Das Totenhaus in Plötzensee beherbergt jetzt Otto Quangel. Die Einzelzelle des Totenhauses ist nun seine letzte Heimat auf dieser Erde.
Ja, jetzt liegt er auf einer Einzelzelle: Für die zum Tode Verurteilten gibt es keine Gefährten mehr, keinen Dr. Reichhardt, nicht einmal einen »Hund«. Die zum Tode Verurteilten haben nur noch den Tod zum Gefährten, so will es das Gesetz.
Es ist ein ganzes Haus, in dem sie leben, diese zum Tode Verurteilten, Dutzende, vielleicht Hunderte, Zelle an Zelle. Immer geht der Schritt der Wachen über den Gang, immer hört man Klirren, und die ganze Nacht bellen die Hunde auf den Höfen.
Aber in den Zellen die Gespenster sind still, in den Zellen ist Ruhe, man hört keinen Laut. Sie sind so still, diese Todeskandidaten! Aus allen Teilen Europas zusammengeholt, Männer, Jünglinge, fast noch Knaben, Deutsche, Franzosen, Holländer, Belgier, Norweger, gute Menschen, schwache Menschen, böse Menschen, alle Temperamente vom Sanguiniker bis zum Choleriker, bis zum Melancholiker. Aber in diesem Hause verwischen sich die Unterschiede, sie sind alle still geworden, nur noch Gespenster ihrer selbst. Kaum je hört Quangel nachts ein Weinen, und wieder Stille, Stille … Stille …
Er hat die Stille immer geliebt. Diese letzten Monate hatte er ein Leben führen müssen, das seiner ganzen Wesensart entgegengesetzt war: nie mit sich allein, so oft zum Sprechen gezwungen, er, der doch alles Sprechen hasste. Nun ist er noch ein Mal, ein letztes Mal, zu seiner Art des Lebens zurückgekehrt, in die Stille, in die Geduld. Der Dr. Reichhardt war gut, er hat ihn vieles gelehrt, aber nun, dem Tode so nahe, ist es noch besser, ohne den Dr. Reichhardt zu leben.
Von Dr. Reichhardt hat er es übernommen, sich ein regelmäßiges Leben hier in der Zelle einzurichten. Alles hat seine Zeit: das sehr sorgfältige Waschen, einige Freiübungen, die er dem Zellengefährten abgelauscht hat, je eine Stunde Spaziergang am Vor- wie am Nachmittag, das gründliche Reinigen der Zelle, das Essen, der Schlaf. Es gibt hier auch Bücher zum Lesen, jede Woche werden ihm sechs Bücher auf die Zelle gebracht; aber darin hat er sich nicht geändert, er sieht sie nicht an. Er wird doch auf seine alten Tage nicht noch mit Lesen anfangen.
Aber noch ein anderes hat er von dem Dr. Reichhardt übernommen. Während seiner Spaziergänge summt er vor sich hin. Er erinnert sich an alte Kinder- und Volkslieder, von der Schule her. Aus seiner frühesten Jugend tauchen sie in ihm auf, Vers reiht sich an Vers – was für einen Kopf er doch hat, der dies alles über vierzig Jahre hin noch weiß! Und dann die Gedichte: Der Ring des Polykrates, Die Bürgschaft, Freude, schöner Götterfunken, Der Erlkönig. Aber das Lied von der Glocke bekommt er nicht mehr zusammen. Vielleicht hat er nie alle Verse gekonnt, das weiß er nun nicht mehr …
Ein stilles Leben, aber den Hauptinhalt des Tages bietet doch die Arbeit. Ja, hier muss er arbeiten, ein bestimmtes Quantum Erbsen muss er sortieren, wurmstichige Erbsen auslesen, halbe, zerbrochene entfernen wie die Unkrautsamen und die schwarzgrauen Kugeln der Wicken. Er tut diese Arbeit gerne, seine Finger sortieren fleißig Stunde um Stunde.
Und es ist gut, dass er gerade diese Arbeit bekommen hat, sie sättigt ihn. Denn nun sind die guten Zeiten, da er von den Speisen Dr. Reichhardts mitessen durfte, endgültig vorbei. Was sie ihm in seine Zelle reichen, ist schlecht gekocht, Wassergeplemper, nasses, klebriges Brot mit Kartoffelbeimischung, das unverdaulich schwer in seinem Magen liegt.
Aber da helfen die Erbsen. Er kann nicht viel abnehmen, denn sein Quantum wird ihm zugewogen, aber er kann so viel abnehmen, dass er einigermaßen satt wird. Er weicht sich diese Erbsen in Wasser ein, und wenn sie gequollen sind, tut er sie in seine Suppe, damit sie ein bisschen warm werden, und dann kaut er sie. So verbessert er sein Essen, von dem das Wort gilt: Zum Leben zu wenig, zum Sterben zu viel.
Er vermutet es beinahe, dass die Aufseher, die Arbeitsinspektoren wissen, was er tut, dass er Erbsen stiehlt, aber sie sagen nichts. Und sie sagen nichts, nicht weil sie den zum Tode Verurteilten schonen wollen, sondern weil sie gleichgültig sind, stumpf geworden in diesem Hause, in dem sie alle Tage so viel Elend erleben.
Sie reden nicht, schon damit der andere nicht spricht. Sie wollen keine Klagen hören, sie können ja doch nichts ändern, bessern, hier geht alles seinen starren Weg. Sie sind nur Räderchen einer Maschine, Räderchen aus Eisen, aus Stahl. Wenn das Eisen weich würde, müsste das Rädchen ersetzt werden, sie wollen nicht ersetzt werden, sie wollen weiter Rädchen sein.
Darum können sie auch nicht trösten, sie wollen es nicht, sie sind, wie sie sind: gleichgültig, kalt, ohne alle Teilnahme.
Zuerst, als Otto Quangel aus dem ihm vom Präsidenten Feisler verordneten Dunkelarrest in diese Zelle hinaufkam, hatte er gemeint, es sei für ein, zwei Tage, er hatte gemeint, sie seien begierig darauf, das Todesurteil rasch an ihm zu vollstrecken, es wäre ihm recht gewesen.
Aber dann erfährt er allmählich, dass es Wochen und Wochen mit der Vollstreckung des Urteils dauern kann, Monate, ja, womöglich ein Jahr. Doch, es gibt zum Tode Verurteilte, die schon ein Jahr auf ihren Tod warten, die sich jeden Abend zum Schlafen hinlegen und die nicht wissen, ob sie in der Nacht aus diesem Schlaf von den Henkersgehilfen geweckt werden; jede Nacht, jede Stunde, den Bissen im Munde, beim Erbsenpalen, auf dem Notdurftkübel, stets kann die Tür sich auftun, eine Hand winkt, eine Stimme spricht: »Komm! Jetzt ist es so weit!«
Es ist eine unermessliche Grausamkeit, die in dieser über Tage, Wochen, Monate verlängerten Todesangst liegt, und es sind nicht nur juristische Formalien, es machen nicht nur die eingereichten Gnadengesuche, auf die der Entscheid erst abgewartet werden muss, die diese Verzögerung bedingen. Manche sagen auch, der Henker ist überbeschäftigt, er kann es nicht mehr schaffen. Aber der Henker arbeitet nur an den Montagen und an den Donnerstagen, an den anderen Tagen nicht. Er ist über Land, überall in Deutschland wird hingerichtet, der Henker arbeitet auch auswärts. Aber wie kommt es dann, dass von Verurteilten der eine sieben Monate früher als sein in gleicher Sache Mitverurteilter hingerichtet wird? Nein, hier ist wieder die Grausamkeit am Werk, der Sadismus; in diesem Hause wird nicht roh geschlagen und nicht körperlich gefoltert, hier sickert das Gift unmerklich in die Zellen, sie wollen die Seelen hier nicht eine Minute aus dem Todesgriff der Angst entlassen.
Jeden Montag und Donnerstag wird das Totenhaus unruhig. Schon in der Nacht rühren sich die Gespenster, sie hocken an den Türen, ihre Glieder zittern, sie lauschen auf die Gänge hinaus. Noch gehen die Schritte der Wachen, es ist erst zwei Uhr morgens. Aber bald … Vielleicht heute noch. Und sie bitten, beten: Nur noch diese drei Tage, nur noch diese vier Tage bis zum nächsten Hinrichtungstag, dann werde ich mich willig fügen, nur heute noch nicht! Und sie bitten, sie beten, sie betteln.
Eine Uhr schlägt vier. Schritte, Schlüsselgeklapper, Murmeln. Die Schritte nähern sich. Das Herz fängt an zu pochen, Schweiß bricht aus über den ganzen Körper. Plötzlich klirrt ein Schlüssel im Schloss. Still doch, still doch, es ist ja die Zelle nebenan, die aufgeschlossen wurde, nein, noch eine weiter! Du bist noch nicht dran. Ein rasch ersticktes: Nein! Nein! Hilfe! Scharren von Füßen. Stille. Der regelmäßige Schritt des Postens. Stille. Warten. Angstvolles Warten. Ich ertrage das nicht …
Und nach einer endlosen Frist, nach einem Abgrund voller Angst, nach einer unerträglichen Wartezeit, die doch ertragen werden muss, nähert sich wieder das Murmeln, das Geräusch vieler Füße, das Schlüsselgeklapper … Es kommt näher, nahe, nahe. O Gott, heute noch nicht, nur noch die drei Tage! Ruckzuck! Schlüssel im Schloss – bei mir? Oh, bei dir! Nein, es ist die Nachbarzelle, ein paar gemurmelte Worte, sie holen also den Nachbarn. Sie holen ihn, die Schritte entfernen sich …
Zeit zerbricht langsam, wenig Zeit zerbröckelt langsam in unendlich viele kleine Stücke. Warten. Nichts wie Warten. Und der Schritt der Wachen auf dem Gang. O Gott, heute nehmen sie einfach Zelle neben Zelle, als Nächster kommst du dran. Als – Nächster – kommst – du – dran! In drei Stunden wirst du eine Leiche sein, dieser Körper ist tot, diese Beine, die dich jetzt noch tragen, tote Stecken, diese Hand, die gearbeitet, gestreichelt, gekost und gesündigt hat, wird nichts mehr sein wie ein verdorbenes Stück Fleisch! Es ist unmöglich, und doch ist es wahr!
Warten – warten – warten! Und plötzlich sieht der Wartende, dass durch sein Fenster der Tag dämmert, er hört eine Glocke zum Aufstehen rufen. Der Tag ist gekommen, ein neuer Arbeitstag – und er ist noch einmal verschont geblieben. Er hat noch drei Tage Frist, vier Tage Frist, wenn es ein Donnerstag ist. Das Glück hat ihm gelächelt! Er atmet leichter, endlich kann er leichter atmen, vielleicht verschonen sie ihn ganz. Vielleicht kommt ein großer Sieg und damit eine Amnestie, vielleicht wird er zu lebenslänglichem Zuchthaus begnadigt werden!
Eine Stunde leichteres Atmen!
Und schon setzt die Angst neu ein, vergiftet diese drei, vier Tage: Sie haben diesmal grade bei deiner Zelle Schluss gemacht, am Montag werden sie mit mir beginnen. Oh, was tu ich nur? Ich kann doch noch nicht …
Und immer von Neuem, immer von Neuem, zweimal die Woche, alle Tage die Woche, jede Sekunde die Angst!
Und Monat um Monat: Todesangst!
Manchmal fragte sich Otto Quangel, woher er alles dieses wusste. Er sprach doch eigentlich nie mit jemandem, und eigentlich sprach nie jemand mit ihm. Einige dürre Worte des Aufsehers: »Mitkommen! Aufstehen! Schneller arbeiten!« Vielleicht gerade noch beim Essenabfüllen ein mehr mit den Lippen gebildetes als gehauchtes Wort: »Heute sieben Hinrichtungen«, das war alles.
Aber seine Sinne waren so unendlich scharf geworden. Sie errieten, was er nicht sah. Seine Ohren hörten jedes Geräusch auf dem Gang, ein Gesprächsfetzen der sich ablösenden Posten, ein Fluch, ein Schrei – alles enthüllte sich ihm, nichts blieb ihm verborgen. Und dann in den Nächten, in den langen Nächten, die nach der Hausordnung dreizehn Stunden dauerten, die aber nie Nächte waren, weil in seiner Zelle stets Licht brennen musste, dann wagte er es manchmal: er kletterte zum Fenster hinauf, er lauschte in die Nacht. Er wusste, die Posten unten auf dem Hof mit ihren ewig bellenden Hunden hatten den Befehl, auf jedes Gesicht im Fenster zu schießen, und nicht selten fiel auch einmal ein Schuss – aber er wagte es trotzdem.
Er stand da auf seinem Schemel, er spürte die reine Nachtluft (schon diese Luft war belohnend für jede Gefahr), und dann hörte er dies Flüstern von Fenster zu Fenster, sinnlose Worte zuerst: »Den Karl hat’s mal wieder!« Oder: »Die Frau von 347 hat heute den ganzen Tag unten gestanden«, aber mit der Zeit konnte er sich auf alles einen Vers machen. Mit der Zeit wusste er, dass in der Zelle neben ihm ein Mann von der Spionageabwehr saß, der sich dem Feinde verkauft haben sollte und der schon zweimal versucht haben sollte, sich umzubringen. Und in der Zelle hinter ihm saß ein Arbeiter, der hatte in einem Elektrizitätswerk die Dynamos verschmoren lassen, ein Kommunist. Und der Aufseher Brennecke besorgte Papier und Bleistiftstummel und schmuggelte auch Briefe aus dem Bau, wenn er von außen geschmiert wurde, mit sehr viel Geld oder besser noch mit Lebensmitteln. Und … und … Nachrichten über Nachrichten. Auch ein Totenhaus spricht, atmet, lebt, auch in einem Totenhaus erlischt nicht das unbezwingliche Bedürfnis der Menschen, sich mitzuteilen.
Aber wenn auch Otto Quangel sein Leben – manchmal – wagte, um zu lauschen, wenn seine Sinne auch nie müde wurden, auf jede Veränderung zu achten, so ganz gehörte Quangel nicht zu den anderen. Manchmal ahnten sie, dass auch er am nächtlichen Fenster stand, einer flüsterte: »Na, wie ist’s denn mit dir, Otto? Gnadengesuch schon zurück?« (Sie wussten alles über ihn.) Aber nie antwortete er mit einem Wort, nie gab er zu, dass auch er lauschte. Er gehörte nicht zu ihnen, wenn auch das gleiche Urteil über ihn verhängt war, er war ein ganz anderer.
Und dass er ein ganz anderer war als sie, das machte nicht sein Einzelgängertum, wie es früher gewesen, das machte nicht sein Bedürfnis nach Ruhe, das ihn bisher von allen getrennt hatte, das kam nicht von seiner Abneigung gegen Reden, die früher seine Zunge schweigsam gemacht – sondern das machte jenes kleine Glasröhrchen, das ihm der Kammergerichtsrat Fromm gegeben.
Dieses Röhrchen mit der wasserhellen Blausäurelösung hatte ihn frei gemacht. Die anderen, seine Leidensgefährten, sie mussten den letzten bitteren Weg gehen; er hatte die Wahl. Er konnte in jeder Minute sterben, er musste es nur wollen. Er war frei. Er war, im Totenhaus, hinter Gittern und Mauern, er war, gehalten mit Ketten und Schellen – er, Otto Quangel, Tischlermeister a.D., Werkmeister a.D., Ehegatte a.D., Vater a.D., Aufrührer a.D. – er war frei geworden. Das hatten sie bewirkt, sie hatten ihn frei gemacht, wie er es nie in seinem Leben gewesen war. Er, der Besitzer dieses Glasröhrchens, fürchtete den Tod nicht. Der Tod war zu jeder Stunde bei ihm, er war sein Freund. Er, Otto Quangel, brauchte an den Montagen und den Donnerstagen nicht lange vor der Zeit zu erwachen und angstvoll an der Türe lauschen. Er gehörte nicht zu ihnen, nicht ganz. Er musste sich nicht quälen, weil er das Ende aller Qual bei sich hatte.
Es war ein gutes Leben, das er führte. Er liebte es. Er war nicht einmal ganz sicher, dass er diese Glasampulle je gebrauchen würde. Vielleicht war es noch besser, bis zur letzten Minute zu warten? Vielleicht durfte er Anna doch noch einmal sehen? War es nicht richtiger, denen keine Schande zu ersparen?
Sie sollten ihn hinrichten, besser, viel besser! Er wollte es wissen, wie es dabei zuging – ihm war, als käme es ihm zu, als sei es seine Pflicht, auch zu wissen, wie sie das machten. Er glaubte, bis die Schlinge um seinen Hals oder der Kopf unter dem Fallbeil lag, müsste er alles wissen. Er konnte, in der letzten Minute noch, denen doch einen Streich spielen.
Und in der Gewissheit, dass ihm nichts mehr geschehen konnte, dass er hier – vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben – ganz er selbst sein konnte, unverstellt er selbst, in dieser Gewissheit fand er Ruhe, Heiterkeit, Frieden. Sein alternder Körper hatte sich nie so wohl gefühlt wie in diesen Wochen. Sein hartes Vogelauge hatte nie so freundlich gesehen wie in der Todeszelle der Plötze. Sein Geist hatte nie so frei schweifen können wie hier.
Ein gutes Leben, dieses Leben!
Hoffentlich ging es auch Anna gut. Aber der alte Rat Fromm war ein Mann, der Wort hielt. Auch Anna würde über alle Verfolgungen hinaus sein, auch Anna war frei, gefangen frei …
Otto Quangel hatte erst seit einigen Tagen in der Dunkelzelle gelegen – gemäß Beschluss des Volksgerichtshofs –, er fror jämmerlich in dem kleinen Käfig aus Eisenstangen, der am ehesten einem sehr engen Affenkäfig im Zoo glich –, da tat sich die Tür auf, Licht ging an, und sein Anwalt, Dr. Stark, stand in der Tür des Raumes, in dem der Gitterkäfig aufgebaut war, und sah seinen Mandanten an.
Quangel stand langsam auf und schaute zurück.
Da war dieser geschniegelte und gebügelte Herr also noch einmal zu ihm gekommen, mit seinen rosigen Fingernägeln und der nachlässigen, schleppenden Art zu reden. Wahrscheinlich, um sich den Verbrecher in seiner Qual anzusehen.
Aber auch da schon hatte Quangel die Zyankaliampulle in seinem Munde getragen, diesen Talisman, der ihn Kälte und Hunger ertragen ließ, und so hatte er ruhig, ja, mit einer heiteren Überlegenheit auf den »feinen Herrn« geblickt, er, in seiner Zerlumptheit, vor Frost zitternd, der Magen brennend vor Hunger.
»Nun?«, hatte Quangel schließlich gefragt.
»Ich bringe Ihnen das Urteil«, sagte der Anwalt und zog ein Papier aus der Tasche.
Aber Quangel nahm es nicht. »Es interessiert mich nicht«, sagte er. »Ich weiß ja doch, dass es auf Todesstrafe lautet. Auch meine Frau?«
»Auch Ihre Frau. Und es gibt keine Berufung dagegen.«
»Gut«, antwortete er.
»Aber Sie können ein Gnadengesuch machen«, sagte der Anwalt.
»An den Führer?«
»Ja, an den Führer.«
»Nein, danke.«
»Sie wollen also sterben?«
Quangel lächelte.
»Sie haben keine Angst?«
Quangel lächelte.
Der Anwalt sah zum ersten Mal mit einer Spur von Interesse in das Gesicht seines Mandanten, er sagte: »So werde ich für Sie ein Gnadengesuch einreichen.«
»Nachdem Sie meine Verurteilung gefordert haben!«
»Es ist so üblich, bei jedem Todesurteil wird ein Gnadengesuch eingereicht. Es gehört zu meinen Pflichten.«
»Zu Ihren Pflichten. Ich verstehe. Wie Ihre Verteidigung. Nun, ich nehme an, Ihr Gnadengesuch wird wenig Wirkung haben, lassen Sie es lieber.«
»Ich werde es trotzdem einreichen, auch gegen Ihren Willen.«
»Ich kann Sie nicht hindern.«
Quangel setzte sich wieder auf die Pritsche. Er wartete, dass der andere jetzt mit diesem blöden Gewäsch aufhörte, dass er ginge.
Aber der Anwalt ging nicht, sondern er fragte nach einer langen Pause: »Sagen Sie, warum haben Sie das eigentlich getan?«
»Was getan?«, fragte Quangel gleichgültig, ohne den Gebügelten anzusehen.
»Diese Postkarten geschrieben. Sie haben doch nichts genützt und kosten Ihnen nun das Leben.«
»Weil ich ein dummer Mensch bin. Weil mir nichts Besseres eingefallen ist. Weil ich mit einer anderen Wirkung rechnete. Darum!«
»Und Sie bedauern es nicht? Es tut Ihnen nicht leid, wegen solch einer Dummheit das Leben zu verlieren?«
Ein scharfer Blick traf den Anwalt, der alte, stolze, harte Vogelblick. »Aber ich bin wenigstens anständig geblieben«, sagte er. »Ich habe nicht mitgemacht.«
Der Anwalt sah lange auf den schweigend Dasitzenden. Dann sagte er: »Ich glaube jetzt doch, mein Kollege, der Ihre Frau verteidigte, hat recht gehabt: Sie beide sind wahnsinnig.«
»Nennen Sie es wahnsinnig, dass man jeden Preis dafür bezahlt, anständig zu bleiben?«
»Sie hätten das auch ohne Karten bleiben können.«
»Das wäre schweigende Zustimmung gewesen. Was haben Sie dafür bezahlt, dass Sie so ein feiner Herr geworden sind mit so schön gebügelten Hosen, mit lackierten Fingernägeln und mit verlogenen Verteidigungsreden? Was haben Sie dafür bezahlt?«
Der Anwalt schwieg.
»Da haben Sie es!«, sagte Quangel. »Und Sie werden immer mehr dafür bezahlen, und vielleicht werden Sie eines Tages auch den Kopf dafür lassen müssen, genau wie ich, aber dann lassen Sie ihn für Ihre Unanständigkeit!«
Noch immer schwieg der Anwalt.
Quangel stand auf, er lachte. »Sehen Sie«, lachte er. »Sie wissen gut, dass der hinter den Gitterstäben anständig ist und Sie davor der Lump, dass der Verbrecher frei ist, aber der Anständige zum Tode verurteilt. Sie sind kein Rechtsanwalt, nicht ohne Grund habe ich Sie Linksanwalt genannt. Und Sie wollen ein Gnadengesuch für mich machen – ach, gehen Sie doch!«
»Und ich werde doch ein Gnadengesuch für Sie einreichen«, sagte der Anwalt.
Quangel antwortete nicht.
»Also auf Wiedersehen!«, sagte der Anwalt.
»Kaum – oder Sie sehen bei meiner Hinrichtung zu. Sie sind herzlich eingeladen!«
Der Anwalt ging.
Er war abgebrüht, verhärtet, er war schlecht. Aber er hatte noch so viel Verstand, sich zuzugestehen, dass der andere der bessere Mann war.
Das Gnadengesuch wurde aufgesetzt, Irrsinn war der Anlass, der den Führer zur Gnade bestimmen sollte, aber der Anwalt wusste gut, dass sein Mandant nicht irrsinnig war.
Auch für Anna Quangel wurde ein Gnadengesuch unmittelbar an den Führer eingereicht, aber dieses Gesuch kam nicht aus der Stadt Berlin, es kam aus einem kleinen, armen märkischen Dorf, und unter dem Gesuch stand: Familie Heffke.
Die Eltern von Anna Quangel hatten einen Brief ihrer Schwiegertochter bekommen, von der Frau ihres Sohnes Ulrich. In dem Brief standen nur schlimme Nachrichten, und sie waren ohne Schonung in kurzen, harten Sätzen niedergeschrieben. Der Sohn Ulrich saß wahnsinnig in Wittenau, und Otto und Anna Quangel waren daran schuld. Die aber waren zum Tode verurteilt worden, weil sie ihr Land und ihren Führer verraten hatten. Das sind eure Kinder, eine Schande ist es, Heffke zu heißen!
Ohne ein Wort, ohne zu wagen, sich auch nur anzusehen, saßen die beiden alten Leute in ihrer kleinen, armseligen Stube. Der Brief lag zwischen ihnen, diese Hiobspost. Aber auch den Brief wagten sie nicht anzusehen.
Ihr Lebtag hatten sie sich ducken müssen, kleine Landarbeiter auf einem großen Gut unter harten Verwaltern, sie hatten ein karges Leben gehabt: viel Arbeit, wenig Freude. Die Freude waren die Kinder gewesen, aus den Kindern war etwas Ordentliches geworden. Sie waren mehr geworden als ihre Eltern, sie hatten sich nicht so schinden müssen, Ulrich, der Vorarbeiter in einer optischen Fabrik, und Anna, die Frau eines Tischlermeisters. Dass sie kaum schrieben, sich nicht sehen ließen, das störte die Alten kaum, das war die Art aller Vögel, die flügge geworden sind. Wussten sie doch, es ging den Kindern gut.
Und nun dieser Schlag, dieser erbarmungslose Schlag! Nach einer Weile streckt sich die verarbeitete, dürre Hand des alten Landarbeiters über den Tisch: »Mutter!«
Und plötzlich stürzen bei der Greisin die Tränen: »Ach, Vater! Unsere Anna! Unser Ulrich! Nun sollen sie unsern Führer verraten haben! Ich kann es nicht glauben, nie und nie!«
Drei Tage waren sie so verwirrt, dass sie keinen Entschluss fassen konnten. Sie trauten sich nicht aus dem Hause, sie wagten nicht, jemandem ins Auge zu blicken, aus Furcht, die Schande könne schon bekannt geworden sein.
Dann, am vierten Tag, baten Sie eine Hausnachbarin, ihr bisschen Kleinvieh zu versorgen, und machten sich auf den Weg nach der Stadt Berlin. Wie sie da die windgepeitschte Chaussee entlangwanderten, nach ländlicher Gewohnheit der Mann voran, die Frau einen Schritt hinterdrein, glichen sie Kindern, die sich in der weiten Welt verirrt haben, für die alles zur Drohung wird: ein Windstoß, ein herabfallender dürrer Ast, ein vorüberfahrendes Auto, ein raues Wort. Sie waren so völlig wehrlos.
Nach zwei Tagen wanderten sie die gleiche Chaussee zurück, noch kleiner, noch gebeugter, noch trostloser.
Sie hatten nichts erreicht in Berlin. Die Schwiegertochter hatte sie nur mit Schmähungen überhäuft. Sie hatten den Sohn Ulrich nicht sehen dürfen, weil keine »Besuchszeit« war. Die Anna und ihr Mann – kein Mensch konnte ihnen genau sagen, in welchem Gefängnis sie lagen. Sie hatten die Kinder nicht gefunden. Und der Führer, der geliebte Führer, von dem sie sich Hilfe und Trost erwarteten, dessen Kanzlei sie wirklich gefunden hatten, der Führer war nicht in Berlin gewesen. Er war im Großen Hauptquartier, damit beschäftigt, Söhne umzubringen, er hatte keine Zeit, Eltern zu helfen, die im Begriff standen, ihre Kinder zu verlieren.
Sie sollten nur ein Gesuch machen, war ihnen gesagt worden.
Sie wagten sich niemandem anzuvertrauen. Sie fürchteten sich vor der Schande. Sie, Parteimitglieder seit vielen Jahren, hatten eine Tochter, die den Führer verraten hatte. Sie hätten hier nicht mehr leben können, wenn das bekannt wurde. Und sie mussten doch leben, um die Anna zu retten. Nein, von keinem konnten sie sich bei diesem Gnadengesuch helfen lassen, nicht vom Lehrer, nicht vom Bürgermeister, selbst vom Pastor nicht.
Und mühsam, in stundenlangen Gesprächen, Überlegungen, Schreiben mit zitternder Hand brachten sie ein Gnadengesuch zustande. Es wurde geschrieben und wieder abgeschrieben und noch einmal ins Reine geschrieben und fing so an:
»Mein inniggeliebter Führer!
Eine verzweifelte Mutter bittet Dich auf den Knien um das Leben ihrer Tochter. Sie hat sich schwer an Dir vergangen, aber Du bist so groß, Du wirst Deine Gnade an ihr walten lassen. Du wirst ihr verzeihen …«
Hitler, der zum Gott geworden ist, Herr des Weltalls, allmächtig, allgütig, allverzeihend! Zwei alte Menschen – draußen rast der Krieg und mordet Millionen, sie glauben an ihn, noch da er ihre Tochter dem Henker überantwortet, glauben sie an ihn, kein Zweifel schleicht in ihr Herz, eher ist ihre Tochter schlecht als Gott der Führer!
Sie wagen nicht, den Brief im Dorf abzusenden, gemeinsam wandern sie zur Kreisstadt, um ihn dort zur Post zu geben. Als Adresse steht auf ihm: »An die eigene Person unseres innig geliebten Führers …«
Dann kehren sie heim in ihre Stube und warten gläubig, dass ihr Gott gnädig ist …
Er wird gnädig sein!
Die Post nimmt das verlogene Gesuch des Anwalts wie das hilflose von zwei trauernden Eltern und befördert beide, aber sie bringt sie nicht zum Führer. Der Führer will solche Gesuche nicht sehen, sie interessieren ihn nicht. Ihn interessieren Krieg, Zerstörung, Mord, nicht die Abwendung des Mordes. Die Gesuche wandern in die Kanzlei des Führers, sie bekommen eine Nummer, sie werden registriert, und dann wird ein Stempel auf sie gedrückt: An den Herrn Reichsjustizminister weitergeleitet. Zurück nur hierher, falls Verurteilter Parteimitglied ist, was aus dem Gnadengesuch nicht ersichtlich … (Die zweigeteilte Gnade, die Gnade für Parteigenossen und die Gnade für Volksgenossen.)
Auf dem Reichsjustizministerium werden die Gesuche wiederum registriert und beziffert, sie bekommen einen weiteren Stempel: An die Gefängnisverwaltung zur Stellungnahme.
Die Post befördert die Gesuche ein drittes Mal, und ein drittes Mal bekommen sie Nummern und werden in ein Buch eingetragen. Eine Schreiberhand setzt auf das Gesuch für Anna wie für Otto Quangel die wenigen Worte: Die Führung war nach der Hausordnung. Anlass zur Gnadenerteilung liegt hier nicht vor. Zurück an das Reichsjustizministerium.
Wiederum zweigeteilte Gnade: die einen, die sich gegen die Hausordnung vergingen oder die sie nur befolgten, geben keinen Anlass zur Gnade; aber wer sich durch Spionage, Verrat, Misshandlung seiner Leidensgenossen ausgezeichnet hatte, der fand – vielleicht Gnade.
Auf dem Justizministerium buchen sie den Wiedereingang der Gesuche, sie drücken einen Stempel darauf: »Ablehnen!«, und ein munteres Fräulein tippt auf seiner Maschine von morgens bis abends: Ihr Gnadengesuch wird abgelehnt … wird abgelehnt … abgelehnt … abgelehnt … abgelehnt …, den ganzen Tag lang, alle Tage lang.
Und eines Tages eröffnet dem Otto Quangel ein Beamter: »Ihr Gnadengesuch ist abgelehnt.«
Quangel, der kein Gnadengesuch gemacht hat, sagt kein Wort, es ist der Mühe nicht wert.
Aber die Post trägt den alten Leuten die Ablehnung ins Haus, durch das Dorf läuft das Gerücht: »Die Heffkes haben einen Brief vom Reichsjustizminister bekommen.«
Und wenn die alten Leute auch schweigen, beharrlich, angstvoll, zitternd schweigen, ein Bürgermeister hat Wege, die Wahrheit zu erfahren, und bald kommt zu der Trauer die Schande für zwei alte Leute …
Wege der Gnade!