Hans Fallada – Gesammelte Werke

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23

War es da bei solch glück­li­chen Zei­ten ein Wun­der, dass Ku­falt sich kaum noch um den klei­nen Emil Bruhn küm­mer­te, ja, dass er ihm ei­gent­lich aus dem Wege ging?

Er be­such­te ihn nicht mehr, und wenn Bruhn zu Ku­falt kam, so war er ent­we­der nicht zu Haus oder in großer Hast, sich um­zu­zie­hen und wie­der weg­zu­kom­men.

Ein­mal aber, kurz nach Weih­nach­ten, hat­te sich Bruhn bei sol­chem Um­zie­hen in den großen Plüsch­ses­sel ge­hockt und zu­ge­se­hen. Er hat­te noch klei­ner und rund­li­cher als sonst aus­ge­schaut, aber sehr sor­gen­voll. – Ge­hört zu den Leu­ten, die Kum­mer­speck an­set­zen, dach­te Ku­falt flüch­tig.

»Stimmt es, dass du mit der Hil­de von Har­ders gehst?«

»Ja, Emil.«

»Dass du dich rich­tig­ge­hend mit ihr ver­lobt hast?«

»Ja, Emil.«

»Fio­le oder ernst­haft?«

»Ernst­haft, Emil.«

»Und der Jun­ge?«

»Ein net­ter Jun­ge, Emil, mag ihn furcht­bar ger­ne.«

»Wis­sen die das ei­gent­lich von dir?«

»Nein, Emil.«

»Willst du’s ih­nen er­zäh­len?«

»Noch nicht, Emil.«

»Mir hast du da­mals ge­sagt, man muss es gleich er­zäh­len.«

»Man weiß nie, wie was kommt.«

»Also doch Fio­le!«

»Nein, ernst­haft.«

»Wa­rum sagst du’s de­nen dann nicht?«

»Sage es ih­nen schon noch.«

»Wann?«

»Bald.«

Ku­falt ra­siert sich sehr sorg­fäl­tig, des­we­gen wohl ant­wor­tet er auch so kurz. Nun aber ist er mit dem Ra­sie­ren fer­tig, macht Ober­hemd zu­recht, Kra­gen und Schlips, und so kann er fra­gen.

»Bist du ei­gent­lich im­mer noch in der Fa­brik, Emil?«

»Wie …?« fährt Bruhn zu­sam­men.

Ku­falt lacht. »Wo bist du denn mit dei­nen Ge­dan­ken, Emil? – Ob du noch in der Fa­brik bist, fra­ge ich.«

»Ja«, sagt Bruhn auch kurz und ist wei­ter ge­dan­ken­voll. Dann fragt er: »Wie ist das, Wil­li, wenn nun ei­ner den Har­ders er­zählt, dass du vor­be­straft bist?«

»Wer soll de­nen denn das er­zäh­len?«

»Nun ir­gend­ei­ner – ein Wacht­meis­ter zum Bei­spiel!«

»Wacht­meis­ter dür­fen doch nichts er­zäh­len, so was ist Dienst­ge­heim­nis.«

»Oder ein Ga­no­ve?«

»Wa­rum soll ein Ga­no­ve denn das er­zäh­len? Der hat doch nichts da­von.«

»Vi­el­leicht kriegt er ein Trink­geld vom ol­len Har­der, dass er ihn ge­warnt hat?«

Ku­falt denkt an­ge­strengt nach, er schiebt die Un­ter­lip­pe vor, be­sieht sich in sei­nem Ra­sier­spie­gel, pro­biert, ob die Haut am Kinn auch glatt ist, und denkt im­mer­zu nach.

Ziem­lich lan­ge kriegt Emil Bruhn kei­ne Ant­wort.

Und als Ku­falt spricht, ist die Ant­wort auch kei­ne Ant­wort, son­dern eine Fra­ge: »Warst du ei­gent­lich beim Al­ten, Emil?«

»Ja«, sagt Emil.

»Na – und?«

»Schie­ter­kram.«

»Wie­so Schie­ter­kram? Ja oder nein?«

»Kos­tet sehr viel Geld.«

»Ob er ja ge­sagt hat?«

»Ich hab ihm er­zählt, ich hab fünf­hun­dert Mark er­spart, die schus­te­re ich zu.«

»Und was hat er ge­sagt?«

»Dann will er’s ver­su­chen.«

»Also ist ja al­les in But­ter.«

»Nein.«

»Wie­so ist nicht al­les in But­ter?«

»Weil ich kei­ne fünf­hun­dert Mark zu­zu­schus­tern habe.«

»Wie viel hast du denn ge­spart?«

»Gar nichts.«

»Wa­rum sagst du denn, du hast sie?«

»Weil ich den­ke, ich krie­ge sie, Wil­li.«

Ku­falt zieht sich be­däch­tig sei­nen Man­tel an, dann be­trach­tet er sich im Spie­gel und zieht das Jackett hin­ten et­was her­un­ter. Er nimmt sei­nen Hut.

»Also ich geh jetzt, Emil.«

»Ich komm noch ein Stück mit längs, Wil­li.«

»Schön, Emil.«

So ge­hen sie, bei­de druck­sen. Bruhn weiß nicht recht und möch­te gern, aber Ku­falt ist ko­misch, er müss­te es doch ei­gent­lich ge­wohnt sein aus dem Bun­ker, Kip­pe oder Lam­pen ist Satz, Kip­pe oder Lam­pen ist ein kla­res Ge­schäft.

Ku­falt aber ist wü­tend und to­destrau­rig. Hat er ihn wirk­lich ger­ne ge­mocht, den klei­nen Bruhn? Ja, nun scheint es so, er hat ihn wirk­lich ger­ne ge­mocht, und nie, nie hät­te er ge­dacht …

»Weißt du, Wil­li«, ver­sucht Bruhn zu er­klä­ren, »ich muss aus der Fa­brik, das hält kei­ner aus, ver­stehst du?«

»Ja, ja«, sagt Ku­falt.

»Sonst pas­siert näm­lich was.«

»Ja, ja«, sagt Ku­falt wie­der ge­dan­ken­voll. »Si­cher hast du es falsch an­ge­fasst mit dem Di­rek­tor.«

»Du kannst ja sel­ber mal mit ihm re­den, Wil­li?«

»Nein, nein«, sagt Ku­falt mit Be­deu­tung. »Weißt du, mit den Ga­no­ven­ge­schich­ten möcht ich nichts mehr zu tun ha­ben, ver­stehst du, Bruhn?«

Er bleibt ste­hen.

»Ich geh jetzt hier rein in die Lüt­jen­stra­ße, Emil. Lüt­jen­stra­ße 17 wohnt mein Schwie­ger­va­ter. Na, du kennst ja den La­den, Emil.«

Er steht aber im­mer noch und be­trach­tet den klei­nen Bruhn mit dem See­hunds­kopf.

»Und üb­ri­gens ist mir al­les scheißegal, Emil. Die Hil­de ist mün­dig, und da­für, Emil …«, Ku­falt beugt sich vor und flüs­tert ge­heim­nis­voll in Bruhns Ge­sicht hin­ein, »da­für, Emil, hab ich schon ge­sorgt, dass sie wie­der ›fest‹ ist, ver­stan­den?«

Er starrt, plötz­lich grin­send, den Bruhn an, lacht schal­lend los und geht die paar Häu­ser bis zu Har­ders wei­ter, ohne sich um­zu­se­hen.

Mann über Bord, kann man da nur sa­gen, denkt er.

24

Nach Weih­nach­ten war das An­non­cen­ge­schäft sehr still ge­wor­den, und Ku­falt hat­te sich wie­der auf Abon­nen­ten le­gen müs­sen, um et­was Geld in die Kas­se zu be­kom­men. Bit­ter war das. Bei ei­ner An­non­ce blie­ben fast mü­he­los fünf oder acht oder zehn Mark Pro­zen­te hän­gen, und nun muss­te er wie­der end­los für gan­ze fünf Vier­tel Mark re­den und un­ter fünf Ma­len auch noch vier er­folg­los.

Denn mit den Hand­wer­kern, die ver­hält­nis­mä­ßig be­que­me Kun­den ge­we­sen wa­ren, war er nun durch. Jetzt muss­te er Haus für Haus ab­klap­pern, stra­ßen­wei­se. Nie wuss­te er ge­nau, was da für Men­schen hin­ter den Tü­ren wohn­ten, an de­nen er klin­gel­te, was er sa­gen muss­te, um ih­nen an­ge­nehm zu sein. Schließ­lich kam da so eine miss­traui­sche Frau raus, bei der die feins­ten For­men nicht ver­fin­gen, die gar nicht erst die Ket­te los­mach­te, son­dern, ohne ihn an­zu­hö­ren, die Tür zu­schlug: »Wir brau­chen nichts.«

Aber es konn­te auch vor­kom­men – und das war vor­ge­kom­men –, dass er ein­mal an ganz un­ver­hoff­ter Stel­le, bei ir­gend­ei­ner ro­ten Ar­bei­ter­frau, Er­folg hat­te, ihr ein Abon­ne­ment auf­schnack­te. Kam er dann aber abends auf den »Bo­ten«, so war der Mann schon da­ge­we­sen, hat­te Kra­keel ge­macht und sein Geld zu­rück­ver­langt: Sie lä­sen ihr So­zi­blatt und nicht sol­chen Bour­geois­dreck, und wenn er den win­di­gen Kerl von An­rei­ßer er­wi­sch­te, wür­de er ihm alle Kno­chen im Lei­be zer­schla­gen. Arme Frau­en dumm zu re­den, ver­damm­ter Hund, der!

Kraft aber hat­te mil­de be­merkt, zu schlimm soll­te es Ku­falt auch nicht mit dem Zu­re­den ma­chen, und Ku­falt hat­te ge­reizt ge­fragt, ob Herr Kraft glau­be, die Leu­te jauchz­ten gleich, dass sie den »Bo­ten« le­sen dürf­ten …?

Dann aber wa­ren die letz­ten De­zem­ber­ta­ge ge­kom­men, und rich­tig hat­te sich das Ge­schäft in An­non­cen wie­der leb­haf­ter an­ge­las­sen, und gar zum Sil­ves­ter­tag hat­te Ku­falt zwei­ein­halb Sei­ten zu­sam­men­be­kom­men. Er hat­te aber auch ge­grü­belt und zu al­lem an­de­ren noch die Spiel­zeuglä­den mit ih­rem Feu­er­werk und die Por­zel­lan­ge­schäf­te mit Neu­jahr­stel­lern mo­bil­ge­macht. Und schließ­lich wa­ren noch all die gu­ten Wün­sche an die wer­te p. t.1 Kund­schaft zum Neu­jahrs­fes­te da­zu­ge­kom­men.

Süß­sau­er lä­chelnd hat­te Kraft wie­der ein­mal zwei­hun­dert­fünf­zehn Mark an Ku­falt aus­be­zahlt, nicht ohne die Be­mer­kung zu ma­chen: »Wie ge­won­nen, so zer­ron­nen.«

Das küm­mer­te Ku­falt aber einen Dreck, ers­tens ka­men bald die In­ven­turaus­ver­käu­fe, und zwei­tens hat­te er jetzt ein rich­ti­ges Spar­buch, und auf dem Spar­buch stan­den trotz al­ler Ge­schen­ke über tau­send Mark. Nein, nichts von zer­ron­nen!

So ging Ku­falt denn, ab­ge­seift von Kopf bis zu Fuß, sau­ber ein­ge­puppt und mit glän­zen­den Nä­geln, fest­lich zu den Har­ders, trank sei­ne paar Gläs­chen sanf­ten Punsch und hör­te be­frie­digt, wie Frau Har­der um halb zehn sag­te: »Na, Eu­gen, für uns wird es jetzt wohl Zeit, wir war­ten doch nicht bis zum Läu­ten?«

Der Alte brumm­te ver­nei­nend und sag­te: »Aber, Kin­der, ihr könnt ger­ne noch ein biss­chen aus­ge­hen. Im­mer zu Haus hocken ist auch nichts, und übers Jahr seid ihr ja schon ver­hei­ra­tet, und wer weiß, ob ihr da noch aus­ge­hen könnt.«

Wo­bei er wie­der mal die Ge­stalt sei­ner Toch­ter be­trach­te­te.

Hil­de ver­schwand, und dann kam sie in ei­nem ent­zücken­den, hel­len, ganz blass ge­blüm­ten Kleid wie­der, und einen schö­nen, ge­floch­te­nen Gold­zopf hat­te sie um den Hals … »Wirk­lich nett sieht das Mäd­chen aus«, hat­te Har­der ganz ver­wun­dert ge­sagt. Und das Rosa in ih­ren Ba­cken war bei­na­he rot ge­wor­den, und über­mü­tig hat­te sie Va­ter und Mut­ter einen Kuss ge­ge­ben und: »Al­les Gute und schlaft schön rü­ber ins neue Jahr!«

Dann aber wa­ren die bei­den Jun­gen los­ge­zo­gen, und vom Fens­ter hat­ten die bei­den Al­ten ih­nen nach­ge­schaut.

Es schnei­te leicht, vie­le Leu­te wa­ren un­ter­wegs, und in den meis­ten Schau­fens­tern am Bum­mel brann­te Licht. Sie schlen­der­ten zu­erst ein we­nig um­her, und Hil­de hat­te die eine Gar­di­ne schön ge­fun­den, er aber eine an­de­re, bis sie sich schließ­lich auf eine drit­te ge­ei­nigt hat­ten. Sie hat­ten Mö­bel an­ge­se­hen, und ihm war ein­ge­fal­len, dass in der Helm­städ­ter Stra­ße solch ent­zücken­des Schlaf­zim­mer aus­stand, das er ihr schon im­mer hat­te zei­gen wol­len. So wa­ren sie denn den lan­gen Weg bis da­hin ge­gan­gen, um zu fin­den, dass Tisch­ler Schnee­weiß sein Schau­fens­ter nicht be­leuch­tet hat­te.

 

Hier aber wa­ren sie in der Nähe vom Rends­bur­ger Hof, und Hil­de bat ih­ren Wil­li, doch einen Au­gen­blick da hin­ein­zu­ge­hen; si­cher woll­te sie sich ih­ren ehe­ma­li­gen Freun­din­nen mit Bräu­ti­gam prä­sen­tie­ren.

»Und da ha­ben wir uns doch zum ers­ten Male ge­se­hen, und ich habe dich auch gleich ge­se­hen. Aber wie du mich so an­starr­test, durf­te ich es ja nicht mer­ken las­sen. Und weißt du noch, wie du der Wrun­ka und mir bei­na­he bis auf die Toi­let­te nach­ge­lau­fen bist? Der geht ran, hat die Wrun­ka gleich ge­sagt. Komm, wir se­hen nur einen Au­gen­blick rein, wenn es auch nicht so fein ist da …«

Er aber schlug es ihr rund­weg ab, denn si­cher wür­den sie an­gepö­belt. Ihm war so was nicht pie­pe, und dass man ihr aus­ge­rech­net in sei­ner Ge­gen­wart die Jung­fer mit Kind vor­hal­ten soll­te, und wo­mög­lich war­fen die ihm noch das Kitt­chen vor, und si­cher war der klei­ne Emil Bruhn da … »Also, un­ter al­len Um­stän­den, nein!«

Er da­ge­gen hat­te ein klei­nes Kel­ler­lo­kal am Markt für sie bei­de in Aus­sicht ge­nom­men, ein Café Zen­trum, das ihn schon im­mer durch ir­gend­was Ver­staub­tes, Ver­lu­der­tes ge­lockt hat­te, in das er aber bis­her durch ir­gend­ei­nen Zu­fall noch nicht ge­kom­men war. Doch kaum sprach er Hil­de da­von, als sie nun wie­der dies Lo­kal ent­schie­den ab­lehn­te.

»Nein, un­ter kei­nen Um­stän­den! Nein.«

»Was hast du denn da­ge­gen? Ich woll­te es mir doch nur mal an­se­hen.«

»In solch Lo­kal geh ich nicht!«

»Aber du musst doch sa­gen kön­nen, warum!«

»In solch ein Ding – was die Leu­te da­von er­zäh­len!«

»Bist du denn ein­mal drin ge­we­sen?«

»Ich …? Nein, nein, und ich geh auch nicht rein. Auch mit dir nicht.«

Sie stan­den noch im­mer an der Ecke beim Tisch­ler­meis­ter Schnee­weiß, es war dun­kel und zu­gig, sie fro­ren.

Ein Mann kam vor­über, er hat­te ge­merkt, dass sie sich strit­ten, er rief:

»Na, Lott­chen, will he nich? Schall ick em en be­ten an de Büx?«

»Komm!« sag­te Ku­falt has­tig und ging mit ihr los. Der be­trun­ke­ne Sil­ves­ter­schwär­mer rief ih­nen eine Schwei­ne­rei nach.

Sie gin­gen ei­lig, lose in­ein­an­der ein­ge­hängt, dem Stadt­in­nern zu.

»Ich möch­te wohl wis­sen«, sag­te Ku­falt aus tie­fem Nach­sin­nen, »warum du nicht in das Café Zen­trum willst.«

»Weil ein an­stän­di­ges Mäd­chen nicht in solch ein Café geht.«

»Ach nee?! Und auf den Rends­bur­ger Hof geht solch Mäd­chen zum Schwof?«

Sie mach­te sich mit ei­nem Ruck von ihm los, sie rief ver­zwei­felt, und sie war wirk­lich ver­zwei­felt: »O Wil­li, Wil­li, musst du mich denn im­mer quä­len?!«

»Quä­len …?!« frag­te er ver­blüfft, »im­mer quä­len …?! Weil ich mit dir in ein Café ge­hen will?«

Sie sah ihn einen Au­gen­blick an, ihr Ge­sicht zuck­te, ihre Lip­pen be­weg­ten sich, sie woll­te et­was sa­gen. Aber dann nahm sie nur sei­nen Arm und bat lei­se: »Komm, bring mich nach Haus.«

»Wir ge­hen doch jetzt nicht nach Haus!« rief er ver­blüfft. »Wenn du eben durch­aus nicht ins Zen­trum willst, ge­hen wir wo­an­ders­hin. Ist dir Café Ber­lin recht?«

Sie ant­wor­te­te nicht, und nach ei­nem Au­gen­blick merk­te er, dass sie lei­se vor sich hin wein­te.

»Nicht, Hil­de«, sag­te er und sah nach den Leu­ten. »Nicht doch.«

»Es ist gleich wie­der gut«, sag­te sie schlu­ckend. »Komm, wir stel­len uns einen Au­gen­blick an das Schau­fens­ter.«

»Aber warum weinst du denn? Wie­so quä­le ich dich denn? Sag doch, Hil­de­ken, ich ver­steh ja nichts.«

»Nichts, nichts«, sag­te sie, schon wie­der lä­chelnd. »Jetzt reib ich mich nur ein biss­chen ab und schnaub die Nase …«

»Aber ich möch­te doch ger­ne …«, fing er hart­nä­ckig wie­der an.

»Bit­te nicht«, sag­te sie. »Wir wol­len heu­te doch lus­tig sein.«

Und sie wa­ren es dann auch. Denn im Café Ber­lin gab es einen herr­li­chen säch­si­schen Ko­mi­ker, der so gut säch­sisch sprach, dass man ihn so­gar ver­stand, und der sie un­un­ter­bro­chen la­chen ließ, und eine Spit­zen­tän­ze­rin mit ra­sier­ten Ach­sel­höh­len und weiß­ge­pu­der­ter Brust – und eine äl­te­re Dame sang un­ge­mein fre­che Lie­der …

Sie sa­ßen im Tru­bel, al­les lach­te, schrie, trank, ju­bel­te. Kon­fet­ti ha­gel­te, Pa­pier­schlan­gen hüll­ten sie ein, und sie sa­ßen stock­steif, die­se Zier nicht zu zer­rei­ßen. Dann spiel­te die Ka­pel­le einen Tusch, und es war Mit­ter­nacht. Sie ga­ben sich fei­er­lich die Hän­de.

»Auf ein recht gu­tes Jahr, Hil­de, für uns bei­de!«

»Dir auch, mein Wil­li! Dir auch!! Ach, mein Wil­li!«

Sie tran­ken noch einen klei­nen Grog, und Hil­des Ba­cken fin­gen zu glü­hen an. Sie er­zähl­te, klei­nes Ge­schwätz, Ge­tratsch, was die eine aus­ge­fres­sen und wie ver­ru­fen die an­de­re war und was die drit­te sich al­les ein­bil­de­te …

»Aber ich bin auf kei­ne nei­disch. Wo ich mei­nen sü­ßen Wil­li habe. Und jetzt noch einen sü­ßen Wil­li – zwei süße Wil­lis …«

Sie lach­te laut. Und wenn auch dies Ge­schwätz und La­chen im All­ge­mei­nen Tru­bel un­ter­gin­gen und kaum ei­ner den Kopf nach den bei­den an der Wand dreh­te – Ku­falt war es doch pein­lich, und dop­pel­sin­nig war es auch, das Ge­re­de von den bei­den sü­ßen Wil­lis, und nett war ihr La­chen auch nicht ge­we­sen …

»Komm, Hil­de, wir ge­hen.«

»Aber du kannst doch mor­gen aus­schla­fen!«

»Wir ge­hen noch wo­hin, wo wir tan­zen kön­nen.«

»Fein«, sag­te sie. Sie lach­te. »In den Rends­bur­ger Hof.« Ihre Au­gen fun­kel­ten wa­ge­mu­tig. »Da hast du wohl dei­ne an­de­re Braut, die du nicht zei­gen willst?«

Er frag­te böse: »Und wen hast du im Café Zen­trum?«

Ei­nen Au­gen­blick war sie ver­le­gen, dann lach­te sie los. »Bist du ei­fer­süch­tig, ar­mer Wil­li? Nein, du brauchst nicht ei­fer­süch­tig zu sein, ich bleib dir treu und lass mich nicht ver­füh­ren …«

Sie sang es nach ei­ner Schla­ger­me­lo­die.

Leu­te um­her lach­ten bei­fäl­lig. »Das Mäd­chen ist rich­tig.«

»Komm doch, Hil­de«, bat er. Und dach­te: Und hat sich doch von mir ver­füh­ren las­sen, und wenn von mir, ist auch je­der an­de­re mög­lich …

Eine tie­fe Trau­rig­keit er­füll­te ihn. Was hat das denn al­les für einen Sinn! dach­te er. Ich hab ja nichts mit ihr zu tun, ich mag sie nicht ein­mal ger­ne. Und wes­we­gen denn al­les? Wirk­lich nur, weil sie sich da­mals nicht mehr se­hen ließ und weil ich ein biss­chen Mit­leid mit ihr hat­te? Ach, nur das Fleisch, nur das Fleisch, bei je­der an­de­ren wäre es auch noch ein­fa­cher, und ich brauch’s nicht ein­mal, das Fleisch … Wenn man doch raus­käme, fort­käme, weg­käme … Dies geht im Le­ben nicht gut. Wenn man doch ein­mal ganz von Fri­schem an­fan­gen könn­te …!

»Woran denkst du?« frag­te sie.

»An nichts Be­son­de­res«, ant­wor­te­te er.

Dann aber ka­men sie doch nicht mehr zum Tan­zen, son­dern ir­gend­wie lan­de­ten sie in ei­ner klei­nen Wein­stu­be und tran­ken noch eine Fla­sche Süß­wein. Hil­de war trau­rig ge­we­sen und ge­reizt, über­mü­tig, lus­tig und ge­schwät­zig – jetzt, von der Fla­sche Wein, wur­de sie ein­fach müde, tod­mü­de, die Au­gen klapp­ten ihr zu … »Bit­te, bring mich nach Haus, Wil­li, bit­te!«

Vor der Haus­tür stand sie, bei­na­he wan­kend vor Schläf­rig­keit, in sei­nem Arm.

»Noch einen Kuss, Wil­li. Oh, bin ich müde!«

»Ich aber auch«, sag­te er.

Es war, als er­mun­te­re sie sich et­was. »Nicht wahr, du gehst gleich nach Haus, du gehst nicht mehr ir­gend­wo­hin.«

»Wo­hin soll ich denn jetzt noch ge­hen um vier? Ich hau mich so­fort hin.«

»Ganz be­stimmt?«

»Aber tod­si­cher«, sag­te er und ver­such­te zu la­chen.

»Gibst du mir dein Ehren­wort?«

»Aber na­tür­lich geb ich dir mein Ehren­wort. Ich geh gleich nach Haus.«

Sie schwieg, ir­gend­wie schi­en sie un­zu­frie­den zu sein und nach­zu­den­ken.

»Also, Hil­de­ken«, sag­te er und reich­te ihr die Hand.

Sie nahm ihn ganz fest in ihre Arme. »Mein Wil­li, mein lie­ber, sü­ßer Wil­li …« Sie küss­te ihn, sie flüs­ter­te: »Komm doch mit, mein sü­ßer Wil­li, die El­tern ge­hen nie in mein Zim­mer …«

»Nein, nein«, sag­te er er­schro­cken.

»Aber warum denn nicht? Ich sehn mich so nach dir. – Wil­li, ich halt das nicht aus! Was hast du ge­gen mich? Bis Os­tern halt ich das nicht mehr aus.«

»Denk doch an den Jun­gen, Hil­de. Das geht doch nicht.«

»Ach, der Jun­ge wird nie vor acht wach. Ich weiß das doch. Komm schon. Ein­mal, nur ein­mal, Wil­li.«

»Nein«, wi­der­stand er. »Nein, ich will das nicht. Nach­her pas­siert was, und alle re­den über uns.«

»Das tun sie doch schon so. Das kann uns doch egal sein.«

»Nein, ich tu es nicht. Sei ver­nünf­tig, Hil­de, denk doch, die paar Wo­chen bis Os­tern!« Er nahm sie in sei­nen Arm, er trös­te­te sie (und wuss­te da­bei: Je­des Wort war un­wahr. Et­was an­de­res wür­de ge­sche­hen. Was aber das an­de­re war, das ge­sche­hen wür­de, das wuss­te er nicht).

»Denk doch dar­an, wie schön wir es dann ha­ben wer­den, ganz al­lein in un­se­rer ei­ge­nen Woh­nung für uns, ein hel­les freund­li­ches Zim­mer. Und ich glaub be­stimmt, ich schaff es mit den blaus­ei­de­nen Stepp­de­cken statt der Fe­der­bet­ten. Dann kön­nen wir alle aus­la­chen, und nie­mand kann uns noch et­was wol­len, und es ist al­les viel sau­be­rer als so in der Heim­lich­keit, und vor dei­nen El­tern müss­te ich mich auch schä­men. Jetzt kann ich die doch gra­de an­se­hen …«

»Aber du hast doch …!« rief sie ver­ständ­nis­los und er­schro­cken aus. »Du hast doch schon ein­mal, Wil­li …«

Sie sa­hen sich an.

»Also ich geh jetzt nach Haus«, sag­te er böse. »Ich glaub, du hast einen sit­zen, gute Nacht.«

Er war­te­te ihr »Gute Nacht« nicht ab, er war­te­te nicht ab, bis sie über den Hof ver­schwand.

Im Fort­ge­hen hat­te er, ob­wohl er sich nicht um­dreh­te, das ganz ge­naue Bild von ihr vor Au­gen, wie sie da­stand, ihm nach­star­rend, To­des­angst im Blick.

1 bei der An­spra­che von Per­so­nen mit un­be­kann­ten Ti­tel die Nen­nung des Ti­tels er­set­zend; von La­tein ple­no ti­tu­lo: »mit vol­lem Ti­tel« <<<