Ich hatte natürlich keine Ahnung davon, in welche Richtung Polakowski gegangen war, und zu Anfang sah ich ziemlich besorgt um mich. Als ich aber erst, aus »Klein-Russland« heraus, durch die sauberen Straßen meiner Heimatstadt ging, fühlte ich mich sicherer. Ich ging, ohne zu zögern, direkt zum Bahnhof und setzte mich dort in den Wartesaal zweiter Klasse. Ich wusste, ich wagte viel; war schon etwas von meiner Geschichte durchgesickert, so war ich verloren. Aber ich musste an diesem Morgen noch viel mehr wagen, dieses Sitzen im Wartesaal war eine Vorprobe für kommende andere wichtige Unternehmungen.
Natürlich hätte ich mich auch mit weniger Risiko ein paar Stunden in den Anlagen der Stadt verbergen können, aber in meiner verwandelten Stimmung liebte ich es nun einmal, der Gefahr zu trotzen, muss aber auch gestehen, dass der Alkohol mich ein wenig dazu verführte. So ganz ohne ihn wollte ich nun doch nicht sein, und so bestellte ich beim Kellner außer einem ergiebigen Frühstück mit Setzeiern, Wurst und Käse auch eine Karaffe Kognak, den ich, zum zweiten Mal behaglich und nicht ohne Appetit frühstückend, meinem Kaffee zusetzte.
Ich vertiefte mich bei diesem lange dauernden Essen in die Zeitungen meiner Vaterstadt, die ich lange nicht studiert, las sämtliche Heimatnachrichten einschließlich der Familienanzeigen und hatte nun die Gewissheit, dass über mich auch noch nicht der geringste Hinweis ins Blättel gelangt war. Es wäre doch immerhin möglich gewesen, dass Magda in ihrer »Besorgnis um mein Wohlergehen« eine Notiz ins Blatt hätte setzen lassen, etwa des Inhalts: Der Geschäftsmann E. S. sei so und so lange nicht gesehen worden und irre vermutlich in einem Zustand geistiger Verwirrung in der Gegend umher. Wer Nachricht von ihm geben könne usw. usw. Aber nichts von alledem.
Bei meinem Frühstück wurde ich wirklich zehn Minuten lang von dem Bäckermeister Stretz gestört, von dem ich eben in der Zeitung gelesen, dass er sein fünfundzwanzigjähriges Geschäftsjubiläum begangen habe. Er ist unser Semmel-, ich bin dann und wann sein Weizenmehllieferant, wir kennen uns seit vielen Jahren. So setzte er sich zu mir an den Tisch, und er verwunderte sich darüber, dass wir uns so lange nicht gesehen, auch, dass ich hier auf dem Bahnhof die Semmeln der Konkurrenz und nicht friedlich daheim seine eigenen frühstückte. Es war das alles aber ganz arglos gesagt, wie ich sofort merkte. Mit dem Hinweis auf eine Reise erklärte ich alles und war nun sicher, dass über den engsten Kreis der Beteiligten noch kein Gerücht von meiner veränderten Lebensweise gedrungen war.
Später kamen noch entferntere Bekannte durch den Wartesaal, ich grüßte sie, sicher geworden, mit kurzem freundlichem Kopfnicken und einer Bewegung der Hand. Der Kellner aber musste mir, je näher der Uhrzeiger der Neun rückte, noch eine und schließlich eine dritte Karaffe Kognak bringen – mochte er von mir denken, was er wollte. So bald würde ich wohl kaum wieder sein Gast.
Fünf Minuten vor neun hatte ich bezahlt, stand auf, nahm meinen Koffer und ging in die Stadt. Ich ging die Bahnhofstraße entlang, dann ohne Scheu durch unsere Hauptpromenade, die Ulmenallee, bis zum Marktplatz, an dem die Bank liegt. Hier war ich mitten in Feindesgelände: Gerade gegenüber der Bank liegt das Rathaus, in dessen Erdgeschoss sich die Polizeiwache befindet, die heute Nacht meinetwegen wohl alarmiert wurde, und eine Minute vom Marktplatz entfernt mein eigenes Geschäft, dem vielleicht dieser mit Kornsäcken beladene Bauernwagen zurollte. Ich war doch recht aufgeregt und trocknete mir, ehe ich die Bank betrat, meine schweißnassen Hände mit dem Taschentuch ab. Dann trat ich ein.
Im Schalterraum waren, wie mich ein Blick belehrte, zu dieser Zeit direkt nach Öffnung erst ein paar belanglose Bürojünglinge und -mädchen, mit Papieren in den Händen. Ich setzte den Koffer ab, hängte meinen Hut an den Haken und ging zu dem noch freien Schalter, an dem der Buchhalter saß, der mein Konto führte. Ich sagte ihm lächelnd »Guten Morgen«, teilte mit, dass ich eben von einer längeren Reise zurückgekehrt sei (wobei ich auf meinen Koffer an der Tür deutete) und dass ich mich gerne über den Stand meines Kontokorrent-Guthabens unterrichtet hätte. Und während ich das alles leichthin, ohne jedes Stocken sagte, prüfte ich, innerlich zitternd, sein Gesicht, suchte nach irgendeinem Anzeichen von Misstrauen, Argwohn, Zweifel.
Aber nichts von alledem war dem jungen Menschen anzusehen, willig schlug er das Buch auf, rechnete einen Augenblick mit dem Bleistift einige Zahlen zusammen und sagte dann ganz gleichgültig, dass der Stand meines Guthabens sich augenblicklich auf Siebentausendachthundert und einige Mark und Pfennige belaufe.
Kaum konnte ich eine Gebärde freudiger Überraschung verbergen. So viel hatte ich in meinen kühnsten Träumen nicht erwartet. Wie Magda das fertiggebracht hatte, war mir einigermaßen rätselhaft; wahrscheinlich war bereits die Zahlung der Gefängnisverwaltung für geliefertes Tauwerk eingegangen, aber auch sie konnte nicht annähernd so viel ausmachen. Nun, jedenfalls war, sagte ich mir, meine freudige Erregung unterdrückend, Geld genug da, genug für das Geschäft und genug vor allem für mich und meine Pläne. Einen Augenblick kämpfte ich mit der Versuchung, den ganzen Betrag abzuheben. Aber ich bezwang mich. Ich wollte doch nicht gemein gegen Magda und das Geschäft handeln, so gemein sie sich auch gegen mich benommen hatte. Außerdem wäre eine so vollständige Entnahme, die einer Auflösung meines Kontos gleichsah, doch wohl auffällig gewesen.
All das war blitzschnell durch meinen Kopf gegangen, nun sagte ich fast beiläufig, dass ich heute eine größere Zahlung zu leisten habe, und bat um Tinte und Feder. Am Schalter stehenbleibend, schrieb ich in dem Scheckbuch, das ich aus meiner Tasche gezogen, einen Überbringerscheck auf fünftausend Mark aus und reichte ihn dem Buchhalter. Mit einem letzten Rest von Furcht prüfte ich wieder sein Gesicht, aber ohne auch nur einen Augenblick zu zögern, machte er die nötigen Buchungen, stempelte den Scheck und brachte ihn persönlich zum Kassenschalter. Auch ich ging dorthin.
Ein Gefühl unendlicher Freude, ein stolzer Triumph beseligte mich. Da hatte ich Magda bildschön hereingelegt! Dass sie so dumm gewesen war, dass sie der Bank nicht einen kleinen Wink gegeben hatte, das ließ erst meine grenzenlose Überlegenheit im rechten Lichte erscheinen. Ich hätte tanzen und schreien mögen vor Freude, nur mit Mühe bezwang ich eine Art Lachkrampf, der mich ankam.
»Wie möchten Sie das Geld, Herr Sommer?«, fragte der Kassierer mich.
»Groß, groß«, sagte ich eilig. »Das heißt in Fünfzig- und Hundertmarkscheinen. Etwa zweihundert Mark dann in kleineren Scheinen.«
In zwei Minuten hatte ich mein Geld, verwahrte es sorgfältig in meiner Brusttasche, nahm den Koffer und trat als stolzer Sieger wieder auf den Marktplatz. Gerade während ich durch die Drehtür ging, kam mir der Einfall, dass dieser Triumph unbedingt gefeiert werden müsste. Ich wollte trotz der frühen Morgenstunde in eine kleine Weinstube am Marktplatz gehen und dort zu einer oder zwei Flaschen Burgunder einen Hummer essen oder Austern oder was Rohloff eben der Jahreszeit entsprechend dahatte. Ich trete aus der Tür, und vor mir steht der unvermeidliche, der widerliche Polakowski, diese Pest meines Lebens, und sieht mich schleimig lächelnd an.
Wenn es nicht der offene Marktplatz gewesen wäre, ich hätte diesen Kerl erwürgt! So sah ich ihn nur einen Augenblick finster drohend an, fasste dann meinen Koffer fester und schlug, ohne ihn zu beachten, den Weg zum Bahnhof ein. Aber ich hörte wohl, dass er hinter mir herging, und nun vernahm ich auch schon seine verhasste schmeichelnde und flüsternde Stimme: »Lassen Sie mich doch den Koffer tragen, Herr! – Bitte, lassen Sie mich doch den Koffer tragen, Herr!«
Ich tat, als habe ich ihn nicht gehört, und schritt schneller aus. Aber plötzlich fühlte ich eine Hand neben der meinen am Koffergriff, und nun hatte schon am hellen Tage auf offener Straße Polakowski mir den Koffer aus der Hand genommen! Wütend drehte ich mich um und schrie: »Wollen Sie mir auf der Stelle den Koffer wiedergeben, Polakowski!!«
Er lächelte demütig. »Nicht so laut, Herr«, bat er flüsternd. »Die Leute gucken ja schon, das ist für Sie peinlich, Herr. Nicht für einen armen Arbeiter, wie ich es bin, aber für Sie, Herr …«
»Sie werden mir sofort den Koffer zurückgeben, Polakowski«, wiederholte ich, aber leiser, denn die Leute guckten wirklich schon.
»Nachher, nachher«, sagte er beruhigend. »Ich trage ihn gerne, Herr. Zur Bahn, nicht wahr?« Und ohne eine Antwort abzuwarten, ging er an mir vorbei und jetzt mir voraus, dem Bahnhof zu.
Mit einem Gefühl hilfloser Ohnmacht folgte ich ihm. Mit einem Hass sah ich auf die leicht vornübergebeugte Gestalt in einem dunkelblauen Jackett und auf das schlicht zurückgekämmte, leicht goldige Haar, das einen rötlich goldenen Schimmer hatte. Wie einem Mörder direkt vor seiner Tat zumute ist, das weiß ich seit jenen Minuten, die ich hinter Polakowski zum Bahnhof gegangen bin. Und ich konnte ihm nichts tun, gar nichts, er war stärker als ich, sowohl physisch wie moralisch. Er brauchte nur den nächsten Polizisten anzurufen, und ich war verloren, das ahnte er gut, der Schurke.
Wäre ich in jenen Minuten ein wenig kaltblütiger und überlegter gewesen, ich hätte Polakowski ruhig im Besitz meines Koffers gelassen und hätte mich leise in eine Seitenstraße verdrückt. Im Besitz einer so großen Geldsumme, wie ich sie in der Tasche hatte, war der Verlust des Koffers schon zu verschmerzen, er war das Lösegeld, durch das ich mich von diesem elenden Kerl freikaufte. Aber ich kam gar nicht auf diesen Gedanken, mein Blut kochte, es war nicht kalt, ich konnte nicht überlegen.
Auf dem Platz vor dem Bahnhof angekommen, ging Polakowski nicht in ihn hinein, sondern, ohne sich nach mir umzusehen, sicher, dass ich ihm wie ein Hündlein folgen würde, in die Bedürfnisanstalt, die linker Hand, etwas von Büschen versteckt, daliegt. In ihr angekommen, setzte er den Koffer nieder, zog an den Fingern, dass die Knöchel knackten, und sagte: »So, Herr, hier können wir in aller Ruhe reden.«
Ich sah mich um: Das Wasser rauschte schon in dem halben Dutzend Becken, aber die Kundschaft fehlte noch zu dieser frühen Stunde. Polakowski hatte recht: Hier konnten wir in aller Ruhe sprechen. »Und das wollen wir auch!«, rief ich zornig. »Was bilden Sie sich eigentlich ein, Polakowski, dass Sie mir ständig nachlaufen und nachspionieren. Heute Nacht schon und nun wieder …«
»Nachspionieren?« wiederholte er widerlich vorwurfsvoll. »Aber Herr, ich habe Ihnen Ihren Korn nachgebracht.« Und er zog wirklich die Flasche aus der Hosentasche. »Sie haben ihn heute Morgen vergessen. Ich aber bin ein ehrlicher Mann. Ich habe zu meiner Frau gesagt: ›Der Herr hat den Korn bezahlt, er soll ihn auch bekommen.‹ So bin ich.« Er hielt mir die Flasche hin. »Trinken Sie doch, Herr. Ich habe schon aufgekorkt, der Pfropfen sitzt ganz lose.«
Ich machte eine wütende Gebärde.
Er ließ sich nicht entmutigen, er hielt mir die Flasche wieder hin. »Trinken Sie doch«, schmeichelte er wieder, »Sie sind ein so netter Herr, wenn Sie ein bisschen getrunken haben; es bekommt Ihnen gar nicht, wenn Sie nüchtern sind, dann sind Sie immer so gereizt …« Er zog den Pfropfen selbst aus der Flasche und rieb mit seinem feuchten Ende am Flaschenhals hin und her. »Hören Sie, Herr«, sagte er lachend, »der Schnaps ruft nach Ihnen …«
Und wahrhaftig, es ist mir heute unbegreiflich, aber mit seinem albernen Getue hatte mich doch der Kerl wirklich wieder herumgekriegt. Selber jetzt lachend, griff ich zur Flasche, rief: »Sie elender Schurke, Sie!«, und trank, trank viel und lange. Dann setzte ich die Flasche ab, korkte sie zu, verwahrte sie nun in der eigenen Hosentasche und fragte: »Also, was willst du eigentlich von mir, Polakowski? Hast du nicht alles bekommen, was du zu kriegen hast?«
»Davon reden wir nicht, Herr«, rief Polakowski eifrig. »Von solchen Kleinigkeiten reden wir nicht. Ich weiß, Sie sind ein Ehrenmann, Sie sind ein wirklich nobler Mann. Sie können’s nicht übers Herz bringen, einen armen Arbeiter im Elend verkommen zu lassen …«
»Was heißt das, Polakowski?«, fragte ich sehr aufmerksam. »Ich glaube doch, du hast schon genug und übergenug an mir verdient. Wenn ich an meine Goldsachen denke …«
Er achtete nicht darauf. »Sehen Sie, Herr«, fing er mit seiner einschmeichelndsten Stimme an und ließ die Finger knacken, dass es ein Ekel war, »so ein Mensch wie ich ist bloß wie ein Stück Vieh, im Mist geboren und kommt nie aus dem Mist heraus; so ein feiner Mann wie Sie kann sich das gar nicht recht vorstellen.«
»Ich kann mir eine ganze Menge von dir vorstellen, Polakowski«, sagte ich grimmig. »Und mit Mist hat das tatsächlich zu tun.«
Wieder achtete er nicht auf mich. Wirklich eindringlich und überzeugt sagte er: »Und wenn so ein Stück Vieh, Herr, ein Geschäft sieht, das ihn aus dem Mist herausholt für sein ganzes Leben, ja, Herr, da kann’s kein Besinnen geben, da wird das Geschäft gemacht, Herr!« Er sah mich an und wiederholte – diesmal aber war nichts Sanftes und Einschmeichelndes in seiner Stimme: »Das Geschäft wird gemacht, Herr, und gehe es auf Leben und Tod!«
Innerlich erzitterte ich vor der wilden Drohung in seiner Stimme, äußerlich aber fragte ich ganz ruhig: »Und wie soll denn dieses Geschäft aussehen, Polakowski?«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen, als wische er dort ein böses Bild fort. Er fing an zu lächeln, schmeichelnd und sanft, er hatte sich wieder in der Gewalt. »Wie das Geschäft aussehen soll, Herr?« Er lächelte noch stärker, seine Finger knackten. »Der Herr weiß am besten, wie viel Geld er von der Bank abgeholt hat und was er mir davon geben will.«
Ich war starr über diese Frechheit, ich hatte erwartet, dass er das Silber für sich beanspruchen würde, und war schon halb und halb bereit gewesen, es ihm zuzugestehen, aber dass er einen Anteil von meinem kostbaren Geld verlangen würde, das hatte ich nicht erwartet. »Sie sind ein Narr, Polakowski«, lachte ich. »Außerdem haben Sie schlecht aufgepasst, ich habe auf der Bank nicht einen Pfennig Geld bekommen, meine Frau hat das Konto für mich sperren lassen, ich darf dort kein Geld mehr abheben, verstehen Sie?«
Er hörte mir mit düsterem Schweigen zu.
Ich griff in die Seitentasche des Jacketts und zog den Rest des Geldes hervor, das ich aus Magdas Kassette genommen hatte. »Da, sehen Sie selbst, das ist alles Geld, das ich noch besitze.« Ich hielt ihm das Geld hin.
Sein dunkler argwöhnischer Blick wanderte von meinem Gesicht zu dem Geld in meiner Hand. »Wie viel Geld ist das?«, fragte er mit stockender Stimme. »Zeigen Sie mal!« Er stand ganz nahe vor mir, die Augen nahe über dem Geld.
Dann, mit einer mich völlig überraschenden, plötzlichen Bewegung, griff er in meine Brusttasche und riss die Geldpakete heraus. Ein oder zwei fielen zur Erde, auf den nassen, schmierigen Steinboden des Pissoirs – wir bückten uns gleichzeitig nach ihnen. Seine Hände waren schneller, aber ich griff, das Vergebliche meiner Nachsuche einsehend, nach seinem Hals, ich krallte mich an ihm fest, ich war entschlossen, nicht eher loszulassen, bis er nachgegeben, bis ich das Geld zurückhatte … Er versuchte, sich zu wehren, aber an der Abwehr hinderte ihn seine Gier, in beiden Händen hielt er Geld, das er nicht wieder loslassen wollte … Er schnellte das Knie hoch, gegen meinen Bauch … Einen Augenblick später wälzten wir uns beide am Boden, ich immer noch an seinem Hals hängend, er wild mit den Gliedern zuckend, wie ein Fisch, den der Angler an Land gezogen … Dann wurden seine Glieder schlaff, aus seiner Kehle kam ein schreckliches Röcheln … Ich ließ ihn los und mühte mich, seine Hand aufzubrechen …
Ich möchte wohl wissen, was der biedere Postvorsteher Winder sich gedacht hat, als er da zwei Männer auf dem Boden des Pissoirs vorfand, in wildem Kampf begriffen, während er doch nur ein friedliches Morgengeschäft verrichten wollte! »Aber meine Herren! Ich bitte Sie!« rief er mit hoher erschrockener Stimme aus. »Hier auf der Toilette! Meine Herren!«
Polakowski, der wieder Luft bekommen hatte, sah seine Chance – mit einem Satz war er hoch, griff sich den Koffer und war, den Postvorsteher zur Seite stoßend, aus der Toilette, keiner hatte bis drei zählen können, so schnell ging das.
Ich stand taumelig und benommen auf, zu irgendeinem raschen Entschluss unfähig. Ich trat an eines der Becken, dem verstörten und empörten Vorsteher den Rücken kehrend. Der sagte: »Herr Sommer, wenn ich nicht irre? Ich wundere mich, Herr Sommer, ich muss mich sehr über Sie wundern!« Einen Augenblick fühlte ich noch seinen stechenden Blick in meinem Rücken, dann klappte eine Lokustür, ein Riegel klirrte, Kleider raschelten – ich war allein, meinen Abgang zu bewerkstelligen.
Und gerade in diesem Moment, da ich, völlig verzweifelt, ohne Geld, die Anstalt verlassen wollte, fiel mein Blick seitlich auf ein blaues Bündel, und – siehe da – hier lag, verdrückt und beschmutzt, ein Paket Hundertmarkscheine, ein runder Tausender in zehn Hundertmarkscheinen!
Keiner, der soeben einen schönen rindsledernen Handkoffer mit seinen besten Sachen und allem Silber, keiner, der soeben von fünftausend Mark viertausend verloren hat, kann sich auch nur eine leise Vorstellung davon machen, ein wie glücklicher Mann in einem Abteil zweiter Klasse eine Viertelstunde später von seiner Heimatstadt fortfuhr. Weiß es der Himmel, wie das in mir funktionierte, aber ich bildete mir wahrhaftig ein, ich sei den elenden Polakowski ausnehmend billig losgeworden und könne dem Himmel gar nicht genug danken, dass ich wenigstens noch tausend Mark aus diesem Zusammenbruch gerettet hatte.
Freilich darf ich nicht verschweigen, dass zu diesem Glücksgefühl ganz wesentlich der Umstand beitrug, dass ich in meiner Hosentasche trotz des Ringkampfes die Kornflasche heil und unausgelaufen vorgefunden hatte. Ich hatte bereits einen kräftigen Schluck aus ihr genommen, und dieser Schluck trug wohl wesentlich zu meiner optimistischen Beurteilung der Sachlage bei. Ich sah behaglich in das vorübergleitende grüne Land mit weidenden Kühen und ruhenden Wäldern und machte mir über meine Zukunft auch nicht die geringsten Sorgen mehr. Vorderhand hatte ich genug zu leben (und zu trinken), und was dann kam, würde sich auch finden. Irgendwie würde ich schon durchkommen; ich bildete mir nämlich ein, dass ich die Abenteuer des heutigen Tages mit vollem Erfolg bestanden hätte, wobei ich die Besuche im Wartesaal und auf der Bank als Siege zu meinen Gunsten buchte, während ich die Niederlage bei Polakowski als unvermeidbares Naturereignis mit gelassenem Achselzucken hinnahm.
Gegen Mittag war ich an meinem Bestimmungsort (den ich nur gewählt hatte, um etwaige Nachforscher irrezuführen) angelangt. Es war ein kleiner, noch wenig bekannter, aber sehr gepflegter Luftkurort. Ich aß in einem Hotel am Wasser grünen Aal mit einer Dillsauce und Gurkensalat, wobei ich mir die Sonne, ohne zu rücken, aufs Haupt scheinen ließ, trank einen schönen, voll ausgereiften Burgunder und stellte Betrachtungen darüber an, ein wie behagliches Leben ich doch jetzt als ein von den Geschäften zurückgezogener Privatmann und halber Junggeselle führen könnte.
Nach dem Essen bummelte ich durch das Städtchen, kaufte eine Aktentasche, zwei bunte seidene Pyjamas, wie ich sie nie so papageienhaft besessen, raffiniertestes Toilettenzeug, eine wohlriechende Seife und ein französisches herbes Parfüm, mit dem ich mich versuchsweise gleich begießen ließ – und scherzte dabei in einer so weltmännisch überlegenen, liebenswürdigen Art mit den jungen Verkäuferinnen, dass ich jedenfalls einen lebhaften Respekt vor meinen bislang ungenützten Talenten als Herzensbrecher und Schwerenöter bekam. Als logische Folgerung kaufte ich mir sofort danach in einer Drogerie wieder einmal wohlriechende Mundpillen.
Dann suchte ich das angesehenste Hotel am Platze auf, das auch mit einer Weinhandlung verbunden war, um dort einigen Schnaps zu kaufen. Ich hatte das Glück, den Besitzer selbst anzutreffen, einen wohlbeleibten, weißhaarigen Mann, dessen blühend rotes Gesicht von mancher in stiller Behaglichkeit geleerten Burgunderflasche Zeugnis ablegte. Er lächelte ein wenig über meinen primitiven Kornwunsch, empfahl und verkaufte mir einen bernsteingelben sächsischen Korn und lenkte dann meine Aufmerksamkeit auf ein sehr hochprozentiges Schwarzwälder Zwetschgenwasser, einen richtigen Holzfällerschnaps bei eisiger Winterkälte, wie er ihn nannte.
Er schenkte mir ein Probegläschen ein, und ich muss gestehen, dieser Probeschluck begeisterte mich so, dass ich dem ersten Glas in rascher Folge eine ganze Reihe weiterer folgen ließ. Dies war gerade das Richtige für mich, eine Steigerung weit über meine bisherigen primitiven Erfahrungen hinaus: Brennend und scharf und doch etwas von der Süße reifen Obstes in sich bergend. Ich kaufte gleich fünf Flaschen, ein handliches Paket wurde aus meinem Einkauf gemacht, und so wanderte ich, nachdem ich in einem Laden noch einen besonders kräftigen Korkenzieher erstanden hatte, wohlausgerüstet und in munterster Stimmung wieder dem Bahnhof zu.
Wieder reiste ich und fuhr dieselbe Strecke, die ich heute früh gekommen war; ich fuhr wieder meiner Vaterstadt zu. Eine Station vorher aber stieg ich aus und marschierte, schon fiel die Nacht ein, kaum eine halbe Stunde weit zu jenem Landgasthof, in dem Elinor, die Königin des Alkohols, wohnte. Vergessen war die missglückte Nacht in ihrer Kammer, vergessen das beschämende Gelage, in dem mich vor den Augen der Ärzte alle meine Zechkumpane verlassen hatten, vergessen waren die so boshaft ins Auto hineingereichten Schuhe! Der Alkohol hat kein Gedächtnis, macht er zornig, so kann ein Wort, ein Gläschen schon diesen Zorn wieder auslöschen – ich wusste nur, dass nach meinen Erfahrungen mit Magda und Polakowski jetzt Elinor meine Zuflucht war. Bei ihr wollte ich bleiben, oder mit ihr wollte ich reisen – das war alles, was ich noch an Lebensglimmen hatte, und es schien mir völlig genug.