Hans Fallada – Gesammelte Werke

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4

Ich war mir klar dar­über, dass ich vor mei­ner Frau nun nicht nur den Fehl­schlag in den Le­bens­mit­tel­lie­fe­run­gen, son­dern auch mein Trin­ken ver­heim­li­chen muss­te. Aber ich fühl­te mich im Au­gen­blick der gan­zen Welt so über­le­gen, dass ich über­zeugt war, dies wür­de mir nicht die ge­rings­te Schwie­rig­keit ma­chen. Ich ver­weil­te län­ger als sonst im Ba­de­zim­mer und wusch mich nicht nur be­son­ders sorg­fäl­tig, son­dern putz­te mir auch lan­ge und gründ­lich die Zäh­ne, um je­den Al­ko­hol­ge­ruch zu ver­trei­ben. Ich wuss­te noch nicht, wel­che Hal­tung ich Mag­da ge­gen­über ein­neh­men soll­te, aber ein dunkles Ge­fühl warn­te mich da­vor, zu ge­sprä­chig zu sein – wo­für ich eine star­ke Nei­gung ver­spür­te –, bes­ser wür­de viel­leicht eine ru­hi­ge Pose ge­hal­te­nen Erns­tes sein.

Die Sup­pe war schon auf­ge­füllt, und Mag­da er­war­te­te mich be­reits, als ich ein­trat. Ich gab ihr flüch­tig die Hand und mach­te ein paar Be­mer­kun­gen über das herr­li­che Früh­lings­wet­ter. Sie stimm­te mir zu und er­zähl­te ei­ni­ges von den jetzt drin­gen­den Be­stel­l­ar­bei­ten im Gar­ten, auch bat sie mich, ihr heu­te Abend eine be­stimm­te Ge­mü­se­sä­me­rei, de­ren Feh­len sie eben erst be­merkt habe, aus der Stadt mit­zu­brin­gen. Ich sag­te ihr promp­tes­te Er­le­di­gung zu, und so ka­men wir ohne jede Fähr­nis über die Sup­pe. Ich merk­te wohl, dass mich Mag­da ab und zu prü­fend, bei­na­he mit stum­mer Fra­ge von der Sei­te an­sah, aber in dem Ge­fühl, dass mir un­mög­lich et­was an­ge­merkt wer­den konn­te und dass al­les vor­züg­lich ging, be­ach­te­te ich die­se Bli­cke nicht. Üb­ri­gens er­in­ne­re ich mich, dass ich an die­sem Mit­tag die Sup­pe mit be­son­de­rem Ap­pe­tit aß.

Else räum­te die Tel­ler ab und flüs­ter­te da­bei mei­ner Frau ir­gend­ei­ne Kü­chen­fra­ge zu, durch die Mag­da ver­an­lasst wur­de, auf­zu­ste­hen und mit Else in die Kü­che zu ge­hen, wohl um ir­gen­det­was ab­zu­schme­cken oder zu tran­chie­ren. Ich blieb al­lein im Spei­se­zim­mer, auf den Fleisch­gang war­tend. Ich dach­te an nichts Be­son­de­res, ich war von ei­ner hei­te­ren Zufrie­den­heit er­füllt, das Le­ben ge­fiel mir. Kei­ne Ah­nung hat­te ich von dem, was ich nun so­fort tun wür­de.

Plötz­lich – mir selbst über­ra­schend – stand ich auf, schlich ei­lig auf den Ze­hen­spit­zen zur An­rich­te, öff­ne­te die un­te­re Tür, und rich­tig – da stand noch die Rot­wein­fla­sche, die wir an je­nem ver­häng­nis­vol­len No­vem­be­r­abend, als un­se­re Strei­te­rei­en be­gan­nen, an­ge­trun­ken hat­ten! Ich hob sie ge­gen das Licht: Sie war, wie ich es nicht an­ders er­war­tet hat­te, noch halb ge­füllt. Ich hat­te kei­ne Zeit zu ver­lie­ren, je­den Au­gen­blick konn­te Mag­da zu­rück­kom­men. Mit den Nä­geln zog ich den ziem­lich weit in den Hals ge­trie­be­nen Kor­ken her­aus, setz­te die Fla­sche an den Mund und trank, trank aus der Fla­sche wie ein al­ter Säu­fer! (Aber was soll­te ich tun? Für die Be­nut­zung ei­nes Gla­ses war kei­ne Zeit, ganz ab­ge­se­hen da­von, dass ein be­nutz­tes Glas eine ver­rä­te­rische Spur ge­we­sen wäre.) Ich nahm drei, vier sehr kräf­ti­ge Schlu­cke, hielt die Fla­sche wie­der ge­gen das Licht und sah, dass in ihr nur ein schä­bi­ger Rest war. Ich trank auch ihn aus, ver­kork­te die Fla­sche wie­der, schloss die An­rich­ten­tür ab und schlich an mei­nen Platz zu­rück.

In mir wog­te es, mein Ma­gen, ge­reizt durch die plötz­li­che star­ke Al­ko­hol­zu­fuhr, mach­te ei­ni­ge krampf­haf­te Be­we­gun­gen, vor mei­nen Au­gen lag eine Art feu­ri­ger Ne­bel, und Stirn und Hän­de wa­ren schweiß­nass. Ich hat­te ge­wal­tig zu tun, bis zur Rück­kehr Mag­das ei­ni­ger­ma­ßen wie­der mei­ner Herr zu wer­den. Dann saß ich mit ei­nem Ge­fühl an­ge­neh­mer Hin­ge­ge­ben­heit an mei­nen Rausch zu Tisch, und nur die Not­wen­dig­keit, we­nigs­tens pro for­ma et­was zu es­sen, mach­te mir Schwie­rig­kei­ten. Mein Ma­gen schi­en ein sehr zer­brech­li­ches Ding, da­bei je­der­zeit be­reit, sich zu em­pö­ren; je­den ein­zel­nen Bis­sen muss­te ich ihm mit äu­ßers­ter Vor­sicht zu­füh­ren und be­dau­er­te da­bei, durch die­se aus äu­ße­ren Rück­sich­ten ge­bo­te­ne Nah­rungs­zu­fuhr den still wir­ken wol­len­den Rausch zu stö­ren.

Da­ran, dass es viel­leicht gut wäre, ein paar Wor­te mit Mag­da zu wech­seln, dach­te ich über­haupt nicht. Da­für be­schäf­tig­te mich ein an­de­res Pro­blem, das mir plötz­lich schwe­re Sor­gen be­rei­te­te. Wohl stand die Rot­wein­fla­sche wie­der ver­korkt in der An­rich­te, aber bei der Ge­nau­ig­keit, mit der Mag­da ih­ren Haus­halt führ­te, muss­te sie bin­nen Kur­zem ihre Lee­re mer­ken. Un­mög­lich konn­te ich das zu­las­sen, ich muss­te recht­zei­tig da­ge­gen Vor­keh­run­gen tref­fen. Aber wie un­glaub­lich schwie­rig das war!

Die bes­te Lö­sung wür­de sein, gleich heu­te Nach­mit­tag eine an­de­re Fla­sche Rot­wein zu kau­fen, etwa die Hälf­te fort­zu­schüt­ten und sie an die Stel­le der aus­ge­trun­ke­nen zu stel­len. Aber wann soll­te ich das tun, wie kam ich an das Bü­fett, da ich doch den Nach­mit­tag über im Ge­schäft sein muss­te, und da Mag­da und ich den Abend stets ge­mein­sam ver­brach­ten, sie mit ei­ner Hand­ar­beit, ich mit mei­nen Zei­tun­gen be­schäf­tigt – wann? Und wo blieb ich mit der lee­ren Fla­sche? Wür­de ich denn über­haupt einen Wein glei­cher Mar­ke zu kau­fen be­kom­men? Erin­ner­te sich Mag­da der Sor­te, der Art des Eti­ketts? Am bes­ten wür­de es sein, etwa um Mit­ter­nacht heim­lich auf­zu­ste­hen, das Eti­kett der al­ten Fla­sche vor­sich­tig ab­zu­lö­sen und auf die vol­le auf­zu­kle­ben! Aber wenn mich Mag­da da­bei über­rasch­te! Und hat­ten wir über­haupt Leim im Hau­se? Ich wür­de in mei­ner Ak­ten­ta­sche wel­chen aus dem Büro ein­schmug­geln müs­sen!

Je län­ger ich dar­über nach­dach­te, um so kom­pli­zier­ter wur­de die gan­ze An­ge­le­gen­heit, ei­gent­lich war sie schon ganz un­lös­bar. Es war eine sehr ein­fa­che Sa­che ge­we­sen, die Fla­sche leer zu trin­ken, aber ich hät­te vor­her dar­an den­ken sol­len, wie schwie­rig es sein wür­de, den Zu­stand wie vor­her her­zu­stel­len. Wenn ich die Fla­sche ein­fach zer­brä­che und vor­gä­be, ich hät­te sie beim Su­chen nach ir­gend­was um­ge­sto­ßen? Aber es war kein Wein mehr in ihr, der hät­te aus­flie­ßen kön­nen! Oder konn­te ich es wa­gen, sie ein­fach halb mit Was­ser zu fül­len, und die ei­gent­li­che Nach­fül­lung auf einen spä­te­ren Tag ver­schie­ben?

Es ging im­mer wir­rer in mei­nem Kopf zu, nicht nur das Es­sen, auch Mag­da hat­te ich ganz und gar über mei­nen Ge­dan­ken ver­ges­sen. So schrak ich völ­lig zu­sam­men, als sie mich mit ech­ter Be­sorg­nis in der Stim­me frag­te: »Was ist mit dir, Er­win? Bist du krank? Hast du Fie­ber – du siehst so rot aus?«

Ich griff gie­rig nach die­sem Ret­tungs­an­ker und sag­te ru­hig: »Ja, ich glau­be wirk­lich, ich bin nicht ganz in Ord­nung. Ich glau­be, ich lege mich am bes­ten einen Au­gen­blick hin. Ich habe – ich habe sol­chen Blu­tandrang im Kopf …«

»Ja, Er­win, das tu. Lege dich gleich ins Bett. Soll ich Dr. Mans­feld an­ru­fen?«

»Ach, Un­sinn!«, rief ich är­ger­lich. »Ich will mich nur eine Vier­tel­stun­de auf das Sofa le­gen, ich wer­de gleich wie­der in Ord­nung sein. Ich muss dann auch so­fort ins Ge­schäft.«

Sie ge­lei­te­te mich wie einen Schwer­kran­ken zum Sofa, half mir, mich hin­zu­le­gen, und leg­te eine De­cke über mich. »Hast du Är­ger im Ge­schäft ge­habt?«, frag­te sie ängst­lich. »Sage mir doch, was dich be­drückt, Er­win. Du bist ganz ver­än­dert!«

»Nichts, nichts«, sag­te ich, plötz­lich är­ger­lich. »Ich weiß nicht, was du willst. Ein biss­chen Schwin­del oder Blu­tandrang – und gleich soll et­was mit dem Ge­schäft sein! Pri­ma geht es mit dem Ge­schäft, ein­fach pri­ma!«

Sie seufz­te lei­se. »Also dann schlaf gut, Er­win!«, sag­te sie. »Soll ich dich we­cken?«

»Nein, nein, nicht nö­tig. Ich wa­che von selbst auf – in ei­ner Vier­tel­stun­de oder so …«

Da­mit war ich end­lich al­lein; ich leg­te den Kopf zu­rück, und der Al­ko­hol floss nun in un­ge­hemm­ter frei­er Wel­le ganz durch mich hin­durch, mit ei­ner sam­te­nen Schwin­ge be­deck­te er alle mei­ne Sor­gen und Küm­mer­nis­se, selbst den klei­nen, ganz fri­schen Är­ger, dass ich Mag­da so un­nö­tig einen »pri­ma« Gang der Ge­schäf­te vor­ge­lo­gen hat­te, schwemm­te er fort. Ich schlief … Ich schlief? Nein, ich war aus­ge­löscht. Ich war nicht mehr …

5

Es fängt schon an zu däm­mern, als ich er­wa­che. Ich wer­fe einen er­schro­cke­nen Blick auf die Uhr: Es ist zwi­schen sie­ben und acht Uhr abends. Ich lau­sche in das Haus, nichts rührt sich. Ich rufe erst lei­se, dann lau­ter: »Mag­da!« Aber sie kommt nicht. Ich ste­he müh­sam auf. Ich füh­le mich am gan­zen Kör­per zer­schla­gen, mein Kopf ist dumpf und mei­ne Mund­höh­le tro­cken und pel­zig. Ei­nen Blick wer­fe ich in das Spei­se­zim­mer ne­ben­an: Kein Abend­brot­tisch ist ge­deckt, und dies ist die Stun­de, zu der wir sonst nacht­mah­len. Was ist los? Was ist ge­sche­hen, wäh­rend ich schlief? Wo ist Mag­da?

Nach ei­ni­gem Über­le­gen tas­te ich mich nach der Kü­che hin; das Ge­hen fällt mir schwer, es ist, als sei­en alle mei­ne Glie­der steif und ver­bo­gen, sie be­we­gen sich so schwer in ih­ren Ge­len­ken.

Ich habe halb er­war­tet, auch die Kü­che leer und halb­dun­kel zu fin­den, aber in ihr brennt das Licht, und am Tisch steht Else, mit ir­gend­ei­ner Plät­te­rei be­schäf­tigt. Sie sieht er­schro­cken auf, als ich her­ein­kom­me, und ihr Ge­sichts­aus­druck wird auch nicht zu­trau­li­cher, als sie sieht, dass ich es bin. Ich kann mir wohl den­ken, dass ich et­was wüst aus­se­he. Plötz­lich habe ich das Ge­fühl, am gan­zen Kör­per schmie­rig zu sein. Ich hät­te zu­erst ins Ba­de­zim­mer ge­hen müs­sen, frü­her hät­te ich mich nie so ge­hen las­sen.

 

»Wo ist mei­ne Frau, Else?«, fra­ge ich.

»Die gnä­di­ge Frau ist in die Stadt ge­gan­gen«, ant­wor­tet Else, mit ei­nem kur­z­en, fast ängst­li­chen Auf­bli­cken zu mir.

»Aber es ist Abend­brot­zeit, Else!«, sage ich vor­wurfs­voll, ob­wohl ich nicht die ge­rings­te Nei­gung habe, jetzt ein Abendes­sen ein­zu­neh­men.

Else zuckt erst die Ach­seln, dann sagt sie, wie­der mit ei­nem ra­schen Auf­blick: »Es ist vom Ge­schäft an­ge­ru­fen wor­den; ich glau­be, Ihre Frau ist ins Ge­schäft ge­gan­gen …«

Ich schlu­cke müh­sam, ich füh­le, wie mein Mund tro­cken ge­wor­den ist. »Ins Ge­schäft?«, mur­me­le ich. »O du lie­ber Gott! Was will denn mei­ne Frau im Ge­schäft, Else?«

Sie zuckt die Ach­seln. »Ich weiß doch nicht, Herr Som­mer«, sagt sie, »die gnä­di­ge Frau hat mir nichts ge­sagt.« Sie be­sinnt sich, dann setzt sie hin­zu: »Die ha­ben gleich nach drei an­ge­ru­fen, und seit­dem ist Ihre Frau fort …«

Über vier Stun­den ist Mag­da also schon im Ge­schäft – ich bin ver­lo­ren. Wie­so ich ver­lo­ren bin, weiß ich nicht, aber dass ich’s bin, das weiß ich. Ich wer­de schwach in den Kni­en, ich stol­pe­re ein paar Schrit­te vor­wärts und las­se mich schwer auf einen Kü­chen­stuhl fal­len. Den Kopf wer­fe ich auf den Kü­chen­tisch. »Es ist aus und vor­bei, Else«, stöh­ne ich, »ich bin ver­lo­ren. Ach, Else …«

Ich höre, wie sie mit ei­nem er­schro­cke­nen Laut das Plätt­ei­sen auf­setzt, dann kommt sie zu mir ge­gan­gen und legt die Hand auf mei­ne Schul­ter. »Was ist denn, Herr Som­mer?«, fragt sie. »Ist Ih­nen nicht gut?«

Ich sehe sie nicht, ich hebe das Ge­sicht nicht aus dem Schutz mei­nes Ar­mes, ich schä­me mich vor die­sem jun­gen Ding mei­ner her­vor­quel­len­den Trä­nen. Es ist ja al­les aus und vor­bei, al­les ver­lo­ren, Fir­ma, Ehe, Mag­da – ach, hät­te ich nur heu­te Mit­tag nicht auch noch den Rot­wein aus­ge­trun­ken, da­von ist erst al­les so schlimm ge­wor­den, ohne das wäre Mag­da nie ins Ge­schäft ge­gan­gen. (Flüch­ti­ger Ne­ben­ge­dan­ke: Das mit der lee­ren Rot­wein­fla­sche muss ich auch noch in Ord­nung brin­gen!)

Else schüt­telt mich leicht an der Schul­ter. »Herr Som­mer«, sagt sie, »las­sen Sie sich doch nicht so ge­hen! Le­gen Sie sich noch einen Au­gen­blick hin, und ich ma­che Ih­nen un­ter­des so­fort Abendes­sen.«

Ich schüt­te­le den Kopf. »Ich will kein Abendes­sen, Else! Mei­ne Frau müss­te jetzt hier sein, es ist doch Zeit …«

»Oder«, sagt Else über­re­dend, »wol­len Sie hier bei mir in der Kü­che ein biss­chen es­sen, Herr Som­mer?« Selbst et­was be­denk­lich: »Wo Ihre Frau doch fort ist …«

Die­ser ganz un­er­hör­te Vor­schlag hat ge­ra­de durch sei­ne Neu­heit et­was Be­ste­chen­des. Hier in der Kü­che bei Else es­sen – was Mag­da wohl dazu sa­gen wür­de? Ich hebe den Kopf und sehe Else zum ers­ten Mal rich­tig an. Ich habe sie noch nie so an­ge­se­hen, für mich war sie im­mer nur ein dunk­ler Schat­ten mei­ner Frau in den hin­te­ren Re­gio­nen des Hau­ses. Jetzt sehe ich, dass Else ein recht net­tes dun­kel­haa­ri­ges Mäd­chen von etwa sieb­zehn Jah­ren und et­was ro­bus­ter Schön­heit ist. Sie hat un­ter ei­ner hel­len Blu­se eine vol­le Brust, und bei dem Ge­dan­ken, wie jung die­se Brust ist, füh­le ich eine Wel­le von Hit­ze über mich lau­fen.

Aber dann be­sin­ne ich mich. All dies ist un­mög­lich, schon mein Sich-vor-Else-Ge­hen­las­sen eben war ganz un­mög­lich. »Nein, Else«, sage ich und ste­he auf. »Es ist sehr nett von dir, dass du mich ein we­nig trös­ten willst, aber ich gehe jetzt bes­ser auch ins Ge­schäft. Soll­te ich mei­ne Frau ver­feh­len, sage ihr bit­te, ich sei auch ins Ge­schäft ge­gan­gen.« Ich wen­de mich zum Ge­hen.

Plötz­lich wird es mir schwer, aus der Kü­che und von die­sem freund­li­chen Mäd­chen fort­zu­ge­hen. Ich ste­he da noch einen Au­gen­blick un­ter der Tür und sehe sie an. Es fällt mir auf, wie blass ihr Ge­sicht ist und wie gut die dunklen, hoch­ge­schwun­ge­nen Au­gen­brau­en dazu pas­sen. »Ich habe vie­le Sor­gen, Else«, sage ich un­ver­mit­telt, »und ich habe kei­nen, Else, der mir bei­steht.« Ich wie­der­ho­le mit Nach­druck: »Kei­nen und kei­ne, Else, du ver­stehst mich?!«

»Ja, Herr Som­mer«, ant­wor­tet sie lei­se.

»Ich dan­ke dir, Else, dass du so nett zu mir warst«, sage ich noch und gehe. Erst als ich mich im Ba­de­zim­mer zu­recht­ma­che, fällt mir ein, dass ich so­eben Mag­da ver­ra­ten habe. Ver­ra­ten und be­tro­gen. Be­tro­gen und be­lo­gen. Aber gleich zu­cke ich die Ach­seln: Recht so! Im­mer tiefer hin­ab. Im­mer schnel­ler hin­ein. Nun gibt es doch kein Hal­ten mehr!

6

Vor­sich­tig ging ich den Weg zu mei­nem Ge­schäft, vor­sich­tig, denn ich woll­te es um je­den Preis ver­mei­den, Mag­da auf der Stra­ße zu tref­fen. Dann stand ich auf der an­de­ren Stra­ßen­sei­te im Schat­ten ei­ner Ein­fahrt und sah zu den fünf Par­ter­re­fens­tern mei­ner Fir­ma hin­über. Zwei, mein Chef­bü­ro, wa­ren er­leuch­tet, und manch­mal sah ich auf den Milchglas­schei­ben die Schat­ten­ris­se zwei­er Ge­stal­ten: Mag­das und die mei­nes Buch­hal­ters Hinz­pe­ter. ›Sie ma­chen Bilanz!‹, sag­te ich mir mit ei­nem tie­fen Er­schre­cken, und doch war die­sem Er­schre­cken ein Ge­fühl der Er­leich­te­rung bei­ge­mischt, weil ich nun die Füh­rung des Ge­schäf­tes in den tat­kräf­ti­gen Hän­den Mag­das wuss­te. Das sah ihr so recht ähn­lich, so­fort nach dem Er­fah­ren der schlim­men Nach­rich­ten sich vol­le Klar­heit zu ver­schaf­fen, die Bilanz zu zie­hen!

Mit ei­nem tie­fen Seuf­zer wand­te ich mich ab und ging durch die Stadt hin­durch, aus ihr hin­aus, aber nicht mei­nem Heim zu. Was soll­te ich auf dem Büro, was in mei­nem Heim? Die Vor­wür­fe noch auf­su­chen, die mir not­wen­dig ge­macht wer­den muss­ten, eine Recht­fer­ti­gung ver­su­chen, dort, wo nichts zu recht­fer­ti­gen war? Nichts von al­le­dem – und in­dem ich wie­der in das lang­sam im­mer dunk­ler wer­den­de Land hin­aus­wan­der­te, wur­de mir mit schmerz­haf­ter Ge­wiss­heit klar, dass ich aus­ge­spielt hat­te. Ich hat­te, end­gül­tig, mei­ne Stel­lung und mei­nen Sinn im Le­ben ver­lo­ren, und ich fühl­te nicht die Kraft in mir, eine neue zu su­chen oder gar um die ver­lo­re­ne zu kämp­fen. Was soll­te ich noch? Wozu leb­te ich noch? Da ging ich da­hin, wan­der­te fort von Kon­tor, Frau, Va­ter­stadt, ließ das al­les hin­ter mir – aber ich muss­te doch ein­mal wie­der heim­keh­ren, nicht wahr? Ich muss­te mich Mag­da ge­gen­über­stel­len, ihre Vor­wür­fe an­hö­ren, mich mit Recht Lüg­ner und Be­trü­ger schel­ten las­sen, muss­te zu­ge­ben, dass ich ver­sagt hat­te, auf eine schmäh­li­che und fei­ge Art ver­sagt!

Uner­träg­lich war die­ser Ge­dan­ke, und ich fing an, mit dem Ge­dan­ken zu spie­len, gar nicht wie­der heim­zu­keh­ren, in die wei­te Welt hin­aus­zu­ge­hen, ir­gend­wo im Dun­kel un­ter­zut­au­chen, in ei­nem Dun­kel, in dem man auch un­ter­ge­hen konn­te – ohne Nach­richt, ohne letz­ten Ruf. Und wäh­rend ich mir das al­les – in leich­ter Rüh­rung über mich selbst – aus­mal­te, wuss­te ich doch, dass ich mir et­was vor­log, nie wür­de ich den Mut ha­ben, ohne Zu­re­den, ohne die Ge­bor­gen­heit des hei­mi­schen Her­des zu le­ben. Nie wür­de ich auf das ge­wohn­te wei­che Bett ver­zich­ten kön­nen, die Ord­nung des Heims, die pünkt­li­chen nahr­haf­ten Mahl­zei­ten! Ich wür­de heim­keh­ren zu Mag­da, all mei­nen Ängs­ten zum Trotz, die­se Nacht noch wür­de ich heim­keh­ren, in mein ge­wohn­tes Bett – nichts da von ei­nem Le­ben drau­ßen im Dun­kel, von ei­nem Le­ben und ei­nem Ster­ben in der Gos­se!

›A­ber‹, sag­te ich mir dann wie­der und be­schleu­nig­te mei­nen ei­li­gen Schritt noch, ›a­ber was ist denn ei­gent­lich los mit mir? Ich bin doch frü­her ein leid­lich tat­kräf­ti­ger und un­ter­neh­mungs­lus­ti­ger Mensch ge­we­sen. Ein we­nig schwach war ich stets, aber das habe ich so gut zu ver­ber­gen ge­wusst, dass es bis heu­te wohl nicht ein­mal Mag­da ge­merkt hat. Wo­her kommt die Schlaff­heit, die mich seit ei­nem Jahr im­mer stär­ker be­fällt, die mir Glie­der und Hirn lähmt, die aus mir, ei­nem im­mer leid­lich an­stän­di­gen Men­schen, einen Be­trü­ger an sei­ner Frau macht, der den Bu­sen sei­nes Haus­mäd­chens mit be­frie­dig­ter Lüs­tern­heit be­trach­tet! Der Al­ko­hol kann es nicht sein, ich trin­ke ja erst seit heu­te Schnaps, und die Schlaff­heit liegt schon so lan­ge über mir. Was ist es nur?‹

Ich riet hin und her. Ich dach­te dar­an, dass ich so­eben die Vier­zig über­schrit­ten hat­te; ich hat­te ein­mal et­was von den »Wech­sel­jah­ren des Man­nes« re­den hö­ren – aber ich wuss­te von kei­nem Mann mei­ner Be­kannt­schaft, der beim Über­schrei­ten der Vier­zig sich so ver­än­dert hat­te wie ich mich. Dann fiel mir mein lieb­lo­ses Da­sein ein. Ich hat­te im­mer nach Aner­ken­nung und Lie­be ge­dürs­tet, in al­ler ge­bo­te­nen Heim­lich­keit na­tür­lich, und ich hat­te sie in ei­nem rei­chen Maße ge­fun­den, so­wohl bei Mag­da wie bei mei­nen Mit­bür­gern. Und nun hat­te ich sie all­mäh­lich ver­lo­ren. Ich wuss­te selbst nicht, wie das al­les ge­kom­men war. Hat­te ich die­se Lie­be und die­se Aner­ken­nung ver­lo­ren, weil ich schlaff ge­wor­den war, oder war ich schlaff ge­wor­den, weil mir die­se Auf­mun­te­run­gen ge­fehlt hat­ten? Ich fand auf alle die­se Fra­gen kei­ne Ant­wort: Ich war es nicht ge­wohnt, über mich nach­zu­den­ken.

Ich ging im­mer schnel­ler, ich woll­te end­lich dort­hin kom­men, wo es Frie­den vor die­sen quä­len­den Fra­gen gab. End­lich stand ich wie­der vor mei­nem Ziel, vor dem­sel­ben Dorf­gast­haus, das ich auch an die­sem ver­häng­nis­vol­len Vor­mit­tag auf­ge­sucht hat­te; ich sah durch die Fens­ter der Wirts­stu­be nach je­nem Mäd­chen mit den blas­sen Au­gen aus, das mein Man­nes­tum nach ei­nem scham­lo­sen Blick so ge­ring ein­ge­schätzt hat­te. Ich sah es sit­zen un­ter dem trü­ben Schein ei­ner ein­zi­gen klei­nen Glüh­bir­ne, mit ir­gend­ei­ner Nä­he­rei be­schäf­tigt. Ich sah es lan­ge an, ich zö­ger­te, und ich frag­te mich, warum ich ge­ra­de es auf­ge­sucht hat­te, in ei­nem Ge­fühl schmer­zen­der, wol­lus­t­er­füll­ter Selbs­t­er­nied­ri­gung. Und auch auf die­se Fra­ge fand ich kei­ne Ant­wort.

Aber ich war all die­ses Fra­gens müde, ich lief fast den Plat­ten­weg zum Gast­hof hin­auf, tas­te­te im dunklen Flur nach der Klin­ke, trat rasch ein, rief mit ver­stell­ter Mun­ter­keit: »Da bin ich, mein schö­nes Kind!« und warf mich in einen Korb­ses­sel ne­ben sie. All das, was ich eben ge­tan hat­te, glich so we­nig dem, was ich sonst zu tun pfleg­te, wich so sehr von mei­ner frü­he­ren Ge­setzt­heit, mei­nem ge­mes­se­nen Be­neh­men ab, dass ich mir selbst mit ei­nem un­ver­hoh­le­nen Stau­nen zu­schau­te, ja mit ei­ner fast ängst­li­chen Be­tre­ten­heit, wie man viel­leicht ei­nem Schau­spie­ler zu­schaut, der eine sehr ge­wag­te Rol­le über­nom­men hat, von der ganz und gar nicht si­cher ist, dass er sie auch über­zeu­gend zu Ende spie­len kann.

Das Mäd­chen sah von sei­ner Nä­he­rei auf, einen Au­gen­blick wa­ren die hel­len Au­gen auf mich ge­rich­tet, die Spit­ze ih­rer Zun­ge er­schi­en rasch im Mund­win­kel. »Ach, Sie sind es!«, sag­te es dann bloß, und in die­sen vier Wört­chen lag wie­der­um ihr Ur­teil über mei­ne Per­son.

»Ja, ich bin es, mei­ne Hol­de!«, sag­te ich ei­lig mit je­ner mir so frem­den Zun­gen­ge­läu­fig­keit und An­ma­ßung. »Und ich möch­te ger­ne wie­der eins oder zwei oder auch fünf Ih­rer so vor­züg­li­chen Stäng­chen trin­ken, und wenn Sie es mö­gen, trin­ken Sie mit mir.«

»Ich trin­ke nie Schnaps«, sag­te das Mäd­chen mit küh­ler Ab­wehr, stand aber auf, ging an die The­ke, hol­te ein klei­nes Glas und eine Fla­sche und schenk­te mir am Tisch ein. Sie setz­te sich und stell­te die Fla­sche auf den Bo­den ne­ben sich. »Üb­ri­gens«, sag­te sie dann, ihre Nä­he­rei wie­der auf­neh­mend, »schlie­ßen wir in ei­ner Vier­tel­stun­de.«

»Umso schnel­ler wer­de ich trin­ken«, sag­te ich, setz­te das Glas an und trank es aus. »Wenn Sie aber kei­nen Schnaps trin­ken«, fuhr ich fort, »so will ich auch gern eine Fla­sche Wein oder auch Sekt, wenn es so et­was hier gibt, für Sie be­zah­len. Es soll mir nicht dar­auf an­kom­men.«

Sie hat­te un­ter­des mein Glas wie­der ge­füllt, und wie­der leer­te ich es auf einen Zug. Schon hat­te ich al­les Ver­gan­ge­ne und vor mir Lie­gen­de ver­ges­sen, ich leb­te nur die­ser Mi­nu­te, die­sem sprö­den und doch wis­sen­den Mäd­chen, das mich mit so of­fen­kun­di­ger Ver­ach­tung be­han­del­te.

»Sekt ha­ben wir schon«, sag­te sie, »und ich trin­ke ihn auch ger­ne. Ich ma­che Sie aber dar­auf auf­merk­sam, dass ich mich we­der be­trin­ken wer­de noch we­gen ei­ner Fla­sche Sekt ins Bett brin­gen las­se.« Jetzt sah sie mich wie­der an, mit ei­nem vol­len scham­lo­sen Blick be­glei­te­te sie ihre scham­lo­sen Wor­te.

 

Ich muss­te mei­ne Rol­le wei­ter­spie­len. »Wer denkt an so et­was, mei­ne Hüb­sche?«, rief ich un­be­küm­mert. »Ho­len Sie sich Ihren Sekt. Sie sol­len ihn un­be­läs­tigt in mei­ner Ge­gen­wart aus­trin­ken dür­fen. Sie sind«, sag­te ich stär­ker, nach­dem ich wie­der ge­trun­ken hat­te, »für mich wie ein En­gel von ei­nem an­de­ren Stern, ein bö­ser En­gel, den mir mein Schick­sal in den Weg ge­sandt hat. Es ge­nügt mir, Sie an­zu­schau­en.«

»An­schau­en kos­tet nichts«, sag­te sie mit ei­nem kur­z­en Auf­la­chen, das böse klang. »Sie sind mir ein selt­sa­mer Hei­li­ger, aber ich den­ke, ich er­fah­re noch heu­te Abend, warum Sie so – auf­ge­regt sind.« Da­mit schenk­te sie mir wie­der ein und stand auf, den Sekt zu ho­len.

Dies­mal blieb sie län­ger fort. Sie zog die Vor­hän­ge vor die Fens­ter, dann ging sie aus dem Haus, und ich hör­te sie die Lä­den, dann die Haus­tür schlie­ßen. Wäh­rend sie wie­der durch die Gast­stu­be ging, sag­te sie im Vor­über­ge­hen zu mir: »Ich habe schon ge­schlos­sen, es kommt doch kei­ner mehr. Und die Wirts­leu­te lie­gen auch schon im Bett.« Dies sag­te sie im Vor­über­ge­hen, blieb dann ste­hen und sag­te mit spöt­ti­scher Be­to­nung: »Aber des­we­gen brau­chen Sie sich kei­ne Hoff­nun­gen zu ma­chen!«

Ehe ich noch ant­wor­ten konn­te, war sie wie­der ge­gan­gen. Ich nutz­te die Zeit ih­rer Ab­we­sen­heit, mir ganz schnell zwei, drei Glä­ser hin­ter­ein­an­der aus der Fla­sche ein­zu­schen­ken.

Dann kam sie zu­rück, mit ei­ner gold­ge­köpf­ten Fla­sche in der Hand. Sie stell­te ein Spitz­glas vor sich auf den Tisch, lös­te den Draht ge­schickt mit ei­ni­gen Bie­gun­gen und dreh­te den Kor­ken aus der Fla­sche, ohne es knal­len zu las­sen. Der wei­ße Schaum troff über den Rand, sie goss rasch ein, war­te­te einen Au­gen­blick und goss wie­der ein. Dann hob sie das Glas zum Mund. »Ich trin­ke nicht auf Ihr Wohl«, sag­te sie, »denn dann möch­ten Sie mit mir an­sto­ßen, und für den Au­gen­blick ha­ben Sie ge­nug ge­trun­ken.«

Ich wi­der­sprach ihr nicht. Mein gan­zer Kör­per war tat­säch­lich so von Trun­ken­heit er­füllt, dass sie wie ein schwär­me­n­des Bie­nen­volk in ihm zu sum­men schi­en: Kei­ne Stel­le war frei von ihr.

Sie setz­te das Glas ab, sah mich mit ein­ge­knif­fe­nen Au­gen an und frag­te spöt­tisch: »Nun, wie viel Schnäp­se ha­ben Sie sich in mei­ner Ab­we­sen­heit ein­ge­schenkt? Fünf? Sechs?«

»Nur drei!«, ant­wor­te­te ich und lach­te. Ich kam über­haupt nicht auf die Idee, mich zu schä­men, vor die­sem Mäd­chen ver­gin­gen ei­nem sol­che Ge­füh­le voll­stän­dig. »Wie heißt du üb­ri­gens?«

»Willst du öf­ter kom­men?«, frag­te sie da­ge­gen.

»Vi­el­leicht«, ant­wor­te­te ich et­was ver­wirrt. »Wie­so?«

»Wozu willst du sonst mei­nen Na­men wis­sen? Für die hal­be Stun­de, die wir hier noch sit­zen, reicht ›klei­ne Hüb­sche‹ oder wie du sonst sagst, voll­kom­men …«

»Also sag dei­nen Na­men nicht«, rief ich, plötz­lich ge­reizt. »Wie egal mir das ist!«

Ich griff zur Fla­sche und schenk­te mir wie­der ein. Schon jetzt war mir klar, dass ich völ­lig be­trun­ken war und dass ich nicht mehr wei­ter­trin­ken durf­te. Den­noch blieb der Hang wei­ter­zu­trin­ken stär­ker. Das far­bi­ge Ge­spinst in mei­nem Hirn ver­lock­te mich, die nie be­tre­te­nen dunklen Dickich­te in mei­nem In­nern reiz­ten mei­nen Fuß; fer­ne rief lei­se nach mir eine Stim­me, ich wuss­te nicht, was, je­den­falls Lo­ckung …

»Ich weiß nicht, ob ich öf­ter hier­her­kom­men wer­de«, sag­te ich has­tig. »Ich kann dich nicht aus­ste­hen, ich has­se dich, und trotz­dem bin ich heu­te Abend zu dir zu­rück­ge­kehrt. Heu­te früh habe ich den ers­ten Schnaps mei­nes Le­bens ge­trun­ken, du hast ihn mir ein­ge­schenkt, du hast dich mit ihm ein­ge­schli­chen in mein Blut, ver­gif­tet hast du mich! Du bist wie der Geist des Schnap­ses: schwe­bend, trun­ken ma­chend, feil …« Ich sah sie an, atem­los, selbst am meis­ten über­rascht von die­sen Wor­ten, die aus mir sich hin­aus­schleu­der­ten, ich wuss­te nicht wo­her …

Sie saß mir ge­gen­über. Ihre Nä­he­rei hat­te sie nicht wie­der auf­ge­nom­men. Die Bei­ne ohne St­rümp­fe in ro­ten Schu­hen hat­te sie über­ge­schla­gen, und den Rock ein we­nig von den Kni­en zu­rück­ge­scho­ben. Die Bei­ne wa­ren et­was derb, aber lang und schön ge­fes­selt. An der rech­ten Wade sah ich ein fast pfen­nig­großes, brau­nes Mut­ter­mal – das schi­en mir schön. In der Hand hielt sie eine Zi­ga­ret­te, sie blies den Rauch breit durch die fest ge­schlos­se­nen Lip­pen, ohne Zwin­kern sah sie mich an. »Nur wei­ter, Vä­ter­chen«, sag­te sie, »du ent­wi­ckelst dich … nur wei­ter …«

Ich ver­such­te, nach­zu­den­ken. Wo­von hat­te ich eben noch ge­re­det? Das Ver­lan­gen, sie zu um­ar­men, sie zu be­tas­ten, wur­de fast über­mäch­tig in mir. Aber ich lehn­te mich fest in mei­nen Korb­ses­sel zu­rück, ich klam­mer­te mich mit mei­nen Hän­den an die Leh­nen. Plötz­lich hör­te ich mich dann wie­der spre­chen. Ich sprach ganz lang­sam und sehr deut­lich, und doch war ich atem­los vor Er­re­gung. »Ich bin ein Kauf­mann«, hör­te ich mich sa­gen. »Ich hat­te ein recht gu­tes Ge­schäft, aber jetzt ste­he ich vor dem Bank­rott. Sie wer­den mich aus­la­chen, alle, alle, mei­ne Frau zu­erst … Ich habe vie­le Feh­ler ge­macht, Mag­da wird sie mir alle vor­hal­ten. Du weißt doch, Mag­da ist mei­ne Frau …?«

Sie sah mich un­ver­wandt an, mit ih­rem sehr wei­ßen, wie ge­pu­der­ten Ge­sicht, das et­was Ge­dun­se­nes hat­te; hoch und ge­wölbt stan­den in ihm über den fast farb­lo­sen Au­gen die dunklen Brau­en.

»Aber ich kann noch Geld her­aus­zie­hen, aus dem Ge­schäft, ein paar Tau­send Mark. Ich täte es schon, um Mag­da zu är­gern. Mag­da will das Ge­schäft ret­ten. Ist sie mehr als ich? Ich könn­te das Ge­schäft ver­kau­fen, ich weiß auch schon, an wen, es ist eine jun­ge Fir­ma. Er wür­de mir zehn-, viel­leicht auch zwölf­tau­send Mark da­für ge­ben, wir wür­den auf Rei­sen ge­hen … Warst du schon ein­mal in Pa­ris?«

Sie sah mich an, kei­ne Zu­stim­mung oder Ver­nei­nung war auf ih­rem Ge­sicht zu le­sen.

Ich re­de­te wei­ter, schnel­ler, atem­lo­ser. »Ich war auch noch nicht dort«, fuhr ich fort, »aber ich habe da­von ge­le­sen. Es ist die Stadt der baum­be­stan­de­nen Bou­le­vards, der wei­ten Plät­ze, der lau­bi­gen Parks … Als Jun­ge habe ich ein biss­chen Fran­zö­sisch ge­lernt, aber ich kam zu früh von der Schu­le, die El­tern hat­ten nicht Geld ge­nug. Weißt du, was das heißt: ›Don­nez-moi un bai­ser, ma­de­moi­sel­le‹?«

Kein Zei­chen von ihr, nicht ja, nicht nein.

»Es heißt: ›Ge­ben Sie mir einen Kuss, mein Fräu­lein.‹ Aber zu dir müss­te man sa­gen: Don­nez-moi un bai­ser, ma rei­ne! Rei­ne, das heißt Kö­ni­gin, und du bist die Kö­ni­gin mei­nes Her­zens, du bist die Kö­ni­gin des Gif­tes, das in Fla­schen ver­korkt wird, gib mir dei­ne Hand, El­sa­be – ich wer­de dich El­sa­be nen­nen, Kö­ni­gin – ich will dei­ne Hand küs­sen …«

Sie goss mir das Glas voll. »Da, trink das noch, und dann gehst du nach Haus. Ge­nug – du hast ge­nug ge­trun­ken, und ich habe ge­nug von dir. Du kannst die Fla­sche Korn mit­neh­men, du musst die gan­ze Fla­sche be­zah­len, zum Gast­stu­ben­preis. Das ist kein Nepp, komm mir mor­gen nicht, dass ich dich ge­neppt habe; du hast dir sel­ber ein­ge­schenkt, ich weiß nicht, wie viel …«