TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II

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Kathrin Passig

Cocktail Fubar


Kathrin Passig / Gregor Weichbrodt

Unendlicher Stress (Auszug)

Für einen Moment wirkte das Problem ganz einfach: SJÖPENNA Standleuchte und Kaffee-/Teedose BLOMNING waren in wenigen Sekunden untergebracht. Dazwischen passte noch ein Kleiderschrank HAMNÅS und eine Kommode HEMNES. Das Bücherregal LIATORP, die LILLABO Eisenbahn und den MALM Frisiertisch legte ich fürs Erste neben dem Fahrrad ab. Es begann leicht zu regnen. Ich verfluchte mich, meine Eltern und meine Großeltern. Aber dann hatte ich eine Idee.

Durch gründliches Nachdenken fand ich einen Platz für das BERGSHULT / PERSHULT Wandregal. Im selben Moment löste sich das LILLHULT USB-Kabel, mit dem ich die UTRUSTA Drahtkörbe und das NYHAMN 3er-Bettsofa befestigt hatte, und alles fiel zu Boden. Da verlor ich die Geduld und sprang mit beiden Beinen auf der blauen IKEA-Tasche auf und ab, in der die TROLLBO Hängeleuchte, der PLEJA Drahtkorb, der Einbaukühlschrank FROSTIG und der Ablagetisch NORDLI steckten. Als ich das Stuhlkissen BERTIL zertrampelt und dabei ein Lied gesungen hatte, ging es wieder einigermaßen.

Gerade hatte ich die Schaummatratze MORGEDAL vorsichtig zwischen alles andere geschoben, da merkte ich, dass auf der anderen Seite des Fahrrads der Kerzenständer GLITTRIG und das LENNART Schubladenelement in eine Pfütze gefallen waren. Ich legte mich auf den Asphalt neben das Fahrrad und sah den Wolken zu. Nachdem ich eine Weile in das ROSENSTJÄRNA Kissen geweint hatte, fühlte ich mich besser.

Ich hielt den MULIG Garderobenständer in der linken Hand, den STARTTID Rucksack in der rechten und dachte nach. Die TERTIAL Arbeitsleuchte verstaute ich in meiner Frisur. Ich räumte das DUKTIG Topf-Set für Kinder, die Kommode NORDLI, den EKEDALEN Stuhl und den PLATSA / SANNIDAL / RIDABU Kleiderschrank in eine VARIERA Box. So passte alles leicht zu den anderen Sachen auf den Gepäckträger. Ich durchsuchte den Stapel mit den noch nicht verstauten Sachen nach zwei kleinen Dingen, die ich mir vielleicht in die Nasenlöcher stecken könnte, fand aber nichts Passendes. Die BROGRUND Duschablage brachte ich in meinem rechten Schuh unter. Ich begann zu überlegen, ob ich die ganzen Sachen wirklich brauchte. Ich dachte darüber nach, einfach alles anzuzünden. Doch dann fiel mein Blick auf den Sessel HAVSTEN und den LANEBERG Ausziehtisch, deren ungewöhnlich praktisches Design mich mit allumfassendem Wohlwollen erfüllte. Mit frischem Tatendrang ging ich an die Arbeit.

Jasmin Meerhoff

Verteilung und Zerstäubung Zur Autorschaft computergestützter Literatur

Die Anzahl derer, die mit digitalen Technologien und Infrastrukturen schreiben und durch sie die Bedingungen von Sprache verändern, hat sich in den vergangenen 20 Jahren extrem erhöht. Zu ihnen zählen zum Beispiel Autokorrektur und Autocomplete, Etherpad, OCR, GPT-3 oder deepl.com sowie persönliche Webseiten (inzwischen weniger) und Accounts (von Menschen und Bots). Veränderte Konzepte von Autorschaft zeigen sich in dem Auftreten neuer diskursiver Figuren, die als konkurrierend zu der romantischen, individuellen, aus sich schöpfenden Instanz gedacht werden. Manche haben konkrete Namen: Wreader, Browser, Unoriginal Genius. Sie zeigen sich in den Text generierenden Aktivitäten, die nicht von Menschen durchgeführt werden. Und sie zeigen sich in der Ablösung traditioneller Rollen des literarischen Feldes (Leser*in, Autor*in, Herausgeber*in, …) durch Content Creators.

Autorschaft regelt Zuschreibung, Aneignung und Zirkulation von kulturellen Formen. Je mehr Computer und Computernetzwerke die Aneignung und Zirkulation technisch vereinfachen, beschleunigen und automatisieren, desto stärker drängen sich die rechtlich-ökonomischen und ethischen Dimensionen auf. Denn als Prinzip, Werke mit ihren Urheber*innen zu verknüpfen, erlaubt es diesen wiederum, sich mit dem Werk zu identifizieren, es gegenüber anderen abzugrenzen und zu schützen. Neue ›Services‹, in denen Schreiben im Internet zu ›Content‹ wird, erschweren das.

Dieser Text ist ein Versuch, über einzelne Figuren sowie einige ältere und neuere Beispiele computergestützter literarischer Verfahren die sozio-techno-ästhetisch-ökonomische Konstellation ›Autorschaft‹ aufzuspannen. Mit dem Begriff ›computergestützt‹ folge ich dabei einer breiten Auffassung dessen, was als digitale Literatur gelten kann: Sie umfasst den expliziten Einsatz von Smartphone-Applikationen ebenso wie den von elektronischen Rechenmaschinen ohne Bildschirm, die Verwendung eines Features einer Social-Media-Plattform ebenso wie die Programmierung einer Webseite. Entsprechend sind auch die in meiner lose chronologisch aufgebauten Abhandlung gewählten Beispiele sehr verschiedene Spielarten digitaler Literatur.

Wreader und Browser

Ob und wie sich durch Personal Computer und Internet das Konzept und die Rolle von Autor*innen verändern, wird mit dem Aufkommen des WWW in den frühen 1990er Jahren vor allem über die Theorie der Hypertexte zu beantworten versucht. Prominent sind Jay David Bolters »Writing Space« (1990) und George P. Landows »Hypertext« (1992). In Ableitung aus poststrukturalistischer Literaturtheorie und Roland Barthes’ Diktum vom »Tod des Autors« wird eine Verschiebung bis hin zur Verkehrung der Positionen konstatiert, die aus mehreren Jahrhunderten Druckkultur hervorgegangen sind. Als neue Instanz, als Nachfolge gewissermaßen, schlägt George P. Landow die Figur »Wreader« (gebildet aus den Worten writing und reader) vor. Darin sei die Trennung von Autor*in und Leser*in aufgehoben, denn Hypertext werde nicht schreibend verfasst, sondern lesend hervorgebracht.1

Viele der ästhetischen Differenzen zur Literatur der Druckkultur sowie theoretische Konsequenzen werden aus der technischen Funktionsweise von Hyperlinks erklärt. Wie N. Katherine Hayles zusammenfassend aufzeigt, wird allein aus der Tatsache, elektronisch aktivierbare Verlinkungen zwischen Textelementen vorzufinden, ein befreiender Modus für Leser*innen extrapoliert.2 Ein Hyperlink muss jedoch immer von jemandem in den Text hineinkodiert werden (in HTML ausgedrückt: <a href="…">) und gibt damit Lesestrukturen vor, was wiederum ein Gegenargument zur ausgerufenen (Neu-)Geburt der Leser*innen ist. Verglichen mit einem Kodex aus dem 4. Jahrhundert, so Hayles, scheint mancher Hypertext der 1990er Jahre das Lesen sehr auf einen festen Lektüreweg zu zwingen und in Schleifen zu bringen, aus denen nicht mehr herauszufinden ist.3

Vertreter*innen des sich parallel zu den genannten Hypertexttheorien formierenden Cyberfeminismus argumentieren ebenfalls, dass es gerade nicht der Hyperlink sein kann, der neue Schreib- und Leseweisen provoziert, da er ein Glied mit linearem Vektor ist. Carolyn Guertin nimmt in ihrem Konzept der »browser« eine Perspektive ein, die in sehr wenigen Analysen von elektronischen Hypertexten erwähnt wird. Sie denkt von den Knoten (nodes) her, da diese in sich schon Verknüpfung sind, und Links hingegen ein Mittel zur Herstellung von Verbindung durch Abbruch. ›Browser‹ meint sowohl das Interface zum WWW, die Software, als auch eine bestimmte Präsenz im Text, die durch den Prozess des Browsens hervorgebracht wird. Die Präsenz hängt davon ab, wann und wie Bewegungen im Text stattfinden (können). »Networked texts«, schreibt Guertin, »are created by the browser, the trajective network being spun by the lusty motions of her navigation in space.«4 Der Akt des Lesens, geleitet von der Geste des Mausklicks, gehe so in einem anderen Modus der Wahrnehmung von Text auf. Während Landows »Wreader« impliziert, dass ein*e Leser*in neu und um etwas ergänzt wird, um die entscheidende Instanz für elektronische Hypertexte zu sein, betont Guertin, dass für die cyberfeministische Poetik die Leserin immer schon »browser« ist; so ginge sie durch die Welt, so schaffe sie sich die Welt, auch vor den und außerhalb der elektronischen Medien.5 Mit der Möglichkeit computergestützter hypertextueller Erzählungen könne sie eine neue ästhetische Entsprechung finden.

Konzepte wie diese finden sich nur an den Rändern der Diskussion, für einen Großteil der literaturwissenschaftlichen Analysen, die sich um die Jahrtausendwende mit Autorschaft von Literatur im Internet befasst, bleibt jedoch das Verhältnis von Autor*in und Leser*in zentral. Definiert wird es über deren Nähe und Distanz zueinander, deren Zusammenfallen oder Auseinanderdriften, und über die Frage, wie die Rollenzuweisungen textuell und durch technische Features (z. B. Kommentarfunktion) realisiert werden.6

Sozio-technische Ko-Autorschaften

Im Zuge der Bemühung, um das Jahr 2000 den Begriff ›Hypertext‹ durch ›Cybertext‹ abzulösen, was bedeutet, weniger von Links, Websites, WWW und Bildschirmen zu reden und mehr von Computern (auch unvernetzten) und anderen Textmaschinen, stellt sich die Frage, wer oder was Autor*innen sind, auf andere Weise. Die Fokusverschiebung beschreibt Espen Aarseth in seinem Buch »Cybertext. Perspectives on Ergodic Literature« (1997) so: »cybertext shifts the focus from the traditional threesome of author / sender, text / message, and reader / receiver to the cybernetic intercourse between the various part(icipant)s in the textual machine.«7 Insbesondere das Wort »part(icipant)s« sensibilisiert dafür, dass diese Perspektive sich gleichermaßen für Teile (mechanische, elektrische, elektronische) und Teilnehmer*innen (menschliche) interessiert, ihren Umgang miteinander und ihre Zusammenarbeit.

 

Eine These Aarseths ist, dass einem Computerprogramm nicht die volle Autorschaft für einen Text zugeschrieben werden kann. William Chamberlain, einer der Programmierer eines textgenerierenden Programms namens RACTER, sagt über das 1984 erschienene Buch »The Policeman’s Beard Is Half Constructed«,8 dass RACTER es geschrieben habe. Aarseth widerspricht: Es handele sich bei dem Buch vielmehr um das Produkt einer Cyborg.9 »Am I crediting my computer properly when I attribute the authorship of works that my computer helped to create?«, fragt der Dichter und Wissenschaftler Nick Montfort in einem Essay als Reaktion auf Aarseth, und: »Should I give myself and my computer a ›cyborg name‹ (like a ›DJ name‹) for just this purpose?«10

Statt jedoch auf diese Fragen explizit zu antworten, bespricht Montfort verschiedene Prozesse, die schlicht als Ko-Autorschaft von Mensch und Maschine bezeichnet werden können. Er argumentiert dafür, Autorschaft für »electronic literary composition« – so seine eigene Formulierung für die Art von literarischen Verfahren, die er entwickelt und anwendet – als Handlungsprozesse aufzufassen, in denen sowohl Menschen und Computer bestimmte Operationen ausführen beziehungsweise Spielzüge machen können und dabei gemeinsam zu einem Ergebnis kommen.11 Er merkt auch an, dass dieses Modell von Autorschaft einen sehr engen Fokus hat und die Stärke im beschreibenden Charakter liegt.

In kleineren Arrangements wie Loss Pequeño Glaziers Mitte der 1990er Jahre begonnener ›grep‹-Poesie ist klar nachvollziehbar, wer was durchführt.12 In der Zusammenarbeit von Glazier und grep – einem Programm für UNIX-Systeme zur Durchsuchung von Dateien nach Textblöcken über bestimmte Muster (genannt ›regular expression‹) – lassen sich nach Montfort drei Typen von Operationen beziehungsweise Zügen ausmachen: Textmaterial erstellen, Text entfernen, Anweisungen oder Zwischentexte (ein-)geben. Der Computer führt genau einen Zug aus: die Entfernung von Text. Die Anweisung dazu gibt Glazier, auch liefert er das Textmaterial.

Ergänzend zu diesem Modell ist zu fragen, wie in solchen Arrangements von Mensch und Computer der Handlungsrahmen der jeweils Beteiligten eingeschränkt oder erweitert wird, wie und in welchem Maß den verschiedenen Entitäten gestaltende Kraft zugeteilt wird. Die meisten menschlichen Urheber*innen computergestützter Literatur geben mindestens Hinweise darauf, wenn auch nicht so typologisiert wie oben, und ihre konkreten Bekundungen sind nicht zu vernachlässigen. Zum Beispiel schreibt Mara Genschel im Vorwort zu »Cute Gedanken« (2017), einem Band mit SMS-Gedichten, die auf einem Handy mit US-amerikanischer Tastatureinstellung entstanden sind: »Ich fing an, Überlegungen zu notieren, in denen meine teilweise verzweifelte Situation in dilettantischer Manier zu reflektieren ich mich nicht schämen musste, da das Gerät mich um immer noch eine Peinlichkeit oder Dummheit übertraf. (…) Die Entscheidungen meines Handys sind insofern ungefiltert, als dass ich meinen Schreibvorgang konsequent nicht durch Wortvorschläge abkürzte, sondern das deutsch Gemeinte jeweils neu eintippte und die automatische Korrekturfunktion jeweils neu auf es zugreifen ließ. So entstand auch der Text, den ich nicht vorformulierte, sondern im Tippen und im Reagieren auf die Korrekturen weiterentwickelte.«13

Da jedes Schreiben, jedes Anfertigen von Texten an die Nutzung bestimmter Werkzeuge und Maschinen gebunden ist, an ihren Gebrauch oder Missbrauch, ist ein weiterer Ansatz, die Analyse solcher Ko-Autorschaften mit Fragen nach der Kon-Figuration der User zu verbinden. Experimentelle poetische Verfahren haben auch vor dem Aufkommen beziehungsweise ohne den Einsatz von Computern aus der Position als User heraus die Grenzen der technischen Interfaces strapaziert, die zwischen lesenden und schreibenden Menschen und der Oberflächenebene des Textes vermitteln. Lori Emerson untersucht dies in »Reading Writing Interfaces« (2014) unter anderem am Gebrauch der Schreibmaschine.14 Es ist jedoch die Durchdringung nahezu aller Lebensumgebungen durch digitale Technologien, mit der Menschen nicht nur ständig im Alltag als User adressiert werden, sondern die ihnen im Namen von ›User Generated Content‹ einen neuen Status bei der Hervorbringung von kulturellen Formen zuweist.

Die Doppelrolle Autor*in / User zu fokussieren heißt, sich den Beziehungen zwischen menschlichen Intentionen, technischen Funktionen und textuellen Informationen zuzuwenden. Zur Beschreibung dieser Beziehungen eignet sich das Vokabular der Akteur-Netzwerk-Theorie, neuere Studien zu automatisierter Textgenerierung nehmen darauf auch explizit Bezug.15 Technische Objekte haben ein Skript, so Madeleine Akrich, welches »den Rahmen einer Handlung zusammen mit den Akteuren und dem Raum, in dem sie agieren sollen«,16 definiert. Im Skript ist festgelegt, was durch die Initiative menschlicher Akteure ausgeübt und was an ein Werkzeug, ein Gerät, eine Maschine, eine App et cetera delegiert werden soll. So erfolgt eine Zuweisung von bestimmten Rollen. Es bleibt jedoch den Nutzer*innen überlassen, ob sie ihre Rollen spielen oder dem Skript eigene Interpretationen hinzufügen.

Wenn beispielsweise Nanni Balestrini zur Bank geht, um dort mit den Rechenmaschinen ein Gedicht – »Tape Mark I«17 (1962) – schreiben zu lassen, geht es ihm vor allem darum, einige für seine poetische Technik besondere Operationen wie das Auftrennen und Kombinieren vorhandener Texte mit hoher Schnelligkeit auszuführen, also diese Aufgabe oder diesen Zug der Maschine zuzuteilen. Es ist eine nicht zu vernachlässigende Geste – in der Doppelrolle als Autor und Nutzer –, mit der Balestrini hier Rechenmaschinen verwendet, die »normalerweise für Bankgeschäfte eingesetzt werden«.18 Er entzieht die Maschinen ihrem Normalgebrauch und weist ihnen einen instrumentellen Charakter zu.19

Ein weiteres Lehrstück sozio-technischer Ko-Autorschaft ist »Taroko Gorge«. Es ist ein Computerprogramm, ein Gedicht und ein ständig weiterwachsendes Stück vernetzter Literatur, das zunächst von Nick Montfort in Python programmiert, dann auf etwa 80 Zeilen (und weniger als tausend Wörter) JavaScript übertragen und in dieser Form 2009 auf einer Webseite online gestellt wurde.20 Die Verse von »Taroko Gorge« entstehen auf Abruf, sie werden prozedural in Echtzeit generiert. Es hat zahlreiche Abwandlungen erfahren, hat sich bis Juli 2020 auf 39 Versionen vervielfacht; jede Multiplikation ist eine Modifikation.21 Und jedes wörtliche Zitat kann nur ein herauskopierter Moment aus einem ständig neu entstehenden Gedicht ohne festgelegtes Ende sein, so wie diese Zeilen aus »Li Po 4444«, einer 2018 vom lateinamerikanischen Kollektiv und Verlag Broken English veröffentlichten Variante:

Programmiert die Bots im Fliegen.

In der Kohle kodieren die Bäume.

In den Steinen meditieren die Satelliten.

Zersetzt für den Silizium-Kapitalismus —22

Es ist nicht unbedingt ein expliziter Aufruf zum ›Mitmachen‹, der Broken English und andere zur Kollaboration und Wiederaufbereitung einlädt. Der Low-Tech-Ansatz, den Broken English – etwa 50 Gedichte im HTML-Format sind seit 2016 abrufbar – verfolgt, spiegelt sich in dem von »Taroko Gorge«. Vor allem die gewählte Programmiersprache, der modulare Aufbau des Programms und der Webbrowser als Ausgabe- beziehungsweise Präsentationsmedium geben Anlass, es selbst zu versuchen. Durch die Möglichkeit, die Zeilen des Codes über die Browserfunktion ›Seitenquelltext aufrufen‹ herauszukopieren, ist nicht nur die Grundlage für einen neuen Abkömmling gegeben, es tritt auch der instruktive Charakter zutage: Was passiert, wenn ich hier ein paar Wörter ändere, wenn ich hier eine andere Zahl eingebe? Bis zu: So funktioniert JavaScript? »Taroko Gorge« ist, so der Dichter und Wissenschaftler Scott Rettberg, »a mode of practice built on sharing, on collective building, on dialectics, and on a sense of play.«23 Es reflektiert eine techno-politische Ästhetik, in der die Ko-Autorschaft von Mensch und Computerprogramm auch neue Mensch-Mensch-Kooperationen inspiriert.

Unoriginal Genius

Woher kommen die Worte, die die Zeilen bilden in Broken Englishs »Li Po 4444«? Der Quelltext zeigt, dass die Generierung über mehrere Arrays, das heißt listenähnliche Objekte, läuft, in denen jeweils eine bestimmte Anzahl von Worten steht: »Enfrenta, Vence, Pelea, Hackea, Descompone (…)«. So werden Elemente definiert, die für eine später im Code formulierte Funktion überhaupt verfügbar sind. Ein entscheidender Umstand in computergestützter Generierung natürlicher Sprache ist, dass dem Computer diese Sprache in irgendeiner Weise bereitgestellt werden muss. Oder, wie es Alexander R. Galloway phänomenologisch formuliert: »Computers require input, but they have a hard time generating input out of whole cloth. Computers require givenness, but they can’t, ultimately, give it themselves.«24

Nanni Balestrini nimmt für »Tape Mark I« kurze Passagen aus Michito Hachiyas »Hiroshima Diary«, Laotses »Tao te ching« und Paul Goldwins »The Mystery of the Elevator«. Loss Pequeño Glazier verwendet für seine grep-Experimente zum Beispiel das Archiv der SUNY / Buffalo Poetics Mailingliste von 1995. Heute fragen Poesieautomaten (Bots) über Schnittstellen (API) automatisch Posts oder andere Daten von Internet-Plattformen ab oder es wird im Rahmen von Machine-Learning-Modellen eine massenhafte Aggregation von Text in Anspruch genommen. Es kann danach gefragt werden, welches Konzept von Autorschaft in den Poetiken derjenigen verkörpert wird, die durch digitale Verfahren mit existierendem Text umgehen. Inwieweit wird bei der Konzeptualisierung berücksichtigt, dass so explizit mit anderen Autor*innen interferiert wird?

Im Fall von GPT-3 (kurz für: Generative Pre-Trained Transformer 3), dem im Juni 2020 von OpenAI veröffentlichten und bisher umfangreichsten Sprachmodell, basieren die Trainingsdaten auf mehreren hundert Gigabyte an Text verschiedenster Internetquellen. Das künstliche neuronale Netz kann auf dieser Grundlage neue zusammenhängende Sätze, Verse oder auch Codezeilen generieren. Ist der Effekt dadurch eine maximal verteilte, verstreute oder ganz zerstäubte Autorschaft, die nicht nur aufgrund der Masse an Text entsteht, sondern auch, weil mehrere Programme, Computer und Server daran beteiligt sind? In einer Serie von Tweets kritisiert die Dichterin und Programmiererin Allison Parrish die Tendenz, bei der Verwendung von umfangreichen vortrainierten Sprachmodellen wie GPT-3 mit Formulierungen wie ›GPT-3 schrieb …‹ das Ergebnis allein dem Modell zuzuschreiben, weil darin ein Unverständnis über das Zustandekommen dieser Worte zum Ausdruck kommt: »(…) people don’t (can’t?) understand where those words are coming from, and so attribute them to the *model*, instead of to (e. g.) common crawl as a whole, or to the individual writers whose work contributed to the predictions in the model’s output.«25

Für die Literaturwissenschaftlerin Marjorie Perloff sind Computer und Internet, von Hypertext über Blogs bis zu Datenbanken, und der zugehörige Diskurs über Zitierweisen, die damit einhergehende Dialektik von Trennung und Verbindung sowie die gegenseitige Durchdringung von Ursprung und Zerstörung zentral für die Poetik des 21. Jahrhunderts.26 Diese erhebe keinen Anspruch (mehr) auf Originalität. Dennoch: Das Genie könne ins Internetzeitalter hinübergerettet werden, wenn es unoriginell wird, nichts ›aus erster Hand‹ oder ›eigener Erfahrung‹ schafft, wenn es Uneigenes aneignet, kopiert, reproduziert. Es könne ein »Unoriginal Genius« sein. Für den Konzeptkünstler Kenneth Goldsmith und sein ästhetisches Programm des Uncreative Writing ist diese Figur des »Unoriginal Genius« zentral; was sie ausmacht, ist die Fähigkeit, mit Sprache als Informationsmenge umzugehen, mit »Unmengen an bereits bestehendem Text«.27 Diese Auffassung von Autorschaft definiert sich also vorrangig über eine spezifische Haltung zur Sprache als etwas Destabilisiertes, Flüssiges, Flüchtiges und »je nach Laune«28 Austauschbares; eine Haltung, die den Autor*innen wiederum von der Durchdringung der Welt durch digitale Technologien aufgezwungen werde.

 
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