Hans Fallada – Gesammelte Werke

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54. Otto Quangels schwerste Last



Wäh­rend der neun­zehn Tage, die Otto Quan­gel im Bun­ker der Ge­sta­po zu­brin­gen muss­te, ehe er dem Un­ter­su­chungs­rich­ter beim Volks­ge­richts­hof aus­ge­lie­fert wur­de, wa­ren für ihn nicht die Ver­hö­re durch den Kom­missar Laub das am schwers­ten zu Er­tra­gen­de, trotz­dem die­ser Mann alle sei­ne nicht ge­rin­gen Kräf­te auf­wand­te, um den Wi­der­stand Quan­gels zu bre­chen, wie er es nann­te. Das hieß nichts an­de­res, als dass er mit all sei­nen schlim­men Kräf­ten be­müht war, aus dem Häft­ling ein schrei­en­des, angst­vol­les Gar­nichts zu ma­chen.



Es war auch nicht die stän­dig wach­sen­de, sehr quä­len­de Sor­ge um sei­ne Frau Anna, die Otto Quan­gel so zer­mürb­te. Er sah sei­ne Frau nicht, er hör­te nie di­rekt et­was von ihr. Aber als Laub bei den Ver­neh­mun­gen den Na­men Tru­del Bau­manns, nein, jetzt Tru­del Her­ge­sells nann­te, wuss­te er, sei­ne Frau hat­te sich ver­ängs­ti­gen las­sen, sie war über­lis­tet wor­den, ein Name war ihr ent­schlüpft, den sie nie hät­te zu nen­nen brau­chen.



Spä­ter, als im­mer kla­rer wur­de, auch Tru­del Bau­mann und ihr Mann wa­ren ver­haf­tet wor­den, sie hat­ten aus­ge­sagt, sie wa­ren mit in die­sen Stru­del ge­zo­gen, da ha­der­te er in Ge­dan­ken vie­le Stun­den mit sei­ner Frau. Es war im­mer sein Stolz ge­we­sen in die­sem sei­nem Le­ben, ein Mensch ganz für sich al­lein zu sein, die an­de­ren nicht zu brau­chen, ih­nen nie läs­tig zu fal­len, und nun wa­ren durch sein Ver­schul­den (denn er fühl­te sich voll ver­ant­wort­lich für Anna) zwei jun­ge Men­schen in sei­ne Sa­chen her­ein­ge­zo­gen wor­den.



Aber der Ha­der hielt nicht lan­ge an, die Trau­er und die Sor­ge um sei­ne Le­bens­ge­fähr­tin über­wo­gen. Al­lein mit sich, press­te er oft die Nä­gel in die Hand­tel­ler, er schloss die Au­gen, er sam­mel­te alle sei­ne Stär­ke in sich – und dann dach­te er an Anna, er such­te sie sich vor­zu­stel­len in ih­rer Zel­le, und er schick­te Kraft­strö­me aus, um ihr neu­en Mut zu ge­ben, da­mit sie nur nicht ihre Wür­de ver­gä­ße, sich nicht de­mü­ti­ge vor die­sem Elen­den, der kaum noch et­was Men­sch­li­ches hat­te.



Die­se Sor­ge um Anna war schwer zu er­tra­gen, aber sie war bei wei­tem das Schwers­te nicht.



Das Schwers­te wa­ren auch nicht die fast all­täg­li­chen Ein­brü­che in die Zel­le von be­trun­ke­nen SS-Män­nern und ih­ren Füh­rern, die ihre Wut und Quä­le­rei­en an dem Wehr­lo­sen aus­lie­ßen. Fast all­täg­lich ris­sen sie die Zel­len­tür auf, stürz­ten her­ein, wild vom Al­ko­hol, nur von der Gier be­ses­sen, Blut zu se­hen, Men­schen ver­zu­cken, ver­ge­hen zu se­hen, sich an der Schwä­che des Flei­sches zu er­bau­en. Auch dies war sehr schwer zu er­tra­gen, aber das Schwers­te war es noch nicht.



Son­dern das Schwers­te war, dass er nicht al­lein in sei­ner Zel­le war, dass er einen Zel­len­ge­fähr­ten hat­te, einen Mit­lei­den­den, einen, der eben­so schul­dig sein soll­te, einen Mit­menschen. Denn das war ein Mensch, vor dem Quan­gel ein Grau­sen an­kam, ein wil­des, un­flä­ti­ges Tier, herz­los und fei­ge, zit­ternd und roh, ein Mensch, den Quan­gel nicht an­se­hen konn­te, ohne einen tie­fen Ekel vor ihm zu emp­fin­den, und dem er doch will­fäh­rig sein muss­te, denn der Mann be­saß viel mehr Kräf­te als der alte Werk­meis­ter.



Karl Ziem­ke, von den Wa­chen Karl­chen ge­nannt, war ein etwa drei­ßig­jäh­ri­ger Mann von her­ku­li­schem Kör­per­bau, mit ei­nem run­den, bul­len­bei­ßer­haf­ten Kopf, in dem sehr klei­ne Au­gen sa­ßen, und mit lan­gen, dicht­be­haar­ten Ar­men und Hän­den. Sei­ne nied­ri­ge, buck­li­ge Stirn, in die stets ein Wisch fil­zi­ger Haa­re hing, war von vie­len Längs­fal­ten ge­furcht. Er sprach nur we­nig, und das we­ni­ge, was er sprach, war nur Ze­te­rei und Mord. Wie Quan­gel bald aus den Re­den der Wa­chen er­fuhr, war Karl­chen Ziem­ke frü­her selbst ein pro­mi­nen­tes Mit­glied der SS ge­we­sen, er hat­te eine au­ßer­or­dent­li­che Hen­kers­mis­si­on zu er­fül­len ge­habt, und wie vie­le Men­schen die­se be­haar­ten Tat­zen um­ge­bracht hat­ten, das wür­de nie zu er­fah­ren sein, denn Karl­chen wuss­te es selbst nicht.



Doch für den Be­rufs­mör­der Karl­chen Ziem­ke hat­te es selbst in die­sen mord­lus­ti­gen Zei­ten oft nicht ge­nug zu mor­den ge­ge­ben, und da war er in sol­chen be­schäf­ti­gungs­lo­sen Zei­ten dazu über­ge­gan­gen, auch dann Mor­de zu be­ge­hen, wenn sie nicht von sei­nen Vor­ge­setz­ten an­ge­ord­net wor­den wa­ren. Wenn er es da­bei auch nicht ver­schmäh­te, sei­nen Op­fern Geld und Wert­sa­chen ab­zu­neh­men, so war doch nie das Rau­ben der Grund zu sei­nen Übel­ta­ten ge­we­sen, son­dern stets nur die rei­ne Mord­lust. Und schließ­lich war man ihm dar­auf ge­kom­men, und da er so un­ge­schickt ge­we­sen war, nicht nur Ju­den, Volks­fein­de und ähn­li­ches Frei­wild um­zu­brin­gen, son­dern auch ein­wand­freie Ari­er und dar­un­ter so­gar einen Par­t­ei­ge­nos­sen, so saß er nun erst ein­mal hier im Bun­ker, und es war noch un­ge­wiss, was mit ihm ge­sche­hen soll­te.



Karl­chen Ziem­ke, der so vie­le ohne einen schnel­le­ren Herz­schlag in den Tod ge­schickt hat­te, war es angst um das ei­ge­ne kost­ba­re Le­ben ge­wor­den, und in sei­nem Kopf, der nicht viel mehr Ge­dan­ken, als ein fünf­jäh­ri­ges Kind hat, in sich trug, aber sehr viel bö­se­re, war der Ge­dan­ke auf­ge­taucht, dass er sich vor den Fol­gen sei­ner Ta­ten ret­ten konn­te, wenn er den Wahn­sin­ni­gen spiel­te. Er hat­te sich da­für die Rol­le ei­nes Hun­des aus­ge­dacht. Oder sie war ihm auch von ir­gend­wel­chen Ka­me­ra­den an­ge­ra­ten wor­den, was das Wahr­schein­li­che­re war, und er führ­te die­se Rol­le mit Kon­se­quenz durch, das zeig­te, dass sie ihm lag.



Meist lief er völ­lig nackt auf al­len vie­ren in der Zel­le her­um, bell­te hün­disch, fraß aus sei­ner Schüs­sel wie ein Hund und leg­te es im­mer wie­der dar­auf an, Quan­gel in die Bei­ne zu bei­ßen. Oder er ver­lang­te von dem al­ten Werk­meis­ter, dass er ihm stun­den­lang eine Bürs­te zu­warf, die Karl­chen dann ap­por­tier­te, wo­für er ge­strei­chelt und be­lobt wer­den woll­te. Oder Quan­gel muss­te die Ho­sen Karl­chens wie ein Sprung­seil schwin­gen, wor­über dann Karl­chen un­un­ter­bro­chen sprang.



Zeig­te sich der Werk­meis­ter nicht wil­lig ge­nug, so über­fiel ihn der »Hund«, warf ihn zu Bo­den und fass­te sei­ne Keh­le wie ein Hund mit den Zäh­nen, und nie war es si­cher, dass aus dem Spiel nicht Ernst wur­de. Die Wa­chen hat­ten eine tie­fe Freu­de an den Er­göt­zun­gen Karl­chens. Oft stan­den sie lan­ge in der Zel­len­tür und hetz­ten den Hund, sie mach­ten ihn scharf, und Quan­gel muss­te al­les über sich er­ge­hen las­sen. Ka­men sie aber in ih­rer be­trun­ke­nen Wut, sie an den Ge­fan­ge­nen aus­zu­las­sen, so war­fen sie Karl­chen auf die Erde, er brei­te­te sei­ne Arme auf der Erde aus und fleh­te sie an, ihm die Ge­där­me aus dem nack­ten Leib zu tre­ten.



Mit die­sem Man­ne war Quan­gel ver­ur­teilt, Tag für Tag, Stun­de um Stun­de, Mi­nu­te nach Mi­nu­te zu­sam­men­zu­le­ben. Er, der stets für sich al­lein ge­lebt hat­te, konn­te nun nicht mehr eine Vier­tel­stun­de für sich al­lein sein. Selbst nachts, wenn er den Trös­ter Schlaf such­te, war er vor sei­nem Quä­ler nicht si­cher. Plötz­lich hock­te er an sei­nem Bett, hat­te die Pran­ke auf Quan­gels Brust ge­legt und ver­lang­te Was­ser oder auch einen Platz auf Quan­gels La­ger. Der muss­te bei­sei­terücken, er schüt­tel­te sich vor Ekel vor die­sem Kör­per, der nie ge­wa­schen wur­de, der haa­rig war wie der ei­nes Tie­res, der aber nichts von der Rein­heit und Un­schuld der Tie­re hat­te. Und dann bell­te Karl­chen lei­se und fing an, das Ge­sicht Otto Quan­gels ab­zu­le­cken und nach dem Ge­sicht den gan­zen Kör­per.



Ja, dies war schwer zu er­tra­gen, und oft frag­te sich Otto Quan­gel, warum er es denn ei­gent­lich er­trug, da das Ende doch ge­wiss war, das nahe Ende. Aber da war ein Wi­der­stand in ihm, sich selbst aus­zu­lö­schen, Anna zu ver­las­sen, die er doch nicht mehr sah. Da war ein Wi­der­stand in ihm, es de­nen so leicht zu ma­chen, das Ur­teil vor­weg­zu­neh­men. Sie soll­ten ihm das Le­ben ab­spre­chen, es ihm neh­men, mit Strick oder Fall­beil, gleich­viel. Sie soll­ten nicht glau­ben, dass er sich schul­dig fühl­te. Nein, er woll­te ih­nen nichts er­spa­ren, und so er­spar­te er sich Karl­chen Ziem­ke nicht.



Und es war selt­sam: je wei­ter die­se neun­zehn Tage vor­rück­ten, umso er­ge­be­ner schi­en ihm der »Hund« zu wer­den. Er biss ihn nicht mehr, er warf ihn nicht mehr und fass­te ihn an der Keh­le. Hat­ten ihm sei­ne SS-Ka­me­ra­den ein­mal einen bes­se­ren Bis­sen zu­ge­teilt, so muss­te er durch­aus ge­teilt wer­den, und oft lag der Hund stun­den­lang mit sei­nem rie­si­gen Rund­schä­del im Scho­ße des al­ten Man­nes, die Au­gen ge­schlos­sen, lei­se vor sich hin blaf­fend, wäh­rend die Fin­ger Otto Quan­gels durch sei­ne Haa­re fuh­ren.



Dann frag­te sich der Werk­meis­ter oft, ob die­ses Tier über dem Vor­täu­schen ei­nes Wahn­sinns nicht wirk­lich wahn­sin­nig ge­wor­den war. Aber wenn er’s wirk­lich war, so wa­ren es sei­ne »frei­en« Ka­me­ra­den auf den Gän­gen des Bun­kers auch. Dann än­der­te es auch nichts, dann wa­ren sie samt ih­rem wahn­sin­ni­gen Füh­rer und ih­rem stän­dig blö­de grin­sen­den Himm­ler ein Ge­schlecht, das aus­ge­löscht wer­den muss­te von dem Ant­litz der Erde, da­mit die Ver­nünf­ti­gen le­ben konn­ten.



Als es dann hieß, Otto Quan­gel käme auf Trans­port, war Karl­chen sehr un­glück­lich. Er jaul­te und wim­mer­te, er zwang Quan­gel sein gan­zes Brot auf, und als der Werk­meis­ter auf den Gang her­austre­ten und mit hoch er­ho­be­nen Ar­men das Ge­sicht ge­gen die Wand pres­sen muss­te, schlüpf­te der nack­te Mann auf al­len vie­ren aus der Zel­le, hock­te sich ne­ben ihn und jaul­te lei­se und jam­mer­voll. Dies hat­te das Gute, dass die ro­hen SS-Män­ner nicht ganz so roh mit Quan­gel um­spran­gen wie mit den an­de­ren Trans­port­ge­fan­ge­nen; ein Mann, der die Er­ge­ben­heit ei­nes sol­chen Hun­des ge­won­nen hat­te, die­ser Mann mit dem kal­ten, bö­sen Vo­gel­ge­sicht mach­te so­gar auf die Hen­kers­knech­te Ein­druck.

 



Und als es dann »Abrücken!« hieß, als der Hund Karl­chen in sei­ne Zel­le zu­rück­ge­jagt wur­de, da war das Ge­sicht Quan­gels nicht mehr nur kalt und böse, da emp­fand er in sei­nem Her­zen einen leich­ten Druck, et­was wie Be­dau­ern. Der Mann, der in sei­nem gan­zen Le­ben sein Herz nur an einen Men­schen, näm­lich an sei­ne Frau, ge­hängt hat­te, sah den viel­fa­chen Mör­der, die­ses Vieh von ei­nem Men­schen, nur un­gern aus sei­nem Le­ben schei­den.




55. Anna Quangel und Trudel Hergesell



Vi­el­leicht war es nur Schlam­pe­rei, dass Anna Quan­gel als Zel­len­ge­fähr­tin nach Ber­tas Tode Tru­del Her­ge­sell be­kam. Vi­el­leicht aber war es auch so, dass die dem Herrn Kom­missar Laub im Grun­de ganz un­wich­tig wa­ren. Man quetsch­te aus ih­nen her­aus, was sie wuss­ten, was sie von ih­ren Ker­len er­fah­ren hat­ten, und dann wa­ren sie er­le­digt. Die wirk­li­chen Ver­bre­cher wa­ren im­mer die Män­ner, die Wei­ber lie­fen nur so mit, was frei­lich nicht hin­der­te, dass sie mit ih­ren Män­nern hin­ge­rich­tet wur­den.



Ja, Ber­ta war ge­stor­ben, die­se Ber­ta, die der Anna ganz harm­los die An­we­sen­heit ih­rer Schwä­ge­rin ver­ra­ten und da­durch den Zorn des Kom­missars Laub auf ihr Haupt her­ab­ge­zo­gen hat­te. Sie war aus­ge­löscht wie ein Licht, in Anna Quan­gels Ar­men war sie, schwä­cher und schwä­cher wer­dend, ge­stor­ben, und mit stets lei­se­rer Stim­me hat­te sie ihre Zel­len­ge­fähr­tin nur an­ge­fleht, nie­man­den zu ru­fen. Ber­ta, wie sie nun wei­ter hei­ßen und was für ein Ver­bre­chen sie auch be­gan­gen ha­ben moch­te, war plötz­lich still ge­wor­den. Ein paar­mal hat­te es in ih­rer Keh­le noch ge­ras­selt, sie hat­te um Luft ge­kämpft, und dann war ein Blutstrom ge­kom­men, Blut über Blut; die um die Schul­tern An­nas ge­klam­mer­ten Arme hat­ten sich ge­löst …



Da hat­te sie ge­le­gen, sehr weiß und sehr still – und Anna hat­te sich voll Kum­mer ge­fragt, ob sie nicht mit Schuld an die­sem Ende trug. Hät­te sie zu dem Kom­missar Laub nicht ihre Schwä­ge­rin er­wähnt! Und dann dach­te sie an Tru­del Bau­mann, Tru­del Her­ge­sell, sie fing an zu zit­tern – die hat­te sie wirk­lich ver­ra­ten! Ge­wiss, ge­wiss, Ent­schul­di­gun­gen ge­nug. Wie hat­te sie ah­nen kön­nen, welch Un­heil aus der blo­ßen Er­wäh­nung von Ot­to­chens Braut ent­ste­hen wür­de! Aber dann war es wei­ter­ge­gan­gen, Schritt um Schritt, und schließ­lich war der Ver­rat of­fen­sicht­lich ge­we­sen, und sie hat­te einen Men­schen, an dem ihr Herz hing, un­glück­lich ge­macht, und viel­leicht nicht nur einen Men­schen.



Wenn Anna Quan­gel dar­an dach­te, sie müs­se Tru­del Her­ge­sell Auge in Auge ent­ge­gen­tre­ten, sie wer­de ihr ins Ge­sicht ihre ver­rä­te­rischen Wor­te wie­der­ho­len müs­sen, so zit­ter­te sie. Wenn sie aber an ih­ren Mann dach­te, so war sie ver­zwei­felt. Dann war sie über­zeugt, dass die­ser ge­wis­sen­haf­te, recht­li­che Mann ihr die­sen Ver­rat nie ver­zei­hen wür­de und dass sie noch vor ih­rem na­hen Le­bens­en­de den ein­zi­gen Ka­me­ra­den ver­lie­ren wür­de.



Wie habe ich nur so schwach sein kön­nen, klag­te sich Anna Quan­gel an, und wenn sie zu ei­nem Ver­hör zu Laub ge­holt wur­de, bat sie bei sich nicht dar­um, dass er sie nicht quä­len möge, son­dern sie bat um Stär­ke, trotz al­ler Quä­le­rei­en nichts aus­zu­sa­gen, was an­de­re be­las­ten konn­te. Und die­se klei­ne, schmäch­ti­ge Frau be­harr­te dar­auf, ih­ren Teil der Last zu tra­gen und mehr als ih­ren Teil: sie, nur sie al­lein hat­te – bis auf einen oder zwei Fäl­le – die Post­kar­ten aus­ge­tra­gen, und nur sie al­lein hat­te sich ih­ren In­halt aus­ge­dacht und ihn dem Man­ne dik­tiert. Sie al­lein war die Er­fin­de­rin die­ser Kar­ten; weil ihr Sohn ge­fal­len war, hat­te sie die­se Idee ge­fasst.



Der Kom­missar Laub, der wohl merk­te, dass ihre Aus­sa­gen er­lo­gen wa­ren, dass die­se Frau gar nicht fä­hig zu den Din­gen war, die ge­tan zu ha­ben sie be­haup­te­te – Kom­missar Laub moch­te schrei­en, dro­hen, quä­len, so viel er woll­te: sie un­ter­schrieb kein an­de­res Pro­to­koll, sie nahm nichts von die­sen Aus­sa­gen zu­rück, und wenn er ihr zehn Mal be­wies, dass sie nicht stim­men konn­ten. Laub hat­te die Schrau­be über­dreht, er war macht­los. Und wenn Anna von ei­nem sol­chen Ver­hör wie­der in den Kel­ler ge­bracht wur­de, hat­te sie ein Ge­fühl der Er­leich­te­rung, als habe sie einen Teil ih­rer Schuld ab­ge­büßt, als kön­ne Otto ein we­nig zu­frie­den mit ihr sein. Und der Ge­dan­ke wur­de stär­ker in ihr, dass sie viel­leicht Ot­tos Le­ben ret­ten könn­te, wenn sie nur alle Schuld auf sich nahm …



Nach den Ge­wohn­hei­ten des Ge­sta­po­ge­fäng­nis­ses hat­te man sich kei­nes­wegs be­eilt, die tote Ber­ta aus An­nas Zel­le zu ent­fer­nen. Es konn­te wie­der­um nur Schlam­pe­rei, es konn­te aber auch be­ab­sich­tig­te Quä­le­rei sein – je­den­falls lag die Tote schon den drit­ten Tag in der wi­der­lich süß­lich rie­chen­den Zel­le, als die Tür auf­ge­schlos­sen und ge­ra­de jene hin­ein­ge­sto­ßen wur­de, de­ren Bli­cken zu be­geg­nen Anna so große Angst hat­te.



Tru­del Her­ge­sell tat einen Schritt in die Zel­le. Ihre Au­gen sa­hen noch fast nichts, sie war zu Tode er­schöpft, und die Angst um den nicht wie­der zum Le­ben er­wach­ten Kar­li, von dem man sie eben roh ge­trennt hat­te, mach­te sie fast be­sin­nungs­los. Sie stieß einen lei­sen Schre­ckens­ruf aus, als sie den wi­der­li­chen Ver­we­sungs­ge­stank in der Zel­le roch, als sie die Tote sah, die da jetzt fle­ckig und ge­dun­sen auf der Holz­prit­sche lag.



Sie stöhn­te: »Ich kann nicht mehr«, und Anna Quan­gel be­wahr­te das Op­fer ih­res Ver­rats vor dem Hin­stür­zen.



»Tru­del!«, flüs­ter­te sie an dem Ohr der halb Ohn­mäch­ti­gen. »Tru­del, kannst du mir ver­zei­hen? Ich habe zu­erst dei­nen Na­men ge­nannt, weil du doch Ot­to­chens Braut warst. Und dann hat er mit sei­nen Quä­le­rei­en al­les aus mir her­aus­ge­holt. Ich ver­ste­he es selbst nicht mehr. Tru­del, sieh mich nicht so an, ich bit­te dich! Tru­del, soll­test du nicht ein Kind be­kom­men? Habe ich auch das zer­stört?«



Wäh­rend Frau Anna Quan­gel so sprach, hat­te sich Tru­del Her­ge­sell aus ih­ren Ar­men ge­löst und war zum Ein­gang der Zel­le zu­rück­ge­gan­gen. Jetzt lehn­te sie an der ei­sen­be­schla­ge­nen Tür und sah mit blei­chem Ge­sicht zu der al­ten Frau hin­über, die sie, durch die Län­ge der Zel­le ge­trennt, von der an­de­ren Wand her an­sah.



»Du warst es, Mut­ter?«, frag­te sie. »Du hast das ge­tan?«



Und mit ei­nem plötz­li­chen Aus­bruch: »Ach, es ist mir wahr­haf­tig nicht um mich! Aber sie ha­ben mir den Kar­li ganz zer­schla­gen, und ich weiß nicht, ob er wie­der zur Be­sin­nung kom­men wird. Vi­el­leicht ist er jetzt schon tot.«



Die Trä­nen stürz­ten aus ih­ren Au­gen, als sie rief: »Und ich kann nicht zu ihm! Ich weiß nichts, und viel­leicht wer­de ich Tage und Tage hier sit­zen und nichts hö­ren. Er ist dann schon tot und ver­scharrt, aber in mir lebt er noch im­mer. Und ein Kind wer­de ich auch nicht von ihm ha­ben – wie arm ich plötz­lich ge­wor­den bin! Noch vor ein paar Wo­chen, ehe ich den Va­ter traf, hat­te ich al­les, um glück­lich zu sein, und ich war auch glück­lich! Und jetzt habe ich nichts mehr. Nichts! Ach, Mut­ter …«



Und sie setz­te plötz­lich hin­zu: »Aber an der Fehl­ge­burt bist du nicht schuld, Mut­ter. Die war schon, als noch nichts ge­sche­hen war.«



Plötz­lich eil­te Tru­del Her­ge­sell schwan­kend durch die Zel­le, sie hing ih­ren Kopf an An­nas Brust und klag­te: »Ach, Mut­ter, wie un­glück­lich bin ich doch ge­wor­den! Sage doch du mir, dass Kar­li es le­bend über­ste­hen wird!«



Und Anna Quan­gel küss­te sie – und flüs­ter­te: »Er wird le­ben, Tru­del, und auch du wirst le­ben! Ihr habt doch nichts Bö­ses ge­tan!«



Eine Wei­le hiel­ten sie sich um­fasst und wa­ren ganz still. Ei­nes ruh­te in der Lie­be des an­de­ren, ein we­nig Hoff­nung rühr­te sich wie­der.



Dann schüt­tel­te die Tru­del den Kopf, und sie sag­te: »Nein, auch wir wer­den nicht heil da­von­kom­men. Sie ha­ben zu viel her­aus­ge­fun­den. Es ist wahr, was du sagst: ei­gent­lich ha­ben wir nichts Bö­ses ge­tan. Der Kar­li hat für einen an­de­ren einen Kof­fer auf­be­wahrt, ohne zu wis­sen, was dar­in ist, und ich habe für den Va­ter eine Post­kar­te ab­ge­legt. Aber sie sa­gen, das ist Hoch­ver­rat und kos­tet den Kopf.«



»Das hat si­cher der Laub ge­sagt, die­ser schreck­li­che Kerl!«



»Ich weiß nicht, wie er heißt, aber das ist mir auch ganz egal. So sind sie doch alle! Auch die auf der Auf­nah­me hier, alle sind sie sich gleich. Aber es ist viel­leicht ganz gut, dass es so viel ist: Jah­re und Jah­re in ei­nem Zucht­haus sit­zen …«



»Die Herr­schaft von de­nen wird nicht mehr Jah­re und Jah­re dau­ern, Tru­del!«



»Wer weiß? Und was ha­ben sie al­les den Ju­den und den an­de­ren Völ­kern an­tun dür­fen – ohne Stra­fe! Glaubst du wirk­lich, dass es Gott gibt, Mut­ter?«



»Ja, Tru­del, das glau­be ich. Otto woll­te es ja im­mer nicht er­lau­ben, aber das ist mein ein­zi­ges Ge­heim­nis vor ihm: ich glau­be noch an Gott.«



»Ich habe nie so recht an ihn glau­ben kön­nen. Aber es wäre schön, wenn es Gott gäbe, denn dann wüss­te ich doch, Kar­li und ich wür­den nach dem Tode zu­sam­men sein!«



»Das wer­det ihr, Tru­del. Sieh ein­mal, auch Otto glaubt nicht an Gott. Er sagt, er weiß, mit die­sem Le­ben ist al­les zu Ende. Aber ich weiß, ich wer­de mit ihm zu­sam­men sein nach un­serm Tode, im­mer und ewig. Das weiß ich, Tru­del!«



Tru­del sah zu der Prit­sche hin­über mit der stil­len Ge­stalt, sie ängs­tig­te sich.



Sie sag­te: »Sie sieht nicht gut aus, die­se Frau da! Ich habe Angst, wenn ich sie an­se­he, mit ih­ren To­ten­fle­cken und so auf­ge­trie­ben! Ich möch­te nicht so da­lie­gen, Mut­ter!«



»Sie liegt schon den drit­ten Tag so, Tru­del, sie ho­len sie ja nicht weg. Sie sah sehr schön aus, als sie ge­stor­ben war, so still und fei­er­lich. Aber jetzt ist die See­le aus ihr ent­flo­hen, jetzt liegt sie da wie ein Stück ver­dor­be­nes Fleisch.«



»Sie sol­len sie fortho­len! Ich kann sie nicht an­se­hen! Ich will die­sen Ge­stank nicht mehr at­men!«



Und ehe Anna Quan­gel es noch hat­te hin­dern kön­nen, war Tru­del zur Tür ge­eilt. Mit den Hän­den trom­mel­te sie ge­gen das Ei­sen­blech und schrie: »Auf­ma­chen! So­fort auf­ma­chen! Hört doch!«



Das war ver­bo­ten, je­des Lär­men war ver­bo­ten, ei­gent­lich war so­gar je­des Spre­chen ver­bo­ten.



Anna Quan­gel eil­te zu Tru­del, sie hielt ihre Hän­de fest, zog sie von der Tür fort und flüs­ter­te angst­voll: »Das darfst du nicht tun, Tru­del! Das ist ver­bo­ten! Sie wer­den her­ein­kom­men und dich schla­gen!«



Aber es war schon zu spät. Das Schloss knack­te, und her­ein stürz­te ein rie­sen­lan­ger SS-Mann mit er­ho­be­nem Gum­mi­knüt­tel. »Was habt ihr hier zu schrei­en, ihr Nut­ten?«, brüll­te er. »Habt ihr etwa Be­feh­le zu ge­ben, ihr Hu­ren­ge­sin­del?«



Die bei­den Frau­en sa­hen ihn aus ei­nem Win­kel angst­voll an.



Er ging nicht zu ih­nen, sie zu schla­gen. Er ließ den Tot­schlä­ger sin­ken und mur­mel­te:



»Das stinkt ja hier wie ein gan­zer Lei­chen­kel­ler! Wie lan­ge liegt die denn schon hier?«



Er war ein blut­jun­ger Bur­sche, sein Ge­sicht war blass ge­wor­den.



»Schon den drit­ten Tag«, sag­te Frau Anna. »Ach, sei­en Sie doch so gut und se­hen Sie, dass die Tote aus der Zel­le kommt! Man kann hier wirk­lich nicht mehr at­men!«



Der SS-Mann mur­mel­te et­was und ging aus der Zel­le. Aber er ver­schloss die Tür nicht wie­der, er lehn­te sie nur an.



Lei­se schli­chen die bei­den an die Tür, stie­ßen sie ein we­nig wei­ter auf, nur ein we­nig wei­ter, und at­me­ten durch den Spalt die aus Des­in­fek­ti­ons- und Ab­ort­ge­rü­chen ge­misch­te Luft des Gan­ges wie ein Lab­sal.



Dann zo­gen sie sich wie­der zu­rück, denn der jun­ge SS-Mann kam den Gang her­auf.



»So!«, sag­te er und hat­te einen Zet­tel in der Hand. »Dann fasst man fix an! Du, Alte, nimm sie bei den Bei­nen, und du, Jun­ge, nimm sie beim Kopf. Los mit euch – ihr wer­det doch solch ein Ge­rip­pe tra­gen kön­nen?!«



Sein Ton war bei all sei­ner Rau­heit fast gut­mü­tig, er half auch beim Tra­gen.

 



Sie gin­gen einen lan­gen Gang hin­auf, dann wur­de eine ei­ser­ne Git­ter­tür ge­schlos­sen, ihr Beglei­ter wies ei­nem Pos­ten sei­nen Zet­tel, und nun ging es vie­le stei­ner­ne Trep­pen hin­ab. Es wur­de feucht, das elek­tri­sche Licht brann­te düs­ter.



»Da!«, sag­te der SS-Mann und schloss eine Tür auf. »Das ist der Lei­chen­kel­ler. Legt sie hier­her auf die Prit­sche. Aber zieht sie aus. Klei­der sind knapp. Es wird al­les ge­braucht!«



Er lach­te, aber sein La­chen klang ge­zwun­gen.



Die Frau­en stie­ßen einen Schrei des Ent­set­zens aus. Denn in die­sem wahr­haf­ten Lei­chen­kel­ler la­gen tote Män­ner und Frau­en, und alle nackt, wie sie auf die Welt ge­kom­men wa­ren. Da la­gen sie, mit zer­schla­ge­nen Ge­sich­tern, mit blu­ti­gen Strie­men, mit ver­dreh­ten Glie­dern, krus­tig von Blut und Schmutz. Nie­mand hat­te sich die Mühe ge­nom­men, ih­nen die Au­gen zu­zu­drücken, sie starr­ten tot, und man­che schie­nen auch tückisch zu blin­zeln, als sei­en sie neu­gie­rig und freu­ten sich über den Zu­wachs, der ih­nen da zu­ge­tra­gen wur­de.



Und wäh­rend Anna und Tru­del sich mit zit­tern­den Hän­den müh­ten, die tote Ber­ta mög­lichst rasch ih­rer Klei­der zu ent­le­di­gen, konn­ten sie es doch nicht las­sen, im­mer wie­der neu einen Blick hin­ter sich auf die Ver­samm­lung der To­ten zu wer­fen, auf die­se Mut­ter, de­ren lang her­ab­hän­gen­de Brust für im­mer ver­siegt war, auf einen al­ten Mann, der so si­cher ge­hofft hat­te, nach ei­nem ar­beits­rei­chen Le­ben ru­hig in sei­nem Bett zu ster­ben, nach je­nem jun­gen, weißlip­pi­gen Mäd­chen, das er­schaf­fen war, Lie­be zu ge­ben und zu emp­fan­gen, nach dem Bur­schen mit der zer­schmet­ter­ten Nase und ei­nem eben­mä­ßi­gen Kör­per, der wie gelb ge­wor­de­nes El­fen­bein aus­sah.



Es war still in die­sem Raum, ganz lei­se ra­schel­ten un­ter den Hän­den der bei­den Frau­en die Klei­der der to­ten Ber­ta. Dann summ­te eine Flie­ge, und al­les war wie­der still.



Der SS-Mann sah, die Hän­de in den Ta­schen, den bei­den Frau­en bei ih­rer Ar­beit zu. Er gähn­te, er brann­te sich eine Zi­ga­ret­te an und sag­te: »Ja, ja, so ist das Le­ben!« Und wie­der war al­les still.



Dann, als Anna Quan­gel die Klei­der zu ei­nem Bün­del ver­schnürt hat­te, sag­te er: »Also ge­hen wir!«



Aber Tru­del Her­ge­sell leg­te ihm die Hand auf den schwar­zen Är­mel und bat: »Oh, bit­te, bit­te! Er­lau­ben Sie mir doch, dass ich ein­mal hier nach­se­he! Mein Mann – viel­leicht liegt er auch hier un­ten …«



Er sah einen Au­gen­blick auf sie her­un­ter. Plötz­lich sag­te er: »Mä­del! Mä­del! Was machst du hier?« Er be­weg­te lang­sam den Kopf hin und her. »Ich hab ’ne Schwes­ter