Hans Fallada – Gesammelte Werke

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14

Die Stadt ist dun­kel und trü­be. Es wird nicht hell am Tage, es wird nicht dun­kel in der Nacht. Im­mer schleicht ir­gend­wie der Mond da­zwi­schen, und die Bü­sche ha­ben Zwei­ge, die wie Arme deu­ten, und du bist nicht al­lein, so ein­sam du auch gehst, und je­der Zweig deu­tet hin auf das Hand­werk, das du aus­zuü­ben hast.

Hin­ter dei­nem Bett steht ein Hand­kof­fer. Er ist nicht Vul­kan­fi­ber, er könn­te aber bei­na­he Vul­kan­fi­ber sein. Und in die­sem Hand­kof­fer lie­gen vier­zehn Hand­ta­schen. Du nimmst sie manch­mal in die Hand und ver­suchst, dich zu er­in­nern. Aber was hat Erin­nern für einen Sinn? Es ist im­mer das­sel­be ge­we­sen, und es ist um­sonst, dass du am frü­hen Mor­gen, wenn du alt und müde bist, in dei­nem Bett liegst, und du nimmst die Ta­schen zur Hand, und du ver­suchst: Das war die­ses Ge­sicht und das je­ner fein ge­mal­te Mund, und du hast zu­ge­schla­gen mit al­ler Kraft, und die fei­ne Nase zer­platz­te und wur­de dumm, roh. Um­sonst, um­sonst, du musst heu­te Abend noch ein­mal ge­hen. Ver­schol­len, ver­bli­chen. Noch ein­mal und noch ein­mal, und dir ist doch schon, als tauch­te im­mer die glei­che Schie­ber­müt­ze auf über ir­gend­ei­nem Dum­men-Jun­gen-Ge­sicht, dum­men Acht­gro­schen­ge­sicht, wenn du das Haus ver­lässt.

Und das Ge­sicht latscht dir nach un­ter der Schirm­müt­ze, und du gehst lis­ti­ge Wege. Aber du weißt ganz gut, du hast im­mer den­sel­ben Über­zie­her an und im­mer den glei­chen Hut auf, und es gibt vier­zehn Be­schrei­bun­gen von dir auf der Po­li­zei, und heu­te Abend und mor­gen Abend und über­mor­gen Abend und vier­zehn Tage abends wirst du eine Pau­se ein­le­gen müs­sen, weil sie dir auf der Spur sind. Schirm­müt­ze mit ei­nem Acht­gro­schen­ge­sicht dar­un­ter …

Da sitzt du in dei­nem Bett. Da ist dein of­fe­ner Hand­kof­fer. Und die alte Pas­to­rin Flee­ge mit ih­ren süß­li­chen Anis­ku­chen wirt­schaf­tet auf dem Flur. Du hast den Kof­fer auf­ge­macht. Du han­tierst mit dei­nen Hand­ta­schen. Die meis­ten sind aus Kunst­le­der, aber eine Kro­ko­dil­le­der­ta­sche ist doch da­bei und auch eine aus grau­weißem Ei­dech­sen­le­der. An de­nen riechst du gern. Sie ha­ben dir ei­gent­lich nicht viel ein­ge­bracht, die­se vier­zehn Ta­schen. Hun­dert­sie­ben­un­dacht­zig Mark sech­zig in Sum­ma. Aber was will das hei­ßen? Man kann sich für dies Geld einen neu­en Man­tel und einen neu­en Hut kau­fen, und die Schirm­müt­ze wird ab­hau­en. Und was will das nun wie­der sa­gen?

Da sind die Mäd­chen und die Frau­en, und sie ge­hen ih­ren Weg nach Haus. Und sie stam­men aus den ge­si­cher­ten Hei­men, wo man die Zei­tun­gen liest wie aus Wel­ten, wo fern die Völ­ker die Waf­fen zu­sam­menschla­gen. Und nun kommst du und schlägst ih­nen ins Ge­sicht. Und nimmst die Hand­ta­sche. Und die fer­nen Wel­ten kom­men rü­ber­ge­rutscht nach Ham­burg und sind hart und heiß und trost­los.

Eine Klin­gel geht – warum geht im­mer eine Klin­gel? Er hört sie schus­seln auf dem Flur, die alte Pas­to­rin. Eine Stim­me fragt, eine Stim­me ant­wor­tet, und dann kom­men leich­te Schrit­te über den Gang, und er stopft die Ta­schen weg. Aber nicht ganz schnell ge­nug, eine Ta­sche bleibt zu­rück, und dann tut die Tür sich auf.

Und wer ist es, der ein­tritt …?

Ilse. Nie­mand wei­ter als Ilse.

»Na, Ilse«, sag­te Ku­falt.

»Gu­ten Tag, Wil­li«, sag­te Ilse.

»Wie­so Wil­li?« sag­te Ku­falt. »Ich hei­ße Ernst.«

»Mei­net­hal­ben auch Ernst«, sag­te Ilse füg­sam und setz­te sich in einen Ses­sel. »Hast du Ko­gnak da?«

»Nein, ich habe kei­nen Ko­gnak da.«

Pau­se. Sehr lan­ge Pau­se.

»Du bringst mir si­cher mei­ne zehn Mark vom letz­ten Mal?« frag­te Ku­falt schließ­lich.

»Wel­che zehn Mark?« frag­te sie da­ge­gen.

»Die von der falschen Adres­se«, sag­te er.

»Ich hab dir nie eine falsche Adres­se ge­ge­ben«, sag­te sie.

Und die bei­den ver­san­ken wie­der in Still­schwei­gen.

»Was willst du ei­gent­lich?« frag­te er schließ­lich.

»Du hast da eine hüb­sche Hand­ta­sche«, sag­te sie.

»Willst du sie ha­ben?« frag­te er.

»Du bist rei­zend, Schatz«, sag­te sie und ver­such­te, ihn zu küs­sen. Aber er woll­te nicht, und so wur­de nichts dar­aus.

»Wa­rum bist du ei­gent­lich hier?« frag­te er wie­der.

»Ich woll­te mal wis­sen, ob du über­haupt noch lebst.«

»Du hast dir Zeit ge­las­sen«, sag­te Ku­falt.

»Man traut sich ja gar nicht«, sag­te sie. »Wo du so böse von mir fort­ge­gan­gen bist.«

»Und jetzt bin ich nicht mehr böse?« frag­te er.

Wie­der eine lan­ge Stil­le.

»Zi­ga­ret­ten hast du auch nicht?« frag­te sie schließ­lich.

»Ich glau­be nein«, sag­te er und brann­te sich eine an.

»Na ja«, sag­te sie. »Je­der muss wis­sen, wie er’s treibt.«

»Wie bit­te?« sag­te er, eine Spur ge­reizt.

»Je­der muss wis­sen, wo er bleibt«, sag­te sie schließ­lich und schlug ihre lan­gen Bei­ne über­ein­an­der, so­dass er über den St­rümp­fen einen Fin­ger Fleisch und dann den An­satz der frais­far­be­nen Schlüp­fer sah.

»Ich ver­ste­he im­mer Bahn­hof«, sag­te er.

»Bahn­hof ist gar nicht so schlecht«, sag­te sie, »wenn ei­ner tür­men muss.«

»Wer muss tür­men?« frag­te er.

»Wenn ei­ner«, sag­te sie.

Ku­falt sah ge­dan­ken­voll auf die Bett­de­cke vor sich, auf der noch im­mer die Hand­ta­sche lag.

»’ne ganz hüb­sche Hand­ta­sche«, sag­te er ein­la­dend.

»Was macht ei­gent­lich dein Freund?« frag­te sie.

»Wel­cher Freund?« frag­te er.

»Na, der Schwar­ze, Lan­ge, Fins­te­re«, sag­te sie.

»Wie­so?« frag­te er.

»Ich fra­ge ja bloß«, sag­te sie.

»Ach so«, sag­te er.

»Na also?« frag­te sie.

»Ja«, sag­te er.

»Also, dann kann ich ja ge­hen«, sag­te sie sehr be­lei­digt.

»Wie­so?« frag­te er und tat sehr er­staunt. »Habe ich dich be­lei­digt?«

»Be­lei­digt?« frag­te sie. »Mich kann so leicht kei­ner be­lei­di­gen.«

»Wa­rum bist du denn so ko­misch?« frag­te er.

»Ich bin doch nicht ko­misch«, sag­te sie, »du bist ko­misch!«

»Ist denn Batz­ke nicht ko­misch?« frag­te er.

»Wer Batz­ke?« frag­te sie.

»Ach, den kennst du nicht?« frag­te er. »Schickt er jetzt Acht­gro­schen­jun­gen aus?«

»Ich ver­ste­he nicht, von was du re­dest«, sag­te sie.

»Das scha­det auch nichts«, sag­te er. »Wenn ich nur mei­ne ei­ge­nen Wor­te ver­ste­he.«

»Na also, denn gehe ich«, sag­te sie.

Aber sie ging nicht.

»Gu­ten Abend«, sag­te er.

»Gu­ten Abend«, sag­te sie. »Und wie ist es mit den Bril­lant­rin­gen?« Sie lach­te.

Es war, als hät­te er einen Stoß vor den Ma­gen be­kom­men.

»Mit wel­chen Bril­lant­rin­gen?« frag­te er.

»Als wenn es vie­le sol­che Din­ger gäbe!«

»Ohne In­ter­es­se«, sag­te er. »Flau«, sag­te er. »Dein Batz­ke hat­te ja Angst«, sag­te er. »Zit­tre bloß ab«, sag­te er. »Wenn du denkst, ich dre­he für euch den Kram«, sag­te er. »So blau«, sag­te er. »Aus­ver­kauft, Ma­rie­chen«, sag­te er. »An­de­re Tour«, sag­te er. »Grüß den Stenz«, sag­te er. »Sein Stub­ben wär ich nicht«, sag­te er. »Wür­de ich auch nicht«, sag­te er. »Gu­ten Abend, Ilse«, sag­te er. »Gib mir auch einen Kuss«, mein­te er. »Nein, die Ta­sche ist viel zu mies für dich«, er­klär­te er. »Also denn auf Wie­der­se­hen«, mein­te er. »Schluss«, mein­te er.

Und war sau­wü­tend und trank vie­len schar­fen Ko­gnak aus Deutsch­land.

15

Im Jah­re 1904 hat­te der land­wirt­schaft­li­che Bau­ern­ver­ein in Wils­ter eine Aus­s­tel­lung ver­an­stal­tet, auf der mehr als drei­hun­dert Haupt Rind­vieh vor­ge­führt wor­den wa­ren. Durch ir­gend­ei­nen Zu­fall hat­te Herr Pas­tor Flee­ge, da­mals noch im blü­hen­den Le­ben be­find­lich, einen ers­ten Preis für sein Bul­len­kalb Jaro­mir aus der The­kla vom El­do­ra­do-Su­cher1 be­kom­men.

Die­ser ers­te Preis stell­te sich in Bron­ze in Ge­stalt ei­nes auf­bäu­men­den Bul­len dar.

Frau Pas­to­rin Flee­ge hat­te ein sehr aus­ge­spro­che­nes Ge­fühl da­für, eine wie große Ehrung die Ver­lei­hung die­ses Kunst­werks dar­stell­te. Trotz­dem war ihr in all den vie­len Jah­ren seit­dem der auf sei­nen Hin­ter­bei­nen sich auf­bäu­men­de, den Kopf mit den klo­bi­gen Hör­nern in ein un­sicht­ba­res Hin­der­nis boh­ren­de Bul­le nicht sym­pa­thi­scher ge­wor­den.

Un­ter al­len Din­gen in ih­rer Woh­nung – und es wa­ren vie­le Din­ge in ih­rer Woh­nung – be­han­del­te sie die­sen Bul­len aus­ge­sucht stief­müt­ter­lich. So pe­ni­bel sie war, hier wur­de erst ab­ge­staubt, wenn die Not am höchs­ten war. So sanft der Fle­der­wisch über alle Din­ge in die­sem Haus­halt ging, hier klopf­te und schlug er ein we­nig. So ein Tier und sich auf­bäu­men …

Manch­mal er­in­ner­te sie sich erst spätabends um neun oder zehn Uhr dar­an, un­ter wel­cher Staub­schicht er seufz­te.

Je­den­falls war es an die­sem Abend, sie er­in­ner­te sich spä­ter ge­nau dar­an. Herr Le­de­rer hat­te Be­such von der Frau sei­nes un­sym­pa­thi­schen Kol­le­gen ge­habt und hat­te dann noch un­ge­wöhn­lich lan­ge ge­schla­fen. Er war erst um acht oder halb neun abends aus dem Bett auf­ge­stan­den, als die Frau des Freun­des längst weg­ge­gan­gen war, und ei­gent­lich hat­te sie ge­hofft, Herr Le­de­rer wür­de nach ei­nem so stum­men Tage we­nigs­tens noch für zehn Mi­nu­ten zu ihr her­ein­kom­men.

Aber er war über den Flur ge­gan­gen und wort­los ent­schwun­den. Und da hat­te sie ent­deckt, dass der Bul­le mit dem Sil­ber­schild ganz vol­ler Staub lag, und hat­te sich an ein Klop­fen und Ab­stäu­ben ge­macht …

 

Un­ter­des­sen war Le­de­rer in die Stra­ßen hin­un­ter­ge­stie­gen, ein we­nig müde, ein we­nig hung­rig, ein we­nig sehr durs­tig nach Al­ko­hol.

Na also schön, na also gut. Die Ilse war mal wie­der bei ihm ge­we­sen. Sie hat­te zärt­lich wer­den wol­len. Fünf oder zehn Mark hat­ten ihr si­cher­lich ge­fehlt – wie hat­te sie üb­ri­gens ge­fragt?

Was macht dein Freund Batz­ke?

Nein, nicht so. Sie hat­te ganz an­ders ge­fragt. Was in­ter­es­sier­te sie üb­ri­gens Batz­ke?

Üb­ri­gens sind die Nacht­stun­den eine un­über­sicht­li­che Ein­rich­tung. Es kann um acht in den Als­ter­an­la­gen dunk­ler und ver­las­se­ner sein als um Mit­ter­nacht. Aber im­mer­hin müs­sen trotz­dem Man­tel und Hut um­ge­hend ge­wech­selt wer­den. Wa­rum sie ei­gent­lich noch nicht ge­wech­selt sind, kann nie­mand ver­ste­hen. Nicht ein­mal Ku­falt.

Das Geld liegt doch zu Hau­se!

*

Es ist ein Mo­tor­rad­fah­rer mit Bei­wa­gen, der von ei­ner kur­z­en Fahrt mit sei­ner Frau nach Haus kommt. Un­ten im Haus, in dem er wohnt, ist eine Knei­pe. Die­se Fe­bruar­nacht­fahrt war ziem­lich frisch. Sie trin­ken bei­de einen Grog in der Wirt­schaft, ehe sie das Mo­tor­rad mit Bei­wa­gen durch die noch ver­schlos­se­ne Tor­ein­fahrt auf den drit­ten Hof in die Ga­ra­ge vom Ta­xi­fah­rer Scholt­heiß schie­ben.

Nein, dazu kommt es dann doch nicht. Als sie wie­der nach ih­rem Grog aus der Wirt­schaft auf die Stra­ße kom­men, ist das Mo­tor­rad mit­samt dem Bei­wa­gen ver­schwun­den. Es gibt nun na­tür­lich ei­ni­ges Ge­ren­ne.

Frau Pas­to­rin Flee­ge frei­lich stört sol­ches Ge­ren­ne nicht. Pus­si ist zu Haus. Die Tür ist ge­si­chert, Herr Le­de­rer schwatzt gern mit sei­nen ehe­ma­li­gen Be­rufs­kol­le­gen und kommt sel­ten vor zwei, drei nach Haus. So zieht sie un­ter der eng mit Ha­ken ver­se­he­nen Tail­le das Kor­sett schon aus und die Nacht­ja­cke an. Und dann nimmt sie die Bi­bel vor. Sie liest ih­ren Ta­ges­ab­schnitt und ver­sucht, wie es ihr lie­ber Mann vor vie­len, vie­len Jah­ren tat, dar­über Ge­dan­ken zu ha­ben. Aber das ist nicht ganz ein­fach. Viel leich­ter ist es zu ent­de­cken, dass dem vor an­dert­halb Stun­den ab­ge­stäub­ten Bul­len das lin­ke Hin­ter­bein noch im­mer nicht or­dent­lich ab­ge­stäubt ist.

»Ver­stehst du auch, was du lie­sest«, liest sie und über­legt, ob sie den Fle­der­wisch noch im Zim­mer oder schon in der Kü­che hat.

Wenn man eine Stun­de geht, kann man in ei­ner Stadt schon eine wei­te Stre­cke ge­gan­gen sein. Vie­le Ge­sich­ter, auch Mäd­chen­ge­sich­ter. Auch zärt­li­che Mäd­chen­ge­sich­ter, auch al­lein­ge­hen­de zärt­li­che Mäd­chen­ge­sich­ter ha­ben in­des­sen Ku­falt an­ge­schaut. Was geht ihn das an? Ist er ein Hand­ta­schen­mar­der? Er geht hier, da­mit er schla­fen kann, wenn er müde ist. Es ist doch nicht so, dass er etwa dar­auf an­ge­wie­sen wäre. Er kann sie lau­fen las­sen, alle, alle, die bes­ten Bür­ger­töch­ter, und kann die letz­te Nut­te neh­men, mit nichts in der Ta­sche als ei­nem Lip­pen­stift. Ist er etwa zu ir­gend­was ver­pflich­tet?

Es ist neun Uhr zehn – gibt es etwa Leu­te, die an sol­chem Zeit­ti­cker sit­zen und zäh­len die Zeit? Zeit ist be­deu­tungs­los. Es gibt vie­le Zeit, die ver­rinnt, und für kaum einen hat sie Wert.

Der Wäch­ter vom Gold­wa­ren­ge­schäft steht meis­tens hin­ter ei­ner Säu­le an den Als­terar­ka­den. Er hat sehr viel Zeit. Er hat zwölf Stun­den Dienst. Er hat seit zwei­und­zwan­zi­gein­halb Jah­ren zwölf Stun­den Dienst, und nie ist ir­gen­det­was ge­sche­hen. Er hat kaum noch ein Ge­fühl da­für, dass er un­aus­sprech­li­che Kost­bar­kei­ten be­wacht. Er steht eben da, zwölf Stun­den von vier­und­zwan­zig. Je­den Tag, den Gott wer­den lässt, und da­für darf er die an­de­ren zwölf Stun­den zu Haus sein und Kin­der zie­hen und sich mit sei­ner Frau zan­ken. Er steht da hin­ter sei­ner Säu­le und kiekt. Aber er kiekt nicht die Spur, denn er hat nichts zu kie­ken, denn es pas­siert nichts. Denn es ist al­les bes­tens or­ga­ni­siert.

Wenn man nun auf der an­de­ren Sei­te wie­der Ilse nimmt, so ist Il­se­ken nichts wie eine Strun­ze. Sie nimmt mit den ge­rings­ten Be­trä­gen vor­lieb, und sie ver­steht nichts, als dass sie ir­gen­det­was ha­ben möch­te. Eine neue Ta­sche etwa oder drei Paar Sei­den­st­rümp­fe oder das schi­cke Stra­ßen­kleid von Ro­bin­sohn. Aber von die­sen Wün­schen er­füllt, von die­sen Wün­schen ge­trie­ben, geht sie da­hin und er­zählt dem Batz­ke dies und das und je­nes. Und Wil­li weiß von nichts, und ein Ben­gel mit ei­ner Schirm­müt­ze taucht auf, und der sagt auch, Ku­falt weiß von nichts, und dann knat­tert es vor der Haus­tür – aber wie bringt man in ei­nem Bei­wa­gen zwei Mann un­ter? Und wie lan­ge fährt man bis zum Jung­fern­stieg? Wenn alle Ver­kehrs­am­peln rot bren­nen, fünf­und­drei­ßig Mi­nu­ten, aber wenn alle Ver­kehrs­am­peln grün bren­nen, zwan­zig Mi­nu­ten. Und elf Uhr zwei­und­vier­zig ist die Zeit, und auf­fal­len darf man um kei­nen Preis.

Die Zeit macht tick und tick und tick, und das ist al­ler Scha­de. Und das ist al­ler Vor­teil. Sie hal­ten die Köp­fe ge­senkt, und sie hal­ten die Köp­fe er­ho­ben, und zwi­schen der In­nen- und der Au­ßenals­ter geht eine Brücke. Sie heißt die Lom­bards­brücke. Und die Bahn fährt dort lang. Und es ist ei­gent­lich eine recht be­leb­te Stra­ße. Und kei­ne drei Mi­nu­ten Luft­weg vom Jung­fern­stieg. Und ein jun­ger Mann sagt dort: »Fräu­lein, wie ist es denn mit uns?«

Und ehe der Schlag fällt, und ehe sich das zage, zärt­li­che Ge­sicht ent­stellt, hat längst ein Mo­tor­rad ge­klap­pert, und eine Schei­be ist zer­k­lirrt, und ein al­ter Mann mit ei­nem See­hunds­bart ist ver­zwei­felt, und die ur­al­te, hühn­chen­haf­te, sa­gen­haf­te Flee­ge ist in ihre Fe­der­bet­ten zwi­schen Un­ter­bett und Ober­bett ge­stie­gen, und ein Ster­nen­fall von hun­dert­ein­und­fünf­zig Bril­lant­rin­gen im Ver­kaufs­wer­te von ein­hun­dert­drei­und­fünf­zig­tau­send Mark hat über die Stra­ße ge­glänzt – aber das zar­te, zärt­li­che Ge­sicht hat sich ver­än­dert, alle Lam­pen ha­ben trüber ge­brannt …

War nicht ei­ner, war nicht eine, die sich auf­ge­setzt hat in ih­rem Bett? Und die Zeit ging her­vor, und der Re­gu­la­tor an der stum­men dunklen Wand mach­te so laut und ein­dring­lich tick-tack, tick-tack?

War nicht ei­ner, war nicht eine? Es sind vie­le Woh­nun­gen, es sind un­zäh­li­ge Bet­ten, aber wer denkt an die, die drau­ßen sind, die nicht schla­fen kön­nen, die es um­treibt in der Nacht?

Wie­der ein Mäd­chen zer­schla­gen: Sie wird nie wie­der so schla­fen kön­nen wie der­mal einst, als sie noch glaub­te, sie sei ge­bor­gen. Geh heim mit dei­ner Ta­sche, du, du wirst doch nicht schla­fen kön­nen wie der­mal einst, als du noch zu Haus warst und hat­test eine Mut­ter.

Das Mo­tor­rad geht und geht und geht. Es knat­tert wie das Herz der Stadt. Es trägt fort. Es trägt fort, und dann ist es plötz­lich, als sei sein Geräusch aus­ge­löscht. Von dem Wind, der von ir­gend­wo kommt. Vom Lan­de etwa, wo die Seen sind und die Wäl­der. Es ist so still.

Nun ru­hen alle.

1 El­do­ra­do=sa­gen­haf­tes Gold­land im In­nern des nörd­li­chen Süd­ame­ri­ka. <<<

NEUNTES KAPITEL – Reif zur Verhaftung

1

»Jetzt will ich Ih­nen mal et­was sa­gen«, er­klär­te Herr Wos­sid­lo und sah die bei­den Kri­mi­nal­be­am­ten böse an. »Sie ha­ben mich, mei­nen Ge­schäfts­füh­rer, mei­ne sämt­li­chen An­ge­stell­ten seit Stun­den ver­nom­men. Sie ha­ben mit ei­nem sehr schlecht ver­bor­ge­nen Miss­trau­en mei­ne An­ga­ben über den Wert der ge­stoh­le­nen Bril­lant­rin­ge auf­ge­nom­men. Sie ha­ben der Rei­he nach ei­gent­lich je­den An­ge­stell­ten mei­nes Ge­schäfts in Ver­dacht der Teil­ha­ber­schaft an die­sem Über­fall ge­habt, bis auf mei­nen ar­men Wäch­ter hin­un­ter, der seit über zwan­zig Jah­ren bei mei­ner Fir­ma ar­bei­tet. Dann ha­ben Sie wie­der stun­den­lang auf der Stra­ße und im Ge­schäft Un­ter­su­chun­gen an­ge­stellt, wie der Raub zu­stan­de ge­kom­men ist. Sie ha­ben die­sen lä­cher­li­chen Pflas­ter­stein, der aus­sieht wie je­der an­de­re Pflas­ter­stein, mit ei­ner Sorg­falt un­ter­sucht, als wäre er ein nur ein­mal vor­han­de­nes Ein­bruchs­werk­zeug.

All das mag ja Ihren kri­mi­na­lis­ti­schen Ge­pflo­gen­hei­ten ent­spre­chen. Ich als Laie in die­sen Din­gen ge­wis­ser­ma­ßen möch­te aber mei­nen, dass es et­was wich­ti­ger wäre, sich um die Er­grei­fung der aus­ge­ris­se­nen Die­be zu be­mü­hen. Die sechs oder sie­ben Stun­den, die Sie jetzt in mei­nem Ge­schäft mit Un­ter­su­chun­gen und Ver­neh­mun­gen zu­ge­bracht ha­ben, sind sechs oder sie­ben Stun­den Vor­sprung für die Ver­bre­cher. Ich möch­te mir doch die Fra­ge er­lau­ben, ob we­nigs­tens Kol­le­gen von Ih­nen sich mitt­ler­wei­le mit der Er­grei­fung die­ser Leu­te be­schäf­tigt ha­ben?«

»Dar­über darf ich Ih­nen kei­ne Aus­kunft ge­ben«, sag­te der eine Kri­mi­nal­be­am­te mür­risch.

»Und darf ich wei­ter fra­gen«, sag­te Herr Wos­sid­lo kopf­ni­ckend, als sei das eben ge­nau die Ant­wort ge­we­sen, die er er­war­tet hat­te, »darf ich wei­ter fra­gen, ob Sie schon eine ge­wis­se Spur ver­fol­gen?«

»Auch dar­über darf ich im In­ter­es­se un­se­rer Ar­beit nichts sa­gen«, er­klär­te der­sel­be Be­am­te.

»Schön«, sag­te Herr Wos­sid­lo. »Und was den­ken Sie, was nun ge­sche­hen wird?«

»Dar­über wer­den Sie Be­scheid be­kom­men.«

»Ich will Ih­nen noch et­was sa­gen«, rief Herr Wos­sid­lo mit lau­te­rer Stim­me. »Was Sie hier bei mir ge­tan ha­ben, ist nur ge­tan, um über­haupt ir­gen­det­was zu tun – da­mit ich ge­wis­ser­ma­ßen be­ru­higt bin.

Ich bin nicht be­ru­higt, mei­ne Her­ren. Ich habe mich nie mit kri­mi­na­lis­ti­schen Metho­den be­schäf­tigt. Aber das sehe ich doch, dass Sie hier ge­nau­so wie ich im Dun­keln tap­pen und auf ir­gend­ei­nen Zu­fall war­ten. Ich den­ke aber gar nicht dar­an, auf die Po­li­zei und ih­ren Zu­fall zu war­ten. Ich er­klä­re Ih­nen hier­mit, ich wer­de selbst­stän­dig vor­ge­hen, und ich wer­de selbst­stän­dig ver­su­chen, die Räu­ber zu er­mit­teln, um mei­ne Rin­ge wie­der­zu­be­kom­men.«

»De­tek­tiv?« frag­te der zwei­te Be­am­te.

»Dar­über kann ich Ih­nen im In­ter­es­se mei­ner Er­mitt­lun­gen lei­der nichts sa­gen«, er­klär­te Herr Wos­sid­lo. »Je­den­falls wer­den Sie bald Neu­e­res von mir aus den Ta­ges­zei­tun­gen hö­ren.«

»Was wol­len Sie denn ma­chen?« sag­te der ers­te Be­am­te rasch und be­sorgt. »Wir müs­sen doch Hand in Hand ar­bei­ten.«

»Jetzt plötz­lich?«

»Und wenn Sie eine Be­loh­nung aus­set­zen wol­len, zwei­fel­los wird auch von uns eine Be­loh­nung aus­ge­setzt wer­den.«

»Also ich kann nichts sa­gen«, er­klär­te Herr Wos­sid­lo mit Nach­druck.

»Es kön­nen Be­rufs­ver­bre­cher in Fra­ge kom­men«, sag­te sin­nend, jetzt plötz­lich mit­teil­sa­mer, der zwei­te Be­am­te. »Es kön­nen aber auch Leu­te sein, die durch ir­gend­ei­nen Zu­fall von die­sen drei Mi­nu­ten er­fah­ren ha­ben, die der La­den prak­tisch un­be­wacht ist. Gera­de dar­um muss­ten wir ja un­se­re Er­mitt­lun­gen auch auf Ihre An­ge­stell­ten er­stre­cken. Denn es ge­hört schon ein ganz ge­ris­se­ner Beo­b­ach­ter dazu, um ohne Wink hin­ter die­se drei Mi­nu­ten zu kom­men.«

»Ich glau­be an all die­se Ge­schich­ten nicht«, sag­te Herr Wos­sid­lo. »Ich habe auch Kri­mi­nal­ro­ma­ne ge­le­sen, aber ich glau­be nicht dar­an, dass Ver­bre­chen so kom­pli­zier­te Ge­schich­ten sind. Was braucht es Be­rufs­ver­bre­cher und lan­ge Beo­b­ach­tun­gen, um einen Stein in ein La­den­fens­ter zu wer­fen!«

Die Be­am­ten wieg­ten die Köp­fe, sicht­lich nicht der­sel­ben An­sicht.

»Also, wir bit­ten Sie dann«, sag­te der eine ab­schlie­ßend, »uns eine mög­lichst ge­naue Be­schrei­bung der ge­stoh­le­nen Rin­ge mit al­len nä­he­ren An­ga­ben noch heu­te aufs Stadt­haus zu schi­cken. Das geht dann so­fort her­aus.«

»Schön, schön, das wer­de ich tun«, sag­te Herr Wos­sid­lo. »Gu­ten Mor­gen, die Her­ren.«