Der Bote

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Murmansk

Der eisfreie Nordmeerhafen Murmansk und die umliegenden kleineren Städte in der Kola-Bucht hatten dreißig Jahre nach Ende der Sowjetunion kaum noch etwas von ihrem „sozialistischen Charme“ bewahrt, abgesehen von den Zuckerbäckerbauten der Zarenzeit und des Stalinismus, dem man hier im Norden keine Träne nachweinte. Zahlreiche respektable Neubauten der staatlichen Energieversorger, die Wohn- und Freizeitkomplexe, das Kultur- und Bildungsangebot, die wissenschaftlichen Institute und die Universität sowie die weitläufigen Parks und Wälder beiderseits der Kola-Bucht und darüber hinaus, machten diese Region zu einem der begehrtesten Arbeits- und Studienplätze im nördlichen europäischen Russland. Und dann war da noch der Ausbau des Werftareals, wo nicht nur die riesigen U-Boote der Taifun- und K -Klasse, sondern auch die größten und modernsten Eisbrecher der Welt konzipiert, geplant und gebaut wurden. Seit der Katastrophe mit der Kursk im Millennium Jahr, die im Beringmeer nach mehreren Unterwasserexplosionen sank und mehr als Hundert U-Boot Fahrer in den Tod riss, hatte der Präsident Russlands die „Restauration“ - die Erneuerung von Murmansk nach modernsten architektonischen und technischen Möglichkeiten zu seinem persönlichen Anliegen gemacht. Das Vertrauen der Marine, dem Stolz Russlands, in die politische Führung nahm durch jene Ereignisse um die Kursk erheblichen Schaden, und den wollte der Präsident auf jeden Fall und um jeden Preis neutralisieren. So etwas funktioniert in allen Staaten und unter jeder Regierungsform nach dem gleichen Prinzip: Versprechen, Geschenke, Ausführung. Natürlich mussten auch Urteile gefällt werden, Bestrafungen, die sich aber im Hinblick auf die damaligen desaströsen Vorschrifts- und Befehlsketten mehr als schwierig erwiesen. Kurzum wies der Präsident den Befehlshaber der Nordmeerflotte in Murmansk an, einige wenige unbequeme Betonköpfe aus Zeiten der Sowjetunion zu entlassen - in den vorzeitigen Ruhestand zu schicken, zu denen der Befehlshaber der Nordflotte ebenso gehörte wie der Chef des Generalstabes. Das dämpfte zunächst einmal die aufgeheizte Stimmung, und als dann weitere diverse hochrangige Offiziere vor Gericht gestellt und ihren Hut nehmen mussten, hatte der Präsident die erste Runde in diesem knallharten Kampf der militärisch-politischen Interessen gewonnen. Noch im gleichen Jahr nach dem Untergang der Kursk begannen die Projektierungen an den hochmodernen, menschenfreundlichen Wohnhäusern nahe den Grüngürteln rund um Murmansk, wo die Murmansker und zahlreiche Sommer- wie Wintertouristen die Polarnacht und den Sommerdauer -Sonnenschein genießen. Innerhalb von fünf Jahren war von den Restbeständen der grautristen Plattenbau Nostalgie nichts mehr zu sehen, und die Anstrengungen der Bauarbeiter, Techniker, Ingenieure und Architekten verwandelten die Stadtteile von Murmansk geradezu in farbenfrohe lebendige Ensemble, vor denen die Familien Schlange standen, um sich für eine der heiß begehrten Wohnungen einschreiben zu lassen. Auch in der Innenstadt von Murmansk mit ihrem prachtvollen Lenin Prospekt, wurde tüchtig und nach modernsten architektonischen Vorgaben und Maßregeln geplant und gebaut, wobei die traditionelle russische Lebensweise ebenso Bau- und Wohnraum bestimmend war, wie der Anspruch an Modernität, Sicherheit und Hygiene. Immerhin stand Murmansk entgegen der früheren sowjetischen Maxime nicht mehr unter dem Dekret „Sperrgebiet“, sondern war den Touristen und Besuchern aus dem Ausland bis auf den Hafen frei zugänglich. Das verpflichtet zu besonderen Anstrengungen, denn die Stadt, die umliegenden Ortschaften und Kleinstädte - und letztlich der gesamte Oblast wollten sich in bestem Licht und Aussehen präsentieren. Da war es nicht so förderlich, wenn die Besucher auf ihren Stadttouren immer wieder die Aussicht auf den Hafen und die Grauen Wölfe der See „genossen“. Schließlich handelte es sich bei dem Murmansk Hafen um einen der zentralen Standorte und Heimathäfen der russischen Nordmeerflotte, ganz zu schweigen von Rosljakowo, knapp zehn Kilometer vom Zentrum entfernt, einem bedeutenden Standort der Nordflotte. Und dann ist da diese riesige Figur eines Soldaten, ein Monument mit Namen Alyosha, das an die heldenhafte Verteidigung der Stadt während des großen vaterländischen Krieges erinnert. Mehr als dreißig Meter hoch, den Arm und die Hand mit dem Gewehr hoch aufgereckt, ist dieses Symbol des Widerstandes von jedem nach Murmansk einlaufenden Schiff schon von weitem zu sehen. Vom Sockel und der Aussichtsplattform des Monumentes bietet sich Einwohnern wie Besuchern und Touristen ein traumhafter Blick über Murmansk und die Kola-Bucht, um die sich in sichtbarer Nähe oder gemäßem Abstand die sehenswerten und teilweise pittoresken Dörfer und Kleinstädte anlehnen, um durch ihre ureigene Individualität zum einen und der „Nähe“ zur großen Schwester Murmansk zum anderen vom Glanz und der Anziehungskraft der Weltstadt zu partizipieren, was allen urbanen Einrichtungen hervorragend gelang. Apatity, Kandalaksha, Kirovsk, Kola, Lovozero, Monchegorsk, Teriberka, Umba und Varzuga - so die Namen jener Dörfer und Kleinstädte auf der Kola Halbinsel, die sich rund um die Stadt Murmansk, der größten Weltstadt nördlich des Polarkreises, wie eine Schar quirliger Kinder scharten und voller Hoffnung auf die neue Zeit schauten, voller Enthusiasmus in das 21. Jahrhundert aufbrachen. Noch weiter nördlich, im 20 Kilometer entfernten Seweromorsk, befindet sich der wichtigste Stützpunkt der russischen Nordmeerflotte und Atom-U-Boote insgesamt. Hier galt selbst das „Stille Örtchen“ als sensibel und „Out of Area“ wie die US-Amerikaner sagen. Zutritt nur mit Permit. Schon Kilometer vor Erreichen der eigentlichen Stadtgrenze begannen die Straßenkontrollen an speziellen „Präventivsklerosen“, ein medizinischer Begriff, den die staatlichen Berufsobservierer gerne verwendeten. Schließlich handelten die amerikanischen Kollegen in Area 51 ebenso, da standen sich beide Supermächte in nichts nach. Grundsätzlich galt es nach Vorgabe der Gouverneure von Oblast Murmansk für ausländische Besucher und/oder Geschäftsleute folgende Möglichkeiten die Stadt hinter dem Polarkreis zu erreichen - tatsächlich waren es nur zwei - per Flugzeug es sei denn, man hatte mehr Zeit als der liebe Gott und reiste über Sankt Petersburg mit der Bahn an. Fliegen musste man in jedem Fall, entweder mit der Finnair von Helsinki oder einem anderen größeren finnischen oder norwegischen Flughafen aus, oder man steuerte Murmansk über Sankt Petersburg mit der Aeroflot an, in jedem Fall musste man ein sattes Zeitpolster mitbringen, um den Flughafen von Murmansk zu erreichen. Und dann gab es noch eine dritte Möglichkeit nach Murmansk zu kommen, die aber eher hinter vorgehaltener Hand getalkt wurde - die Anreise mit dem Bus - ein wirkliches Abenteuer für Globetrotter erprobte Backpacker, weniger etwas für Virologen, Ozeanforscher, Vulkanologen sowie die Thermalquellenforscher der Tiefsee. Dafür aber um einiges preiswerter als die Fliegerei und Bahnfahrt. Für die Expeditionsteilnehmer war dies von untergeordneter Bedeutung; zwölf Teilnehmerinnen und Teilnehmer reisten von Westen nach Osten, dreizehn Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Osten nach Westen - Treffpunkt Murmansk - Eisbrecherhafen über Murmansk Flughafen. Sie brauchten sich weder um Unterkunft, Verpflegung und Sicherheit zu sorgen, und schon gar nicht um die Finanzierung der Reisekosten, die pro Teilnehmer bei rund 35.000 Tausend US Dollar lag, einschließlich des gesponserten Hin- und Rückfluges in die jeweiligen Herkunftsländer der Betreffenden. Die Anreise über den Atlantik und Nordeuropa gegen die Zeit war nicht minder ermüdend als der Flug über den Kontinent Asien mit der Zeit und Nordeuropa. Die einen sahen zwölf Stunden Wasser oder Inseln, die anderen zwölf Stunden Land ohne Ende - Berge, Wüsten, Wälder, Flüsse und Seen. Dann endlich - Murmansk - der eisfreie Nordmeerhafen der russischen Marine. Die Stadt selbst wie eine mittlere City des Westens, Wohngebiete, Industrie, Gewerbe, Parks - der nicht enden wollende Baum- und Waldgürtel der Taiga und natürlich der Hafen, ein gigantischer Komplex eigens zu dem Zweck gebaut, die größten und kampfstärksten Über- und Unterwassereinheiten der russischen Marine schnell und möglichst unauffällig auf den Marineeigenen Werften zu planen, zu bauen und im Nordmeerwasser einzufahren, um sie dann entweder in den Atlantik oder in den Pazifik zu entsenden. Die Marine, das ließ sich ohne Abstriche sagen, war der Stolz nicht nur der Roten Armee, sondern der Stolz und die Seele Russlands, seiner Menschen, Hoffnungen, Träume und Sehnsüchte. Doch dieser Stolz der Seele Russlands hat auch eine düstere Kehrseite, die weder Touristen noch Besucher der Region aus der Nähe betrachten können. Es sind die zahlreichen Atom-U-Boote, die zu Dutzenden in der Saida Bucht der Halbinsel Kola vor sich hin rotten oder besser verrotten, teilweise noch mit radioaktivem Material vollgestopft, so den Reaktoren, dem Kühlwasser und anderen hoch gefährlichen Stoffen. Selbst im Hafen von Murmansk lassen sich U-Boote erkennen, von denen teilweise nur noch die Türme aus dem Wasser ragen. Ein riesiges Problem nicht nur für die russische Marine und Russland, denn an der Pazifikküste in Kamtschatka sah es noch düsterer aus. Tausende Tonnen hoch radioaktiven Materials wurden in den vergangenen Jahrzehnten sorglos in den Tiefen des Pazifiks verklappt, ähnliches geschah im Nordatlantik und im Beringmeer. Das ist in der Tat ein Szenario, das sich im Gewand einer nuklearen tickenden Zeitbombe etabliert hat und bis heute in keiner Weise angegangen wurde. Eine Bergung des Mülls einschließlich der über die Jahrzehnte gesunkenen Atom-U-Boote mit nuklearer Bewaffnung ist schlichtweg unmöglich oder einfach nicht vorgesehen. Die Gefahr nuklearer Explosionen wird nach allgemeiner Auffassung internationaler Experten ausgeschlossen, aber die Freisetzung radioaktiven Materials durch anhaltende Korrosion an den Sprengköpfen und Reaktoren, könnte in unkontrollierbaren Mengen in den Ozeanen eine globale ozeanische Katastrophe auslösen, gegen die sich die Pandemien der Vergangenheit wie leichte Erkältungen ausnehmen. So stellt sich die bekannte Situation rund um die Atom-U-Boot Flotte der untergegangenen Sowjetunion und dem Nachfolgerstaat Russland dar. Kein Erbe, auf das weder der Präsident, noch die Marine, noch Russland und das russische Volk stolz sein können. Inzwischen gibt es aber ein Übereinkommen zwischen Deutschland und Russland, den atomaren U-Boot Schrott zumindest aus dem Oblast Murmansk nachhaltig unter größten Sicherheitsvorkehrungen zu entsorgen. Der Anfang ist gemacht, spät und hoffentlich nicht zu spät. In der Tiefsee warten ungleich schwierigere Aufgaben auf die Bergungsunternehmen. Aber diese Überlegungen spielten in der Aufgabenstellung zur Lösung der vorgenannten Atommüllbeseitigung der angereisten Wissenschaftler „nur“ eine sekundäre Rolle, vorrangiges Ziel war die weitere Erforschung der Geothermalfelder im Nordatlantik zwischen Nordeuropa, Island und Grönland sowie die Übergangsregion vom Nordatlantischen in den Arktischen Ozean in der Region Mittelozeanischer Rücken, der zwischen Grönland und Skandinavien auch als Mohn- und Knipowitsch Rücken bezeichnet wird. In dieser Übergangsregion haben die Schwarzen und Weißen Raucher - die Black and White Smoker in „Lokis Castle“ - Lokis Schloss oder Lokis Burg seit ihrer Entdeckung das Interesse der Tiefseeforscher weltweit geweckt. Und als dann noch Lebewesen, Mikroorganismen und Bakterien in kaum vorstellbarer Art und Anzahl gefunden wurden, kannte die Forscher- und Entdeckerfreude kein Halten mehr. Ein Expeditionswettlauf weltweit begann, wo im Sommer fast jeden Jahres Forscherteams mit Dutzenden Wissenschaftlern aus aller Welt in diese Region entsandt wurden, wo die großen tektonischen Platten der Nordhalbkugel des Planeten den Boden der Tiefsee mit unvorstellbaren Kräften und dem glutflüssigen Inneren der Erde in ein kochendes Inferno verwandeln, dass seine explosive Urkraft immer wieder in spektakulären Unterwasservulkanausbrüchen beweist, die nicht selten zur Entstehung neuer Inseln führen. Unweit des zivilen Murmansker Kreuzfahrt- und Frachtterminals für internationale Schiffe und Reedereien erhob sich ein markant-futuristisches Gebäude - das Polar-Forschungs-Institut der Marine mit der Fischerei - Ozeanografie, das weit über die Landesgrenzen Russlands und Europas hinaus seinen Weltruf begründete. Im zweiten Hafenbecken, das dem Aussehen und Umfang nach eher Teil des Eismeeres zu sein schien als dem Hafen zugehörig, lag ein monströser schwimmender Stahlgigant, der durch dicke Trossen am Kai gehalten wurde, so dass der Betrachter vermuten könnte, dieser Stahlkoloss wäre aus der Kaianlage heraus gewachsen.

 

„EISBRECHER LIEGEPLÄTZE - ZUTRITT NUR MANNSCHAFTEN UND WERFTPERSOAL MIT PERMIT - PASSIERSCHEIN - ERLAUBNIS“,

las ich die rot auf weiß gehaltene Anweisung in kyrillisch, englisch und - da staunte ich in der Tat - in deutsch, meiner Muttersprache.

Die Begrüßung

„Die Atlantik Gruppe bitte in den Saal der Marine. Folgen Sie dem Guide mit dem Schild Eisbrecher Tours - die Fernost Gruppe bitte in den Saal der U-Boot Fahrer. Folgen Sie bitte dem Guide mit dem Schild Eisbrecher Tours. Herzlich willkommen in Murmansk, der größten Weltstadt über dem Polarkreis“ endete die wohlklingende Empfangsansprache einer sicher sehr attraktiven und gut aussehenden Genossin - äh Russin aus dem Reich des russischen Präsidenten. Während die akustischen Willkommenslaute der noch unsichtbaren russischen Schönheit in der architektonischen Virtuosität verhallten, marschierten zwei akademische Kolonnen aus West und Ost auf die ihnen zugewiesenen Säle zu, die sich seitlich versetzt gegenüber den großen Eingangs-Schiebetüren mit Isolierverglasung befanden und nur darauf warteten uns zu verschlucken. Die Zusammensetzung der Teams vor der Aufnahme ihrer eigentlichen Forschungstätigkeit vor Ort würde während der Anfahrt an Bord der Georgi Schukow vorbei an Spitzbergen und Island in Richtung Grönland erfolgen, mithin Zeit genug sich zum einen mit den anderen Kolleginnen und Kollegen bekannt zu machen, zum anderen um sich auf die geplanten Forschungsvorhaben und Experimente einzustellen. Einige der angereisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren mir von vergangenen Forschungsvorhaben in der Tiefsee bekannt, schließlich war das Albert-Wagner-Institut für Polar- und Meeresforschung auf diesem Planeten eine Institution, an der niemand vorbeikam. Zudem unterhielt Deutschland eine dauerhafte Forschungsstation auf dem Eis der Antarktis mit dem Namen des Instituts in Bremerhaven. Aber den Lorbeeren von gestern sollte man aus eigener Erfahrung bei derartigen Unternehmungen nicht nachhängen oder selbige vor anderen oder im Team kundtun; die Teilnehmer an dieser „Eisbrecherfahrt“ wussten sehr genau über den anderen Bescheid, was letztlich vollauf genügte, um die Zusammenarbeit in der Gruppe und an Bord zu optimieren. Beinahe geräuschlos und automatisch öffneten sich die Türen in die beiden Säle - der Saal der Marine für die zivile - auch christliche Seefahrt genannt, wozu auch die Kategorie Eisbrecher und Tauchboote gehörten. Die Schiffe und Tauchboote dieser Kategorie unterstanden zum Teil zivilen Eignern, zum Teil Reedereien, Kapitalgesellschaften oder Charterunternehmen, was auch für die Tauchboote galt. Selbige benötigten jedoch zum Erreichen ihres oftmals sehr fernen Zieles die Hilfe eines Mutterschiffes, welches das Tauchboot „Huckepack“ nahm und an seinen Einsatzort transportierte. Über die Unterseeboote - kurz U-Boote genannt, verfügte ausschließlich das Militär oder der Präsident als oberster Kriegsherr, denn U-Boote waren und sind Kriegsschiffe für den Unter- und Überwasserkrieg. Das ist der wesentliche und schlagkräftigste Unterschied weltweit bei allen Marinen. Gleich werden wir sicher die Dame mit der freundlichen Stimme kennen lernen, die uns vorab über Lautsprecher so warmherzig begrüßte, gingen mir frühsommerliche Gedanken durch den Kopf, was aber nicht an den Temperaturen lag, die in der Region Oblast Murmansk derzeit herrschten. Von den milden angekündigten 18 Grad war noch nicht viel zu spüren, das Thermometer pendelte zwischen elf und zwölf Grad, konnte sich aber letztlich weder für elf noch für zwölf Grad entscheiden. Wie klug doch von mir nicht alle wärmenden Jacken in den Seesack gepackt zu haben, sondern das eine und andere Teil im Handgepäck zu verstauen, was mir jetzt zugute kam. Sich im Sommer in der nördlichsten Großstadt hinter dem Polarkreis befinden und dabei frieren fand in meinem Wohlfühlverständnis keine Zustimmung. Endlich - Saal der Marine - wenngleich mich der Saal der U-Boote mehr interessierte, schon aus familiären Gründen. Vater war U-Boot Fahrer unter dem BdU Dönitz, sein Bruder und damit mein Onkel ebenfalls; letzterer überlebte die zweite Feindfahrt nicht, während mein Vater mit sieben weiteren Kameraden die achte Feindfahrt im Mittelmeer nach sechzehn Stunden im Wasser treibend ziemlich ramponiert überstand und zunächst im Marine Lazarett bei Gerbini im Osten Siziliens versorgt wurde. Nur wenige Tage vor der Operation Husky, der Landung alliierter Truppen auf Sizilien, wurde mein Erzeuger mit seinen Kameraden erst aufs Festland in die Nähe von Rom ausgeflogen, weitere zwei Tage später ging es mit der Condor heim ins Reich. Für meinen alten Herrn war der U-Boot Krieg vorbei, allerdings wurde es nichts mit einem Versorgungsposten in der Etappe, sondern erneut Fronteinsatz - dieses Mal im Osten als LKW Fahrzeugführer mit Beifahrer. Da er als Torpedotechniker für Feindfahrten nicht mehr tauglich war, steckten ihn die Betonköpfe bei der Heeres- und Marineführung kurzerhand in das Kraftfahrerkorps des Ersatzheeres für den Bereitstellungsdienst, im Klartext Versorgung der Fronttruppen mit Munition, Treibstoff und Verpflegung, nicht selten unter Feindbeschuss. Man muss sich das vorstellen - ein Marine Soldat als Kraftfahrer des Heeres im Osten - den Anblick der sich abzeichnenden Katastrophe vor Augen - ohne jegliche Erfahrung im Erdkampf. Lange ist das her, sehr lange aber mir war es wie gestern, wenn ich an die Gespräche mit meinem Reproduktionsverantwortlichen über die Geschehnisse des größten militärischen Massenmordes aller Zeiten im vergangenen Jahrhundert zurückdenke.

Valeria Dernikowa - oder doch Natalie?

Na endlich, da war sie ja, die Frau aus Gilbert Becaud‘s Schmachtlied „Natalie“, des Monsieur Hunderttausend Volt (Zitat), welche ihm die kalten russischen Winternächte im Nobelhotel „Zarengold“ angenehm wärmte - und dann eines Morgens - wie durch Zauberhand verschwunden war - nur mit einem zarten Kuss auf dem Briefumschlag des Hotels - Natalie…

„Bitte kommen Sie bis nach vorne - bis in die ersten Reihen - das macht die Konversation einfacher - nehmen Sie auf den Stühlen vor den Tischen platz - Ihre Namenschilder sind vorbereitet - das dient dem Kennenlernen und der direkten Ansprache. Auf den Tischen vor Ihnen befinden sich Mikrofone mit Gegensprecheinrichtung - einschalten am Fuß unten links - der grüne Knopf - dann können Sie sprechen, fragen oder antworten. Der rote Knopf rechts beendet ihre Anfrage oder Antwort. Bitte nur ansprechen, fragen oder antworten, wenn der grüne Knopf leuchtet, bei blinkendem Rotlicht ist keine Ansprache oder Anfrage möglich, da dann der Diskussionsleiter spricht. Das Headset wollen Sie bitte aufsetzen, ich spreche in russisch aus Gründen der Gleichbehandlung, übersetzt wird simultan live in englisch, französisch, chinesisch, japanisch, deutsch und italienisch. Danke für Ihr Verständnis. Wir kommen gleich zum organisatorischen Teil, da die Georgi Schukow noch heute gegen 20.00 Uhr ausläuft, mithin stehen Ihnen und uns noch vier Stunden für das Bekanntmachen, die Pass- und Visaformalitäten und das Einchecken auf der Georgi Schukow zur Verfügung. Mein Name ist Valeria Dernikowa, und ich bin Ihre Ansprechpartnerin an Bord der Georgi Schukow in allen organisatorischen Fragen. Ich bedanke mich bei Ihnen allen dass Sie hier in Murmansk sind, freue mich sehr auf unsere internationale Zusammenarbeit und bitte Sie nun um Ihre Aufmerksamkeit. Herzlichen Dank an Sie - ach - noch auf ein Wort, an den Getränken auf ihren Tischen dürfen sie sich gerne bedienen“ beendete Valerie Dernikowa den wohlklingenden Fluss ihrer mehr als freundlichen Ansprache an fünfzehn Personen der Marine-Saal Gruppe, den Forscher und Forscherinnen, Medizinerinnen und Medizinern, Thermalgeologinnen und Geologen, die von ihren Instituten, Universitäten und Regierungen in den Nordatlantik und das angrenzende Eismeer an Bord der Georgi Schukow geschickt wurden, um in der Tiefsee nach Dingen zu suchen, die noch geheimnisumwitterter waren als die Eingangs Codes in Fort Knox. Im Saal der U-Boote saß die Fernost Gruppe mit mindestens elf Teilnehmerinnen und Teilnehmern, soviel ließ sich jetzt schon mit Bestimmtheit sagen. Sechs Landessprachen wurden genannt, das wären mindestens vier Teilnehmer-Teilnehmerinnen pro internationalem Team plus die Russen, aber dann würden die Russen mit nur einem Kollegen ins Rennen gehen - kaum vorstellbar. Aus meiner Erfahrung bei internationalen Veranstaltungen in Sachen Erforschung der arktischen Regionen und der Tiefsee wusste ich, dass die Russenteams stets die meisten Wissenschaftler vor Ort antreten ließen, was ohnehin von ganz oben dirigiert wurde, darüber war sich jeder Teilnehmer auf dieser Expedition im Klaren. Mithin dürfte unser internationales Team mindestens einunddreißig Personen stark sein, was hinsichtlich der Kabinenkapazität der Georgi Schukow keinerlei Probleme bereitete. Ich setzte das Headset auf und sogleich kehrte eine beruhigende Stille ein, die mich gegen das unausrottbare Gemurmel der Kolleginnen und Kollegen aus noch sechs Nationen abschirmte, die sich wie auf jeder anderen Veranstaltung - gleich welcher Art weltweit - ungemein wichtige Dinge zu erzählen hatten, die nicht bis zur Pause oder Ankunft an Bord der Georgi Schukow warten konnten. Routinemäßig betätigte mein rechter Zeigefinger den Schaltknopf Headset hear on germany, und schon vernahm ich die wohlklingende Stimme einer zweiten „Natalie“ vielmehr Kollegin von Valeria Dernikowa, die uns noch um ein wenig Geduld bat, bis alle Teilnehmer gesteckt hatten und die Simultan Übersetzer den jeweiligen Landessprachen zugeteilt waren. Das übliche Prozedere, welches ich während meiner journalistisch-wissenschaftlichen Tätigkeit in den vergangenen fünfzig Jahren schon oft erlebte.