Während der Präsident des Volksgerichtshofes, Feisler, für jeden unvoreingenommenen Beobachter mit einem bösartigen Bluthund zu vergleichen war, spielte der Ankläger nur die Rolle eines kleinen kläffenden Pinschers, der darauf lauert, den vom Bluthund Angefallenen in die Wade zu beißen, während sein großer Bruder ihn bei der Kehle hatte. Ein paarmal hatte der Ankläger während der Verhandlung gegen die Quangels versucht loszukläffen, aber immer hatte ihn sofort wieder das Gebell des Bluthundes übertönt. Was gab es da auch noch groß für ihn zu kläffen? Der Präsident verrichtete ja von der ersten Minute an die Dienste des Anklägers, von der ersten Minute an hatte Feisler die Grundpflicht jedes Richters verletzt, der die Wahrheit ermitteln soll: er war höchst parteiisch gewesen.
Aber nach der Mittagspause, in der vom Präsidenten ein sehr reichhaltiges Mahl kartenfrei eingenommen war, zu dem es auch Wein und Schnaps gegeben hatte, war Feisler ein wenig müde. Was sollte auch noch alle Anstrengung? Die waren ja beide schon tot. Zudem war jetzt das Weib dran, diese kleine Arbeiterfrau – und die Weiber waren dem Präsidenten ziemlich gleichgültig, von seinem Richterstandpunkt aus. Die Weiber waren alle doof und nur zu einer Sache nütze. Sonst taten sie, was ihre Männer wollten.
Feisler litt es also gnädig, dass nun der Pinscher sich in den Vordergrund drängte und zu kläffen anhob. Mit halbgeschlossenen Augen lehnte er in seinem Richterstuhl, den Kopf in die Geierkralle gestützt, scheinbar aufmerksam zuhörend, in Wirklichkeit aber ganz seiner Verdauung hingegeben.
Der Pinscher kläffte: »Sie haben doch früher ein Amt in der Frauenschaft bekleidet, Angeklagte?«
»Ja«, antwortete Frau Quangel.
»Und warum haben Sie das denn aufgegeben? Hat Ihr Mann das von Ihnen verlangt?«
»Nein«, antwortete Frau Quangel.
»So, das hat er nicht von Ihnen verlangt? Erst legt der Mann sein Amt in der Arbeitsfront nieder und dann die Frau vierzehn Tage später ihr Amt in der Frauenschaft. Angeklagter Quangel, haben Sie das nicht von Ihrer Frau verlangt?«
»Sie wird wohl von selbst auf die Idee gekommen sein, als sie hörte, dass ich meinen Posten aufgegeben hatte.«
Quangel steht da und muss seine Hosen festhalten.
Dann setzt er sich, denn der Ankläger wendet sich schon wieder an Anna Quangel. »Also, wie ist das, warum haben Sie Ihr Amt niedergelegt«
»Ich habe es ja gar nicht niedergelegt. Ich bin ausgeschlossen worden.«
Der Pinscher kläffte los: »Angeklagte, achten Sie auf Ihre Worte! Auch Sie können, genau wie Ihr Mann, in Strafe genommen werden, wenn Sie es zu bunt treiben! Eben erst haben Sie mir zugegeben, dass Sie Ihr Amt niedergelegt haben.«
»Das habe ich nicht. Ich habe gesagt: nein, mein Mann hat mich nicht angestitftet.«
»Sie lügen! Sie lügen! Sie haben die Unverschämtheit, dem Hohen Gerichtshof und mir ins Gesicht zu lügen!«
Wütendes Gekläff. Die Angeklagte bleibt bei ihrer Aussage.
»Man vergleiche das Stenogramm!«
Das Stenogramm wird verlesen, und es wird festgestellt, dass die Angeklagte mit ihrer Behauptung recht hat. Bewegung im Saal. Otto Quangel sieht beifällig seine Anna an, die sich nicht einverschüchtern lässt. Er ist stolz auf sie.
Ankläger Pinscher lässt einen Augenblick den Schwanz hängen und schielt zum Präsidenten. Der gähnt diskret hinter der Geierklaue. Der Ankläger entschließt sich, er verlässt die alte Spur und nimmt eine neue auf.
»Angeklagte, Sie waren doch schon ziemlich ältlich, als Ihr jetziger Mann Sie heiratete?«
»Ich war an die dreißig.«
»Und vorher?«
»Ich verstehe das nicht.«
»Tun Sie bloß nicht so unschuldig, ich will wissen, was Sie vor Ihrer Ehe für Beziehungen zu den Männern hatten. Nun, wird’s bald?«
Bei der abgrundtiefen Gemeinheit dieser Frage wurde Anna Quangel erst rot, dann blass. Hilfeflehend sah sie zu ihrem ältlichen versorgten Verteidiger hin, der aufsprang und sagte: »Ich bitte, die Frage als nicht zur Sache gehörig zurückzuweisen!«
Und der Ankläger: »Meine Frage gehört zur Sache. Hier ist die Vermutung laut geworden, die Angeklagte sei nur eine Mitläuferin ihres Mannes gewesen. Ich werde beweisen, dass sie eine moralisch ganz tiefstehende Person war, aus dem Pöbel stammend, dass man sich bei ihr jedes Verbrechens zu versehen hat.«
Der Präsident erklärte gelangweilt: »Die Frage gehört zur Sache. Sie ist zugelassen.«
Der Pinscher kläffte neu: »Also mit wie viel Männern hatten Sie bis zu Ihrer Ehe Beziehungen?«
Alle Augen sind auf Frau Anna Quangel gerichtet. Einige Studenten im Hörerraum lecken sich die Lippen, jemand stöhnt wohlig.
Quangel sieht mit einiger Besorgnis auf Anna, er weiß doch, wie empfindlich sie in diesem Punkte ist.
Aber Anna Quangel hat sich entschlossen. Wie ihr Otto vorhin alle Bedenken wegen seiner Spargelder hinter sich geworfen hat, so war sie jetzt willens, schamlos vor diesen schamlosen Männern zu sein.
Der Ankläger hatte gefragt: »Also mit wie viel Männern hatten Sie bis zu Ihrer Ehe Beziehungen?«
Und Anna Quangel antwortet: »Mit siebenundachtzig.«
Jemand prustet im Zuhörerraum los.
Der Präsident wacht aus seinem Halbschlaf auf und sieht beinah interessiert auf die kleine Arbeiterfrau mit der gedrungenen Gestalt, den roten Bäckchen, der vollen Brust.
Quangels dunkle Augen haben aufgeleuchtet, nun hat er die Lider wieder tief über sie gesenkt. Er sieht niemanden an.
Der Ankläger aber stottert völlig verwirrt: »Mit siebenundachtzig? Wieso grade mit siebenundachtzig?«
»Das weiß ich nicht«, sagt Anna Quangel ungerührt. »Mehr waren’s eben nicht.«
»So?«, sagt der Ankläger missmutig. »So!«
Er ist sehr missmutig, denn er hat die Angeklagte plötzlich zu einer interessanten Figur gemacht, was keineswegs in seiner Absicht lag. Auch ist er, wie die meisten Anwesenden, fest davon überzeugt, dass sie lügt, dass es vielleicht nur zwei oder drei Liebhaber waren, womöglich sogar keiner. Man könnte sie wegen Verhöhnung des Gerichts in Strafe nehmen lassen. Aber wie ihr diese Absicht beweisen?
Endlich entschließt er sich. Er sagt grämlich: »Ich bin fest davon überzeugt, dass Sie maßlos übertreiben, Angeklagte. Eine Frau, die siebenundachtzig Liebhaber gehabt hat, wird sich wohl kaum der Zahl erinnern. Sie wird antworten: viele. Aber Ihre Antwort beweist grade Ihre Verkommenheit. Sie rühmen sich noch Ihrer Schamlosigkeit! Sie sind stolz darauf, eine Hure gewesen zu sein. Und aus der Hure sind Sie dann das geworden, was aus allen Huren gemeiniglich wird, Sie sind eine Kuppelmutter geworden. Den eigenen Sohn haben Sie verkuppelt.«
Jetzt hat er Anna Quangel doch gebissen, der Pinscher.
»Nein!«, schreit Anna Quangel und erhebt bittend die Hände. »Sagen Sie doch das nicht! So etwas habe ich nie getan!«
»Das haben Sie nicht getan?«, kläfft der Pinscher. »Und wie wollen Sie das nennen, dass Sie der sogenannten Braut Ihres Sohnes mehrfach nachts Unterkunft gewährt haben? Da haben Sie wohl Ihren Sohn unterdes ausquartiert? He? Wo hat denn diese Trudel geschlafen? Sie wissen doch, sie ist tot, ja, das wissen Sie doch? Sonst säße dieses Frauenzimmer, diese Mithelferin Ihres Mannes bei seinen Verbrechen, auch hier auf der Anklagebank!«
Aber die Erwähnung der Trudel hat Frau Quangel neuen Mut eingeflößt. Sie sagt, nicht zum Ankläger, sondern zum Gerichtshof hinüber: »Ja, gottlob, dass die Trudel tot ist, dass sie diese letzte Schande nicht miterlebt hat …«
»Mäßigen Sie sich gefälligst! Ich warne Sie, Angeklagte!«
»Sie war ein gutes, anständiges Mädchen …«
»Und trieb ihr fünf Monate altes Kind ab, weil sie keine Soldaten zur Welt bringen wollte!«
»Sie hat das Kind nicht abgetrieben, sie war unglücklich über seinen Tod!«
»Sie hat es selber eingestanden!«
»Das glaube ich nicht.«
Der Ankläger schreit los: »Was Sie hier glauben oder nicht, das ist uns gleich! Aber ich rate Ihnen dringend, Ihren Ton zu ändern, Angeklagte, sonst erleben Sie noch etwas sehr Unangenehmes! Die Aussage der Hergesell ist von dem Kommissar Laub protokolliert. Und ein Kriminalkommissar lügt nicht!«
Drohend sah sich der Pinscher im ganzen Saal um.
»Und nun ersuche ich Sie nochmals, Angeklagte, mir zu sagen: Hat Ihr Sohn in intimen Beziehungen zu diesem Mädchen gestanden oder nicht?«
»Danach sieht eine Mutter nicht hin. Ich bin keine Schnüfflerin.«
»Aber Sie hatten eine Aufsichtspflicht! Wenn Sie den unsittlichen Verkehr Ihres Sohnes in der eigenen Wohnung zulassen, haben Sie sich der schweren Kuppelei schuldig gemacht, so bestimmt es das Strafgesetzbuch.«
»Davon weiß ich nichts. Aber ich weiß, dass Krieg war und dass mein Junge vielleicht sterben musste. In unsern Kreisen ist das so, wenn zwei verlobt sind oder so gut wie verlobt, und noch dazu Krieg ist, so sehen wir nicht so genau hin.«
»Aha, jetzt gestehen Sie also, Angeklagte! Sie haben von den unsittlichen Beziehungen gewusst, und Sie haben sie geduldet! Das nennen Sie dann: nicht so genau hinsehen. Aber das Strafgesetzbuch nennt es schwere Kuppelei, und eine Mutter ist schändlich und völlig verworfen, die so etwas duldet!«
»So, ist sie das? Na, dann möchte ich wohl wissen«, sagt Anna Quangel ganz ohne Angst und mit fester Stimme, »dann möchte ich wohl wissen, wie das Strafgesetzbuch das nennt, was der Bubi-drück-mich-Verein1 tut?«
Lebhaftes Lachen …
»Und was die SA ausfrisst mit ihren Mädchen …«
Das Lachen bricht ab.
»Und die SS – sie erzählen ja, die SS schändet die Judenmädchen erst und schießt sie hinterher tot …«
Einen Augenblick Totenstille …
Aber dann bricht der Tumult los. Sie schreien. Welche von den Zuhörern klettern über die Schranken und wollen auf die Angeklagte eindringen.
Otto Quangel ist aufgesprungen, bereit, seiner Frau zu Hilfe zu eilen …
Der Schutzpolizist, die fehlenden Hosenträger behindern ihn.
Der Präsident steht da und gebietet heftig, aber vergeblich Ruhe.
Die Beisitzer reden laut miteinander. Der Blöde mit dem stets offenen Mund schüttelt die Fäuste …
Der Ankläger Pinscher kläfft und kläfft, und niemand versteht ein Wort …
Die heiligsten Gefühle der Nation sind verletzt, die SS ist beleidigt, die Lieblingstruppe des Führers, die Elite germanischer Rasse!
Schließlich wird Anna Quangel aus dem Saal geschleppt, der Lärm beruhigt sich wieder, der Gerichtshof zieht sich zur Beratung zurück …
In fünf Minuten erscheint er wieder:
»Die Angeklagte Anna Quangel ist von der Teilnahme an der Verhandlung gegen sie ausgeschlossen. Sie bleibt von jetzt an in Fesseln. Dunkelarrest bis auf Weiteres. Wasser und Brot nur jeden zweiten Tag.«
Die Verhandlung geht weiter.
1 BDM, Bund Deutscher Mädel <<<
Der Zeuge Ulrich Heffke, dieser Qualitätsarbeiter, der bucklige Bruder Anna Quangels, hat schwere Monate hinter sich. Der tüchtige Kommissar Laub hatte ihn mit seiner Frau gleich nach der Festnahme der Quangels verhaftet, ohne jeden stichhaltigen Verdacht, einfach nur, weil er ein Verwandter der Quangels war.
Von da an hatte Ulrich Heffke in Angst gelebt. Dieser sanfte Mensch mit einem schlichten, einfachen Geist, der sein Lebtag allem Streit aus dem Wege gegangen war, war von dem Sadisten Laub verhaftet worden, gequält, angeschrien, geschlagen. Man hatte ihn hungern lassen, gedemütigt, kurz, er war mit allen teuflischen Künsten gemartert worden.
Darüber war der Geist des Buckels völlig verwirrt geworden. Er hatte nur ängstlich gelauscht, was seine Quäler hören wollten, und er hatte dann besinnungslos auch die ihn belastendsten Geständnisse abgelegt, deren Widersinn ihm doch sofort bewiesen wurde.
Und von Neuem hatte man ihn gemartert, in der Hoffnung, von dem kleinen Buckel doch noch ein neues, bisher ungekannt gebliebenes Verbrechen zu erfahren. Denn Kommissar Laub handelte nach dem Satz dieser Zeiten: Jeder hat was ausgefressen. Man muss nur lange genug suchen, so findet man auch was.
Laub wollte und wollte es nicht glauben, dass er auf einen Deutschen gestoßen war, der kein Parteimitglied war und der trotzdem nie einen ausländischen Sender abgehört, eine defätistische1 Flüsterpropaganda getrieben hatte, der nie eine Lebensmittelverordnung übertreten hatte. Laub sagte es dem Heffke auf den Kopf zu, dass er die Karten am Nollendorfplatz für seinen Schwager eingesteckt hatte.
Heffke gab es zu – und nach drei Tagen konnte es ihm Laub beweisen, dass er, Ulrich Heffke, die Karten unmöglich eingesteckt haben konnte.
Kommissar Laub beschuldigte den Heffke nun des Verrates von Betriebsgeheimnissen in der optischen Fabrik, in der er arbeitete. Heffke gestand, und nach einer Woche mühsamer Ermittlungen konnte Laub feststellen, dass es in dieser Fabrik gar keine Geheimnisse zu verraten gab; niemand wusste dort, für welche Waffe eigentlich die Einzelteile, die man dort herstellte, bestimmt waren.
Jedes falsche Geständnis musste Heffke teuer bezahlen, aber das machte ihn nur verschreckter, nicht klüger. Er gestand blindlings, nur um Ruhe zu haben, einem weiteren Verhör zu entrinnen, er unterschrieb jedes Protokoll. Er hätte sein eigenes Todesurteil unterschrieben. Er war nichts wie Gallert, ein Häufchen Angst, das schon beim ersten Wort zu zittern anfing.
Kommissar Laub war schamlos genug, diesen Unglücksmenschen zusammen mit den Quangels in die Untersuchungshaft überführen zu lassen, obwohl nicht eines der Protokolle eine Beteiligung Heffkes an den »Verbrechen« der Quangels bewies. Sicher war sicher, mochte der Untersuchungsrichter sehen, ob er nicht doch etwas Belastendes aus dem Heffke herausbekam. Ulrich Heffke benutzte die etwas vielseitigeren Möglichkeiten der Untersuchungshaft dazu, dass er sich erst einmal aufhängte. Man fand ihn im allerletzten Augenblick, schnitt ihn ab und schenkte ihn einem Leben wieder, das ihm völlig unerträglich geworden war.
Von Stunde an musste der kleine Buckel unter noch viel schwereren Bedingungen leben: in seiner Zelle brannte die ganze Nacht Licht, ein Sonderposten sah in Abständen von wenigen Minuten durch die Tür, seine Hände waren gefesselt, und er wurde fast täglich zu einem Verhör geholt. Wenn der Untersuchungsrichter in den Akten auch nichts Belastendes gegen Heffke gefunden hatte, so war er doch fest davon überzeugt, dass der Buckel ein Verbrechen verbarg, denn warum hätte er sonst einen Selbstmordversuch machen sollen? Kein Unschuldiger tat das! Die gradezu blödsinnige Art Heffkes, jeder Beschuldigung erst einmal zuzustimmen, bewirkte es, dass der Untersuchungsrichter erst einmal zu den langwierigsten Vernehmungen und Ermittlungen schreiten musste, die dann ergaben, dass Heffke nichts getan hatte.
So kam es, dass Ulrich Heffke erst eine Woche vor der Hauptverhandlung aus der Untersuchungshaft entlassen wurde. Er kehrte zu seiner langen, dunklen, müden Frau zurück, die schon längst freigekommen war. Sie empfing ihn schweigend. Heffke war zu verstört, um zur Arbeit gehen zu können; er kniete oft stundenlang in einem Zimmerwinkel und sang mit angenehmer, leiser Falsettstimme Kirchenlieder vor sich hin. Er sprach kaum noch, und nachts weinte er viel. Sie hatten Geld gespart, so tat die Frau nichts, den Mann zur Arbeit anzuspornen.
Drei Tage nach seiner Entlassung bekam Ulrich Heffke schon wieder eine Ladung als Zeuge zu der Hauptverhandlung. Sein schwacher Kopf konnte es so recht nicht mehr fassen, dass er nur als Zeuge geladen war. Seine Aufregung steigerte sich von Stunde zu Stunde, er aß fast nichts mehr und sang immer länger. Die Angst, die eben erst überstandenen Quälereien sollten schon wieder losgehen, quälte ihn unendlich.
In der Nacht vor der Hauptverhandlung hängte er sich zum zweiten Male auf, diesmal rettete ihm sein dunkles Weib das Leben. Sobald er wieder atmen konnte, prügelte sie ihn gründlich durch. Sie missbilligte seine Lebensweise. Am nächsten Tage nahm sie ihn fest unter den Arm und lieferte ihn an der Tür des Zeugenzimmers dem Gerichtsdiener mit den Worten ab: »Der hat einen Vogel! Auf den müssen Sie gut aufpassen!«
Da das Zeugenzimmer schon gut besetzt war, als diese Worte fielen – es waren in der Hauptsache Arbeitskameraden von Quangel geladen, die Fabrikleitung, die beiden Frauen und der Postsekretär, die ihn beim Ablegen der Karten beobachtet hatten, die zwei Damen aus dem Vorstand der Frauenschaft und so weiter –, da also schon eine ganze Reihe von Zeugen anwesend war, als Anna Heffke diese Worte sagte, so passte nicht nur der Gerichtsdiener, sondern die ganze Zeugenschaft eifrig auf den kleinen Mann auf. Manche versuchten, sich die langweilige Wartezeit mit Neckereien des Buckels zu verkürzen, aber es wurde nicht viel damit: dem Manne sah zu sehr die Angst aus den Augen. Die Leute waren doch zu gutmütig, ihm viel zuzusetzen.
Die Vernehmung durch den Präsidenten Feisler hatte der Buckel trotz seiner Angst gut überstanden, einfach, weil er so leise sprach und so sehr zitterte, dass es dem höchsten Richter in Bälde langweilig wurde, sich diesen Angsthasen länger vorzunehmen. Dann hatte der Buckel sich unter die anderen Zeugen geduckt, in der Hoffnung, alles sei nun für ihn abgetan.
Aber dann hatte er mit ansehen müssen, wie der Ankläger Pinscher sich seine Schwester vornahm, wie er sie quälte, er hörte die schamlosen Fragen, die Anna gestellt wurden. Sein Herz empörte sich, er wollte vortreten, er wollte für die heißgeliebte Schwester reden, er wollte bezeugen, dass sie immer ein anständiges Leben geführt hatte – und seine Furcht ließ ihn wieder sich niederducken, sich verkriechen, feige sein.
So verfolgte er, zwischen Angst und Feigheit und Mutanwandlungen nicht mehr Herr seiner Sinne, den Fortgang der Verhandlung, bis er zu jenem Moment kam, da Anna Quangel den BDM, die SA und die SS beschimpfte. Er erlebte den Tumult, der folgte, er machte selbst für seine eigene kleine, lächerliche Figur ein bisschen Tumult mit, indem er auf die Bank kletterte, um besser sehen zu können. Er sah, wie zwei Schupos Anna aus dem Saal schleppten.
Er stand noch immer auf der Bank, als der Präsident endlich Ruhe zu schaffen begann im Saal. Seine Nachbarn hatten ihn vergessen, sie steckten noch die Köpfe zusammen.
Da fiel der Blick des Anklägers Pinscher auf Ulrich Heffke, er betrachtete verwundert die erbarmungswürdige Gestalt und rief: »He, Sie da …! Sie sind doch der Bruder der Angeklagten! Wie heißen Sie doch?«
»Heffke, Ulrich Heffke«, half dem Ankläger sein Assessor aus.
»Zeuge Ulrich Heffke, das war Ihre Schwester! Ich fordere Sie auf, sich zu dem Vorleben der Anna Quangel zu äußern! Was wissen Sie von diesem Vorleben?«
Und Ulrich Heffke tat den Mund auf – er stand noch immer auf seiner Bank, und seine Augen blickten zum ersten Male ohne Scheu. Er tat den Mund auf, und mit einer angenehmen Falsettstimme sang er:
»Valet will ich dir geben, du arge, falsche Welt!
Dein sündlich böses Streben durchaus mir nicht gefällt.
Im Himmel ist gut wohnen: hinauf steht mein Begier.
Da wird Gott herrlich lohnen dem, der ihm dient allhier!«
Alle waren derart verblüfft, dass sie ihn ruhig singen ließen. Einige empfanden sogar diesen schlichten Gesang angenehm und wiegten, der Melodie folgend, dumm die Köpfe hin und her. Der eine Beisitzer hatte schon wieder den Mund weit offen. Die Studenten hielten mit den Händen die Schranke fest umklammert, mit einem gespannten Zug im Gesicht. Der versorgte graue Anwalt pulte sich bei schiefgelegtem Kopf gedankenvoll in der Nase. Otto Quangel hatte sein scharfes Gesicht auf den Schwager gerichtet und fühlte zum ersten Male sein kaltes Herz für den armen kleinen Kerl klopfen. Was würden sie mit ihm tun?
»Verbirg mein Seel aus Gnaden in deiner offnen Seit,
Rück sie aus allem Schaden in deine Herrlichkeit.
Der ist wohl hin gewesen, der kommt ins Himmelsschloss;
Der ist ewig genesen, der bleibt in deinem Schoß.«
Während des Absingens der zweiten Strophe war es im Saale schon wieder unruhig geworden. Der Präsident hatte geflüstert, der Ankläger hatte einen Zettel zu dem wachhabenden Polizeioffizier geschickt.
Aber der kleine Buckel hatte auf nichts von alledem geachtet. Sein Blick war zur Decke des Saales gerichtet. Nun rief er laut, mit einer ekstatisch verzückten Stimme: »Ich komme!«
Er hob die Arme, er stieß sich mit den Füßen von der Bank ab, er wollte fliegen …
Dann fiel er unbeholfen zwischen die vor ihm sitzenden Zeugen, die erschrocken zur Seite sprangen, rollte zwischen die Bänke …
»Schaffen Sie den Mann raus!«, rief der Präsident gebieterisch in den schon wieder tumultuarisch erregten Saal. »Er soll ärztlich untersucht werden!«
Ulrich Heffke wurde aus dem Saal gebracht.
»Wie man sieht: eine Familie von Verbrechern und Wahnsinnigen«, stellte der Präsident fest. »Nun, es wird für die Ausmerzung gesorgt werden.«
Und er warf einen drohenden Blick auf Otto Quangel, der, seine Hosen mit den Händen haltend, noch immer auf die Tür sah, durch die der kleine Schwager verschwunden war.
Freilich wurde für die Ausmerzung des kleinen Buckels Ulrich Heffke gesorgt. Körperlich wie geistig war er nicht lebenswert, und nach einem kurzen Anstaltsaufenthalt sorgte eine Spritze dafür, dass er dieser bösen Welt wirklich Valet sagen konnte.
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