkatastrophen.

 

Aus der Zeit der sich zuspitzenden Kämpfe zwischen den Bahnarbeitern und den Bahninvestoren stammt diese Karikatur für bessere Löhne und Arbeitsbedingungen.

Der neue Postillion 9, September 1899.


Da die Nordostbahn als einzige Privatbahn den Forderungen der 12000 Eisenbahner der Aarauer «Generalversammlung» nicht nachkommt, streiken die NOB-Bediensteten. Nach Vermittlung des Bundesrates nehmen sie am dritten Tag die Arbeit wieder auf.

Neues Winterthurer Tagblatt 13.3.1897.