Gregors Pläne

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Gregors Pläne
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Hans Durrer

Gregors Pläne

Eine Anleitung zum gelingenden Scheitern

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Mensch ist, was sein Plan ist

Zum Krieger werden

Doch Zufälle gibt es ja nicht

Festklammern

Langsam werden

Das gerade Jetzt, das ist dein Leben

Loslassen

Epilog

Impressum neobooks

Der Mensch ist, was sein Plan ist

Du hast unrecht, Deine Phantasien in eine gewisse

Form, in einen regelrechten Plan bringen zu wollen“, sagte

ich; „siehst Du denn nicht, dass Du ihnen Gewalt antust ...“

George Sand: Geschichte meines Lebens

„Wo sehen Sie sich in fünf Jahren?“

Der Mann ist ein Trottel, denkt es automatisch in mir. Und genau so automatisch gehen meine Gedanken zu einem anderen Mann, einem cleveren englischen Journalisten, der einst in Hongkong wohnte und ein gescheites Buch über den wirtschaftlichen Aufstieg Asiens geschrieben hatte, in dem er überzeugend darlegte, dass er im Jahr 2030 in Shanghai, dass dannzumal der Mittelpunkt der Welt sein würde, eine Attika-Wohnung besitzen und ... Der Mann starb zwei Jahre später beim Wasserskifahren in Südfrankreich.

„Keine Ahnung“, antworte ich. „Ich finde die Zukunft vorherzusagen etwas schwierig.“

„Darum geht es nicht“, sagt der Personalsachbearbeiter. „Es geht um ihre Pläne, Darum, ob Sie eine Vision für sich haben.“

„War denn Ihre Vision, Personalsachbearbeiter zu werden und Bewerbern solche Fragen zu stellen?“, höre ich mich sagen. „Und Bewerberinnen“, füge ich noch hinzu, bevor ich mich erhebe und zum Ausgang gehe.

Elitär komme ich ihm vor, hatte ein Psychologe beim letzten Bewerbungsgespräch gesagt. Ein paar Tage zuvor hatte ein anderer mich als stark individualistisch eingestuft und eine Personalchefin hatte kurz darauf gemeint, ich käme für die Stelle nicht in Frage, da ich viel zu visionär und unorthodox sei.

Es war offensichtlich: Ich passte nirgendwo dazu. Und obwohl ich fand, dass mich das geradezu auszeichnete, blieb da immer noch die Frage des Geldverdienens.

„Du musst selber was machen“, ermuntert mich meine Bekannte S, die seit über zwanzig Jahren das macht, was ihre Vorgesetzten von ihr erwarten.

„Schon, aber was denn?“

„Du bist doch so vielseitig, da wird sich bestimmt was finden lassen.“

„Vielseitigkeit ist eher ein Problem und nicht unbedingt die Lösung.“

„Ach komm, jetzt sei doch nicht so negativ.“

S war offenbar der Auffassung, ich hätte mich entschieden, 'negativ' zu sein.

Zum Ausgleich fand ich sie entschieden zu 'positiv'. Bei 'positiv' kommt mir regelmässig die Geschichte eines Orchideendiebs in Florida in den Sinn, dem auf einem seiner Beutezüge ein Pflanzengift in eine offene Wunde geriet, sodass sein rechter Unterarm amputiert werden musste. Was ihn jedoch nicht daran hinderte, das Ganze 'positiv' zu sehen, wurde er doch dadurch in die Lage versetzt, einen Artikel über den Vorfall zu schreiben, der dann in einer Gartenzeitung veröffentlicht wurde.

Ich gehe Brot kaufen. Die junge Frau in der Bäckerei gibt mir falsch heraus. Als ich sie darauf aufmerksam mache, gibt sie sich eine Kopfnuss.

„Bringt das die Dinge in Ihrem Kopf wieder in die rechte Ordnung?“, erkundige ich mich.

„Genau!“, lacht sie.

Kaum dass du anfängst Pläne zu machen, übernimmt das Leben das Ruder. Das habe ich in einem Thriller gelesen. Und es stimmt. Jedenfalls gemäss meiner Erfahrung. Nicht dass mich das hindern würde, weiterhin Pläne zu machen. Schliesslich geht es nicht um Entweder/Oder, sondern um Und/Und/Und. Wobei: So ist das natürlich nicht richtig. Auf jeden Fall nicht immer, denn es kommt vor, dass Entweder/Oder nötig ist. Für mich gilt es herauszufinden, was ich ändern kann. So ziemlich gar nichts, scheint mir.

***

Als ich heute um zwanzig Minuten vor sechs aufwache, steht bereits die Sonne über der nahen Bergspitze. Wenn das nicht ein Zeichen ist!, durchfährt es mich. Ein Zeichen wofür? Zugegeben, das weiss ich auch nicht. Ein Zeichen eben, Zeichen stehen doch so recht eigentlich immer für etwas Verheissungsvolles. Nicht immer? Stimmt, aber meistens. Okay, manchmal auch nicht. Gott, ist das schwierig!

Jedenfalls: Ich stehe ganz beschwingt auf und greife, mein Morgenritual, zu meinen beiden, eins genügt nicht, Bändchen mit weisen Sprüchen, in der Erwartung (mein Leben, so denkt es manchmal in mir, ist nichts weiter als eine endlose Folge von Erwartungen), die Einträge für den heutigen Tag müssten irgendwie bedeutsam sein. Sind sie nicht, beide nicht. Nichts als die üblichen Aufmunterungen, die man in Null-Komma-Nichts vergessen hat. Ich erspare sie Ihnen.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich habe nichts gegen Plattitüden, aber nicht, wenn ich etwas anderes erwarte, etwas in der Art philosophische Erleuchtung, und das tue ich meistens. Unbewusst natürlich. Auch Klischees mag ich, die treffen meist den Kern einer Sache. Klar, man darf sie nicht allzu ernst nehmen. Doch nimmt man sie leicht, erfüllen sie ihren Zweck – uns über unsere Simplifizierungen lachen zu lassen. Andererseits: In der Einfachheit liegt der Schlüssel, das weiss doch nun wirklich jeder, sogar die sogenannten Experten für Krisenkommunikation, die ihren Klienten (erwarten Sie jetzt bitte nicht, dass ich auch noch Klientinnen hinzufüge! Nur schon, dass ich das in Betracht ziehen, geht mir auf die Nerven) jeweils raten, die Wahrheit zu sagen. Schon erstaunlich, wofür man heutzutage alles Berater braucht.

***

Wer sich nicht klar ausdrücken kann, hat nicht klar gedacht, pflegte einer meiner Juraprofessoren zu sagen. Ich mag diesen Satz, schätze die Haltung dahinter. Auch die Strenge sagt mir zu. Juristisches hingegen weniger.

Jura habe ich studiert, weil ich mir Medizin nicht zutraute, da ich weder Physik noch Chemie begriff. Heute bedauere ich das und wünsche mir, ich hätte mir damals einen Tritt in den Hintern gegeben, mich angestrengt und meinen Blick auf die Zukunft gerichtet, die berufliche, denn dann hätte ich bestimmt nicht Jura studiert. Streithähne verachte ich.

Juristen sind häufig ziemlich eingebildet. In dieser Hinsicht kann ich mich mit ihnen bestens identifizieren, nur schaffe ich es nicht, das Fabrizieren von Problemen, die nur von denen gelöst werden können, die sie erschaffen haben, wirklich ernst zu nehmen. Ich weiss, ich weiss, die Juristerei hat reale Konsequenzen. Ich schaffe es trotzdem nicht, finde sie theatralisch, aufgeblasen und essentiell hohl.

Doch Jurist klingt in meinen Ohren einfach besser als Historiker, denen meist nur gerade ein Lehrerdasein blüht. Furchtbar! Wer um Himmels Willen will sich schon mit Teenagern auseinandersetzen, die so ziemlich Null-Interesse am Schulstoff haben. Und überhaupt: Lehrer nimmt doch nun wirklich niemand ernst.

Am Rande: Ich habe viele Jahre später brasilianische Teenager in Englisch unterrichtet – sie waren neugierig, interessiert und lernbegierig.

Juristen wird nachgesagt, sie könnten gut reden. Ich sehe mich gerne als guten Redner. Rechthaberische Neigungen habe ich auch. Als Jurist zu arbeiten kann ich mir trotzdem nicht vorstellen. Und so habe ich nach meinem Abschluss ein Medienstudium angefangen. An einer renommierten Uni in Grossbritannien, „Oxbridge für Journalisten“, laut Wikipedia. Nächstens werde ich meinen Magister machen.

34 Studenten sind wir, die Hälfte Frauen, aus 24 Ländern, von China bis zur Karibik. Im Alter von Mitte zwanzig bis Ende vierzig. Der Fernsehsender, bei dem sie angestellt sind, habe fast die ganze Studioausrüstung von einer englischen Firma bezogen, erzählt F aus Ghana. Im Gegenzug habe sich die englische Regierung mit drei Stipendien erkenntlich gezeigt. Südkoreaner berichten, dass sie nur unter der Bedingung aufgenommen worden seien, dass sie vorgängig einige Monate einen teuren Intensiv-Englisch-Kurs in Grossbritannien belegten. Die Briten verstehen sich aufs Abzocken.

Als ein Studenten-Rekrutierer in Tokio mit zwei Kandidatinnen ein höchst anregendes Gespräch über Shakespeare, Dekonstruktivismus und japanisches Essen geführt hatte, sie dann aber bedauernd wegschickte, da sie kein Englisch sprachen, hörte er seinen Supervisor rufen:

„Weshalb schickst die beiden weg?“

„Sie sprechen kein Englisch!“

„Schick sie doch einfach zu mir, bitte!“

Bei den Gebühren, die internationale Studenten zahlen, musste doch da was zu machen sein. Und in der Tat gibt es im Vereinigten Königreich den personal tutor, der jedem Studenten beigegeben ist und dazu schauen soll, dass der Student nicht totalen Schrott abliefert. Meiner, der auch noch für andere Studenten zuständig ist, meinte einmal, er könne gar nicht mehr zählen, wie viele Magisterarbeiten er schon geschrieben habe. Und meine Kollegin S, die von ihrem Klassenlehrer aufgefordert wurde, die eingereichte Arbeit noch einmal mit dem Tutor durchzugehen, erzählte mir, der Klassenlehrer hätte ihre revidierte Version enthusiastisch mit „Super, ich habe sie gar nicht wieder erkannt“ kommentiert. „Als Kompliment kam mir das nicht gerade vor“, lachte sie.

 

Meine Kollegin M, Inderin aus der Südsee, offenbart mir, während wir im Regen vor dem Eingang des Hauptgebäudes uns die Beine vertreten, ihre Schwierigkeiten, sich anzupassen. Sie habe vor zwei Jahren in den USA das Studium abgebrochen, da es mit ihren Bedürfnissen absolut gar nichts zu tun gehabt habe. Und jetzt fürchte sie sich davor, es auch dieses Mal nicht zu schaffen. Unverzüglich rate ich ihr, wie es so meine Art ist, was zu tun sei: Sich keine Gedanken über Sinn oder Unsinn von Regeln zu machen, sondern diese einfach befolgen. Was M in der Folge auch tut (und gut damit fährt), ich selber hingegen nicht. Wer hält sich schon an seine eigenen Ratschläge?

„Development Journalism“ heisst eines der Module, die ich belegt habe. Der Dozent hält einen etwa zehnminütigen Vortrag, in dem er ausführt, dass dieser für Entwicklungsländer propagiert werde, denn dort sei nicht das kritische Hinterfragen (die Essenz des Journalismus, zumindest gemäss einiger Theoretiker) vorrangig, sondern die Unterstützung der Regierung. PR und Propaganda also, werfe ich ein. So würde er das nicht sagen, meint der Dozent, der wie Dozenten generell, alles sehr komplex findet. Schon klar, sonst könnte ja jeder mitreden.

Wir sollen Vierer-Gruppen bilden und ein Projekt definieren, wird uns aufgetragen. Alles klar?, fragt der Dozent. Die Gruppenbildung schon, doch was für ein Projekt? Niemand traut sich zu fragen, schliesslich wage ich mich vor. Ob er das mit dem Projekt bitte erläutern könne? Mal angenommen, „Development Journalism“ sei in einem Entwicklungsland sinnvoll, dann müsste er doch auch hier in Wales sinnvoll sein. Es gehe darum, ein entsprechendes Projekt zu identifizieren und dann umzusetzen.

Meine drei Mitstreiter, zwei aus Ghana, einer aus Südkorea, schauen erwartungsvoll zu mir. Seid ihr Muslime?, frage ich die beiden Ghanaer. Sie nicken. Und besucht ihr hier die Moschee? Wiederum nicken sie. Wie wäre es, wenn wir beim Vorsteher der Moschee vorstellig werden, ihm anbieten, die gegenwärtige Kommunikationsstrategie zu prüfen und gegebenenfalls Verbesserungsvorschläge zu machen? Jetzt nicken alle drei.

Er habe den Vorsteher gefragt, sagt J zwei Tage später, und er sei einverstanden. Wir werden freundlich empfangen, finden schnell heraus, dass die Gemeinde an so ziemlich alles bereits gedacht hat, machen den Vorsteher auf zwei, drei Details aufmerksam, die man besser machen könnte und lernen vor allem, dass Kommunikationsexperten so recht eigentlich überflüssig sind.

„Understanding Pictures“ ist mein Lieblingsmodul. Das hat vor allem mit dem Dozenten zu tun, der auch nach mehr als zwanzig Jahren Unterrichten einen Enthusiasmus versprüht, der ansteckend ist. Eine mir unbekannte Welt tut sich auf – ich fühle mich gepackt, ergriffen, kann nicht genug kriegen von Fotografien und von Texten, die sich mit Bildern beschäftigen. Selbst den langweiligsten kann ich noch etwas abgewinnen. Mir schwebe eine Magisterarbeit über Dokumentarfotografie vor, ob er eine solche betreuen würde? Als ich sie nach intensiven Monaten abschliesse, sagt er: Wenn mich jemand fragen würde, wie man heutzutage eigentlich noch über Fotografie schreiben können, würde ich sagen: So! Zugegeben, ich habe mir hin und her überlegt, ob ich das jetzt wirklich hinschreiben soll, doch ich habe nur kurz gezögert.

Von mir selber begeistert schreibe ich fortan Artikel, häufig über Gemeinplätze, die kaum jemand zu hinterfragen scheint. Ein Bild sagt mehr als tausend Worte? Eher braucht man tausend Worte, um ein Bild zu verstehen. Seeing is believing? Möglich, doch wahrscheinlicher ist, dass ich sehe, was ich glaube. Die Texte werden hier und da veröffentlicht, meinen Lebensunterhalt kann ich damit nicht bestreiten, bei Weitem nicht.

***

Als ich nach meinem Magisterabschluss ein halbes Jahr um die Welt reise, komme ich auf der Überfahrt von Surat Thani nach Ko Samui mit einem Briten ins Gespräch, der sich für mein Dafürhalten etwas gar stark für mich interessiert (klar, ich habe so Momente, in denen ich mich selber toll finde – aber so toll wie der Brite mich findet, dann doch wieder nicht), sodass ich die Initiative ergreife: „Übrigens, ich bin ganz klar hetero.“ Er selber sei noch unentschieden, grinst er.

Gebildet zu sein, ist für mich ein Wert an sich, weshalb denn auch die Frage, welche Bücher ich auf meine Weltumrundung mitnehmen soll, mich wochenlang umgetrieben hat. Letztendlich waren es dann ausschliesslich Reclam-Büchlein, weil die leicht sind und wenig Platz einnehmen. Und unter diesen Montaignes Essais, Fontanes Effi Briest, Shakespeares Hamlet, Goethes Faust, Sophokles' Antigone und und und ... Was ich davon erinnere? Dass ich Effi Briest verschlungen habe, mehr nicht. À propos Shakespeare: Ein Satz aus Hamlet gehört zu meinen Leitgedanken. Seit vielen Jahren schon. The readiness is all. Ich habe ihn aus The Prince of West End Avenue von Alan Isler.

Bangkok war der erste Stopp. Ich verliebte mich sofort in eine junge Thai und sie sich in mein Geld. Ich hatte schon einige solcher Geschichten gehört, glaubte, bei mir sei das alles ganz anders, schliesslich war ich ein gebildeter, anständiger und ansprechend aussehender junger Mann und keiner dieser bierbäuchigen, hirnlosen und unattraktiven Barbesucher, die zuhause keine Frau kriegen konnten. Dass ich selber viel Bier trank, in meinem Herkunftsland auch nicht mit einer Frau zusammen war und „meine“ junge Thai in einer Bar kennengelernt hatte, entging mir zwar nicht, doch etwas flüchtig zu streifen, bewirkt selten viel.

Genaues Hinschauen fordere ich von allen, mit denen ich über Gott und die Welt debattiere. Mir selber gelingt es erst, wenn ich es nicht mehr vermeiden kann. Dieser Moment kommt dann auch, als ein deutscher Bangkok-Bekannter mir nach Bali schreibt, er habe „meine“ wieder in der Bar anschaffen sehen, obwohl ich ihr doch reichlich Geld für eine Ausbildung gegeben hätte. Ich gehöre halt zu diesen hoffnungslosen Romantikern, glaubte ich zwischen den Zeilen zu lesen. So isses!

Erstaunlich, wie wenig mir von dieser Weltumrundung geblieben ist. Eine Busfahrt in Neuseeland, auf der ich eine junge Maori fragte, wie sie Rotorua, das bekannt für seine Schwefelquellen ist, beschreiben würde – „it stinks“, sagte sie; Bilder aus Hawaii, wo ich jeden Tag in dasselbe Restaurant ging, wegen der hübschen Bedienung, die ich mich jedoch nicht anzusprechen traute; von einem Lokal beim Santa Monica Pier in Los Angeles, wo jeder sich auf der Bühne produzieren durfte und ein Schwarzer dermassen falsch sang, dass ich mich vor Lachen kaum mehr erholen konnte (ich war bis dahin der Meinung gewesen, alle Schwarzen hätten Musik und Rhythmus im Blut), von der Beaconsfield Parade in Melbourne, wo ich bei B untergekommen war, die in einem vegetarischen Lokal kochte; von einer Hochhauswohnung nahe beim Bondi Beach in Sydney, wo die Freundin einer Barbekanntschaft mit ihrem Freund wohnte.

Schon eigenartig, das Gedächtnis. Dass mir die Dinge bleiben, die mir wichtig sind, kann ich nicht sagen, denn dann würde ich mich bestimmt nicht an Sepp Trütsch erinnern. Den kennen Sie nicht? Der galt mal als Volksmusikstar. Ein rundlicher Typ, wirkte bodenständig und sympathisch, man konnte ihn sich genau so gut auf einem Traktor wie auch als Rayonchef im Coop vorstellen. Nein, er spielte kein Instrument (jedenfalls nicht im Fernsehen), er moderierte eine Sendung. Mein Interesse an Volksmusik? Null, zero, nada. Weshalb also sollte ich mich an so jemanden erinnern? Oder daran, dass Paris Hilton, deren Qualifizierung als Berühmtheit darin bestand, dass ihre Eltern eine internationale Hotelkette besassen, ihren Wohnsitz angeblich einmal im Kanton Schwyz hatte? Es ist ein ziemliches Durcheinander, was sich da in meinen Kopf tummelt, abhängig, so scheint mir, vor allem von Stimmungen, die ich kaum beeinflussen kann. Dazu kommt natürlich, dass ich Unangenehmes bewusst verdränge. Und vermutlich auch unbewusst. Diejenigen, die das Unbewusste interpretieren, halte ich für Wichtigtuer. Damit das auch gesagt ist.

Reisen bedeutet für mich die Erfahrung der Weite. En Suiza, nunca se ve el horizonte, sagt Y, die aus Havanna stammt und aufs Meer hinaus zu schauen sich gewohnt ist. Gut möglich, dass es mich deshalb in die Ferne zieht. Sicher, ich finde die Schweiz schön, sehr schön. Wer tut das nicht? Doch ich habe lange gebraucht, bis ich das richtig wahrgenommen habe. Doch wer schätzt schon, was er vor der Nase hat. Klar, ich rede von mir. Etwas anderes ist auch gar nicht möglich. Die Ich-Form zu verwenden, bedeutet Verantwortung zu übernehmen? Wo leben Sie bloss? Reichen Ihnen all die Narzissten denn nicht, wollen Sie unbedingt noch mehr?

Auch wenn ich die Schweiz ein schönes Land finde, ist mir trotzdem klar (jedenfalls stelle ich es mir so vor), dass es überall schön ist und man an jedem Ort glücklich (oder unglücklich) sein kann. Nur glaube ich es nicht; meine Gefühle folgen meinem Kopf nicht, sie haben andere Ideen.

Wo er am liebsten leben würde, wurde der englische Autor Eric Ambler, der damals in Clarens, oberhalb Montreux wohnte, gefragt. Immer da, wo er gerade nicht sei, antwortete er. Kein Wunder, geht mir dieser Satz seither nicht mehr aus dem Kopf.

***

Mit der Jobsuche habe ich vor zwei Monaten angefangen. Ich weiss nicht so recht, was ich will, finde es auch ziemlich egal, wo ich lande. Positiv formuliert: Ich bin offen. Nicht so positiv formuliert: Ich bin unentschieden. Und das kann ja viel heissen. Ich weiss jedoch instinktiv, was ich nicht will. In die Politik würde ich nie gehen. Oder in die Verwaltung. Grosse Organisationen kommen eigentlich generell nicht in Frage. Nur Konkurrenzdenken, Neid und Intrigen. Die pure Lebensfreude springt einen dort garantiert nicht an.

Bei grossen Organisationen, in denen niemand den Überblick haben kann (vor allem die Leute an der Spitze nicht, die mit der Verteidigung der eigenen Position ja ziemlich ausgelastet sind), sind Fachwissen und sachliche Kompetenz nicht wirklich wichtig, ausser auf den mittleren Stufen. Priorität hat das Funktionieren der Organisation. Das gilt für den Staat, die Wirtschaft, das Recht, ja für so ziemlich alles. Stabile Verhältnisse will man, denn nur dann lässt sich planen. Wo käme man denn auch hin, wenn sich alles ständig ändern würde? Man muss sich doch auf etwas verlassen können. Garantiert wird das durch Befehlsempfänger (Soldaten, Beamte, Chefsekretärinnen und Sachbearbeiter), die das eigentliche Fundament jeder Organisation sind.

Nein, ich halte nicht alle Staatsangestellten für angepasste Trottel, lerne auch immer mal wieder einen (oder eine, sowieso) kennen, mit dem ich mich bestens verstehe. Ich habe aber eben auch andere erlebt: Beamte, die keine Frage beantworten können und einen gebetsmühlenartig auf den Dienstweg verweisen.

„Du hältst Dich schon für etwas Besseres, oder etwa nicht?“ Ich nehme A, dessen Frau Beamtin ist, die Frage nicht übel. Er selber hat studiert, Geschichte, ist aber Hausmann und ein generell wohlmeinender Typ, der sich als Schriftsteller versucht, obwohl ihm klar ist, dass ihm die dazu nötige Begabung und auch der Mut fehlt.

„Irgendwie vielleicht schon, doch so recht eigentlich weiss ich es nicht. Findest Du mich denn überheblich?“

„Nein, das nicht, doch was für die meisten akzeptabel ist, scheint für Dich inakzeptabel.“

„Ich habe den Eindruck, das gehe vielen so. Sie sagen es einfach nicht und passen sich an. Feiglinge sind das.“

„Dann gehörst Du also zu den Mutigen?“

„Also für mutig halte ich mich gar nicht. Mutige trauen sich was und gehen dafür Risiken ein. Bei mir ist es eher so ein Hineinschlittern. Doch ich ertrage das Anpassertum nicht, auch auf Hierarchien reagiere ich allergisch.“

„Das finde ich etwas arg pauschal. Wenn Du Kinder hast, bleibt Dir nämlich manchmal nur, die Faust im Sack zu machen und weiterzuarbeiten.“

„Manchmal bin ich froh, dass ich keine Kinder habe“

 

Es ist ein eigenartiges Phänomen: Da ich nicht in Betracht ziehe, zu tun, was man eben so tut, bezichtigen mich nicht wenige der Arroganz. Klarer Fall, denkt es dann so in mir, die fühlen sich bedroht, weil ich nicht zu wollen scheine, was sie anstreben oder haben. Sie fühlen sich durch meine Haltung in Frage gestellt, ja, angegriffen. Gut möglich, dass ich mich entschieden zu wichtig nehme.

Es ist sonnig und warm. Ein nachmittäglicher Spaziergang mit K, einem freiberuflichen Pädagogen, der von staatlichen Aufträgen lebt. Wir kennen uns seit der Primarschule. Er untersucht unter anderem, welche Sitzordnung im Klassenzimmer optimal ist.

„Schon erstaunlich, wofür der Staat Steuergelder ausgibt“, sage ich. „Und überhaupt: Wie findet man das denn eigentlich raus?“

„Wir haben da ganz verschiedene Methoden“, erwidert K, „doch hauptsächlich durch Befragungen.“

„Und Du verlässt Dich auf die Antworten der Schüler und Lehrer? „

„Die werden natürlich kritisch hinterfragt. Wie das bei Befragungen eben so üblich ist.“

„Ich denke dabei immer an mein eigenes Verhalten bei Umfragen. Ich nehme sie nicht ernst, antworte einfach irgendwas. Ich mag keine Zeit und Energie für so was einsetzen.“

„Bei Schülern ist das anders, die nehmen das durchaus ernst.“

„Das musst Du natürlich so sehen, sonst fällt das ganze Kartenhaus zusammen.“

„Du tust gerade so als ob Du der einzige seist, der kritisch durchs Leben geht.“

„Was verstehst Du denn unter 'kritisch durchs Leben gehen'?“

„Dass man überprüft, was man tut.“

„Das tun wohl die meisten. Nur beschäftigen mich eben andere Fragen. Grundsätzliche. Nicht nur solche im Rahmen des Vorgegebenen.“

„Geht das auch etwas konkreter?“

„Na ja, viele halten sich ja schon für kritisch, wenn sie ein Detail anders sehen oder eine vom Chef abweichende Meinung haben. Oder wenn sie ihre Konkurrenten für eitle Wichtigtuer halten. Mich beschäftigen jedoch Fragen wie: Was tue ich eigentlich? Ist das Leben, das ich führe, auch das, das ich führen will?“

„Da gibt es doch keine wirklichen Antworten darauf.“

„Schon möglich, doch sie beschäftigen mich trotzdem. Ständig. Andere Fragen finde ich nicht besonders anregend.“

„Schon ziemlich abgehoben, und irgendwie arrogant, finde ich.“

„Beschäftigen Dich solche Fragen denn nicht?“

„Sicher, doch da ich sie nicht beantworten kann, befasse ich mich auch nicht damit. Ich bin eben ein pragmatischer Mensch.“

„Du tust gerade so als ob man für die Fragen, die einen umtreiben, verantwortlich sei. Doch ich habe keinen Schimmer, warum mich gerade diese und nicht andere beschäftigen. Ich habe auch nicht den Eindruck, ich hätte da eine Wahl. Da fällt mir übrigens gerade ein, dass es durchaus eine Antwort auf solche existenziellen Fragen gibt: Du musst Dir nur angucken, wie jemand lebt. Im Verhalten zeigt es sich, wie jemand denkt. Das ist die Antwort.“

Doch wieso soll es eigentlich arrogant sein, wenn ich etwas verschmähe, weil es mich nicht anspricht? Ich weiss übrigens auch gar nicht, was besser bzw. eine Alternative wäre. Es ist nur so, dass das, was diese Gesellschaft mir anbietet, mich nicht überzeugt, mir zu wenig ist. Während meines Jurastudiums, als ich gerade wieder einmal eine Krise hatte (Wie kann man sich, um Himmels Willen, bloss für die Ausgestaltung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde im Basler Gundeli von 1317 bis 1319 interessieren?), versuchte ein Freund meines Vaters, seines Zeichens Bankverwalter (heute würde man ihn CEO nennen), mich aufzumuntern: „Du kannst Anwalt werden. Oder Richter. Kannst zu einer Versicherung, einer Bank, in die Verwaltung. Als Jurist stehen Dir alle Türen offen.“ Nur dass ich nicht die geringste Lust hatte, auch nur eine einzige dieser Türen zu öffnen.

„Aber irgendetwas musst Du doch tun. Und dafür eben bereit sein, Kompromisse zu schliessen“, sagt U, die eine gut bezahlte Stabsstelle in der Verwaltung bekleidet, jetzt ziemlich heftig.

„Mach ich ja. Und für ein paar Monate geht das auch. Oder für Teilzeitarbeit.“

„Damit kommst Du kaum auf einen grünen Zweig.“

„Finanziell sicher nicht, da gebe ich Dir recht. Und womöglich auch sonst nicht. Doch mir scheint, etwas anderes geht für mich ganz einfach nicht.“

„Vielleicht solltest Du Dir mehr Mühe geben.“

„Ja vielleicht“, antworte ich. Man muss ja nicht alles, was man so von sich gibt, auch meinen.

Der Gedanke, ich könnte ein bequemer Hund sein, ist mir nicht fremd. Mein Vater sah mich so, und schmunzelte darüber. Jedenfalls habe ich es so in Erinnerung. Vor Kurzem habe ich festgestellt, dass mir kaum etwas mehr auf den Geist geht als Leute, die das Gefühl haben, sie hätten Anrecht auf irgendetwas, zum Beispiel eine gut bezahlte, qualifizierte Anstellung. einfach weil sie sind wie sie sind. Was bilden die sich eigentlich ein!, denkt es dann in mir, obwohl, irgendwie habe ich den Verdacht, ich sei auch so. Es ist mir peinlich.

***

Pläne machen ist so recht eigentlich meine Natur. Ständig nehme ich mir vor, ab dann und dann (nie heute) alles total perfekt zu machen. Natürlich ist das lächerlich, sind meine Ansprüche an mich absurd. Andererseits: Kennen Sie Susan Sontag? Also die hatte Ansprüche! An alle, nicht nur an sich selber, da bin ich ein Waisenknabe dagegen. Ich soll nicht ablenken, sondern von mir reden? Aber Hallo, man muss sich doch in einem grösseren Kontext sehen. Kennen Sie Peter Bamm, den Arzt und Schriftsteller? Mein Vater, der auch Arzt war, schätzte ihn sehr. In einem Buch über Alexander den Grossen, schrieb Bamm: „Aber Aristoteles bildete nicht nur Alexanders Geist, sondern auch seinen Charakter, indem er ihn lehrte, nach Arete zu streben, jener aus den Tugenden der Gelassenheit und der Selbstbeherrschung bestehenden gehobenen Form innerer Harmonie.“ Das schwebt mir auch vor, danach strebe ich. Und wie mache ich das, praktisch? Indem ich mir immer wieder diesen Gedanken heranhole. Ich übertreibe. Ich würde das gerne häufiger tun, diesen Gedanken heranholen, meine ich. Aber wie bei allem verliere ich sehr schnell die Lust.

Heute habe ich mich in Walking Meditation geübt. Eine Einführung dazu erhielt ich in Bangkok, im World Fellowship of Buddhists, auf der Sukhumvit, ganz in der Nähe meines Hotels. Ich stand am einen Ende eines längeren Ganges. „Stellen Sie sich gerade hin, nehmen Sie das Ziel, worauf Sie zugehen wollen, ins Auge, prägen Sie es sich ein. Jetzt konzentrieren Sie sich auf Ihre Füsse. Heben Sie sie einen nach dem andern. Senken Sie einen nach dem andern. Und lassen Sie sie abrollen, einen nach dem andern. Gehen Sie mit der Bewegung mit. Nichts anderes, nur das. Nach kurzer Zeit tauchen Gedanken auf und lenken Sie ab. Verscheuchen Sie sie nicht, doch geben Sie ihnen auch keine spezielle Aufmerksamkeit. Lassen Sie sie ruhig kommen. Wenn Sie sie nicht festhalten, gehen sie auch wieder.“

Diese Anleitung begleitet mich seither. Und manchmal setze ich sie sogar um, meistens auf meinen Lieblingsspaziergangstrecken zwischen Paspels und Scharans, Lavin und Susch, Sankt Moritz und Pontresina sowie Saas und Küblis. Doch nirgendwo ist es mir bisher besser gelungen als in japanischen Städten, in denen ich stundenlang unterwegs gewesen bin. Und an Sonntagen auf den menschenleeren Strassen im brasilianischen Santa Cruz do Sul.

Am Bahnhof von Cinuos-chel-Brail habe ich einmal etwas anderes versucht. Ich traf zwanzig Minuten vor Zugabfahrt ein. Mein Warten verkürze ich mir normalerweise mit einem Buch, dem Handy oder der Suche nach einem Kaffee. Doch diesmal, es war Winter, wollte ich das nicht. Es musste doch möglich sein, dass ich zwanzig Minuten lang nichts tat, einfach nur dastand. Und genau das tat ich dann auch. Meine Augen betrachteten die schneebedeckten Bäume, Tannenzapfen und vereinzelte kleine Äste auf dem gefrorenen Boden. Ich schaute nur. Und gab mir Mühe, gerade zu stehen. Während fünfzehn Minuten. Eine Premiere! Sich einfach nur auf das einzulassen, was gerade ist, ohne etwas zu tun, erlebte ich als völlig neue Erfahrung.

Übrigens: Die Thais seien in ihrer überwiegenden Mehrheit Buddhisten, lese ich vielerorts. Und die Schweizer Christen. Der Buddhismus lehrt, dass man nicht einfach glauben solle, was Buddha angeblich gesagt haben soll, sondern für sich prüfen, ob das Gesagte Sinn mache und es verwerfen, wenn dem nicht so sei. Das Christentum bzw. deren Vertreter fordern einen hingegen auf zu glauben, was die Kirchenvertreter predigen. Etwa die Dreifaltigkeit, die mir unverständlicher nicht sein könnte. Das Resultat? In Thailand herrscht der Aberglaube, in der Schweiz die Skepsis. Mir scheint, wir haben jeweils die Religion, die wir am meisten brauchen.