TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II

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Gregor Weichbrodt

On the Road


Die Wegpunkte, die Jack Kerouac in seinem Roman »On the Road« bereist und beschrieben hat, wurden mit Hilfe des Google Routenplaners verarbeitet. Das Ergebnis ist eine 55 Seiten lange Routenanweisung. Insgesamt, so behauptet Google, dauert die Reise 272,26 Stunden (bei 28206,97 km).

Gregor Weichbrodt

Eine Liste

 zwei rote Zwiebeln

 elf Meter Tiefe

 drei Serientreffer

 vier Prozent Vorsprung

https://twitter.com/EineListe/status/1312803458685296642

 acht Tische

 302 Drinks

 54 Damenslips

 830 Senioren

https://twitter.com/EineListe/status/1326997012563197953

 elf DAX-Konzerne

 neun Tatverdächtige

https://twitter.com/EineListe/status/1330620886223826945

 zwei Luxushotels

 sieben Passagiere

 vier Begriffe

 100 Jugendliche

https://twitter.com/EineListe/status/1335649005532016641

 450 Aussteller

 zwei Einkommensklassen

 neun Kilo Kokain

 drei Corona-Tests

https://twitter.com/EineListe/status/1318284630131343362

 zwei Spielzeiten

 sieben Löcher

https://twitter.com/EineListe/status/1343983931754999810

 20 Stunden Hoffnung

 15 Euro mehr Kindergeld

 110 Milliarden Umsatz

 zwei verschiedene Antikörper

https://twitter.com/EineListe/status/1340722427354116103

 13 Millionen Menschen

 4,5 Zentimeter tiefe Stichverletzung

 vier Verteidiger

 450 000 Einzelhandelsgeschäfte

https://twitter.com/EineListe/status/1318601660760002561

»Eine Liste« durchsucht aktuelle Nachrichtentexte nach zählbaren Dingen und generiert Listen. Zu finden auf https://twitter.com/Eineliste .

Thorsten Ries

Digitale Literatur als Gegenstand der Literaturwissenschaft Ein multimodales Forschungsprogramm
Einleitung1

Digitale Literatur steht auf der Agenda der Literaturwissenschaft im deutschsprachigen Raum, ein systematisches Forschungsprogramm ist hingegen derzeit ein Desiderat. Die Studien Hannes Bajohrs, Friedrich W. Blocks, Florian Cramers, Chris T. Funkhousers, Peter Gendollas, Saskia Reithers und Roberto Simanowskis haben wichtige Grundlagen gelegt, ohne dass bislang eine disziplinäre Integration erreicht worden wäre.2 Das Deutsche Literaturarchiv Marbach am Neckar schafft derweil mit dem Aufbau der Sammlung »Netzliteratur« (Projekt »SDC4Lit«) eine Quellenbasis für die Forschung.3 Digitale Literatur im deutschsprachigen Raum weist eine reiche, weit zurückgehende Geschichte und eine bis heute höchst aktive und einflussreiche Produktion auf, auch wenn die Szene das stetige Wachstum der internationalen elektronischen Literatur im Zeitraum vom Ende der 1990er bis Mitte der 2010er Jahre nicht mitvollzogen hat.4 Die germanistische Forschung hat den Gegenstand bislang – mit Ausnahme der genannten Studien und vereinzelten historischen und medienwissenschaftlichen Beiträgen5 – weitgehend ignoriert. Im internationalen Bereich haben die Geisteswissenschaften eine eigenständige Theoriebildung und Entwicklung von Lektüre- und Analysemodellen zu ›elektronischer Literatur‹ betrieben, die unter anderem mit der Forschung von Espen Aarseth, Philippe Bootz, Dene Grigar, Loss Pequeño Glazier bis N. Katherine Hayles, Matthew Kirschenbaum, Leonardo Flores, Lori Emerson, Giovanna Di Rosario und Mark Marino verknüpft ist und inzwischen Allianzen mit den Digital Humanities eingeht.6 Die germanistische Literaturwissenschaft steht vor der Aufgabe, digitale Literatur als Gegenstand zu integrieren und ihr disziplinäres Verhältnis zu ihm konzeptionell und methodologisch zu klären. Der folgende Beitrag skizziert anhand von Beispielen aus der internationalen Forschung den Ansatz eines multimodalen Forschungsprogramms zur digitalen Literatur, welches die multiplen Analyseebenen und historischen Dimensionen in einem anschlussfähigen Lektüre- und Analysemodell zusammenführt.

Digitale Literatur: Definitionen, Textbegriff, Analysezugänge

Digitale Literatur ist der im europäischen Raum derzeit geläufigste Sammelbegriff für eine literarische Kunstform und Literaturbewegung, welche auch als ›Electronic Literature‹ – so etwa im Namen der internationalen Electronic Literature Organization (ELO) beziehungsweise ›e-lit‹ – oder ›littérature numérique‹ bekannt ist.7 Ihre Definition befindet sich historisch im Fluss, bedingt durch den technologischen Wandel, der digitale Literaturformen ermöglicht beziehungsweise veralten lässt (etwa in Gattungen wie Netzliteratur, Flash-basierter ›flash e-lit‹ etc.), sowie durch den Prozess der internen Differenzierung nach medienkünstlerischen Form- und Konzeptaspekten (etwa in Form von Hypertext-Literatur, Cyberpoetry, New Media Poetry, Quellcode-Kunstwerken: Codeworks, Code als konkretes Konzeptkunstwerk) und schließlich durch an literarische Gattungsbestimmungen angelehnte Formaspekte (etwa in Electronic Poetry, Code Poetry, digitale Poesie, digitale Dichtung).

Der digitale Textbegriff ist gegenüber der an statische Text- und Distributionsmedien gebundenen Literatur erweitert und umfasst neben im digitalen Medium performiertem literarischen Text Hypertexte, Literatur in Form von Bild, Video und Ton, textgenerierende Algorithmen und KI-Modelle sowie deren Output und literarischen Programmcode. Nicht alle Anteile eines Werks der digitalen Literatur sind notwendigerweise im gewohnten Sinne textförmig, vielmehr kann die Lektüre entweder »nontrivial effort«,8 Interaktion oder konzeptionell-technisches Verständnis seitens der Leser*innen erfordern – so etwa im Fall von Jaromils »forkbomb« (2002), einer Zeichenfolge, deren Ausführung auf Unix-Systemen einen Systemabsturz zur Folge hatte.9 Ein wiederkehrendes Motiv digitaler Literatur ist die Reflexion und Neuverhandlung des Text-, Literatur- und Medienbegriffs. Beispiele hierfür wären diese Begriffe performativ infrage stellende, dynamisch auf dem Bildschirm dargestellte Kunstwerke, den Akt des Schreibens befragende, algorithmisch-generative Literaturwerke,10 aus Quellcode bestehende Kunstwerke (sogenannte Codeworks), die Grenze des textlich Repräsentierbaren überschreitende KI-Modelle und Plattform-Literatur, welche das soziale Medium zur Verbreitung nutzt und in eine kritische und historische Auseinandersetzung einbezieht.11 Man denke etwa an die konzeptuellen Texte der Reihe »Poetisch Denken«, welche mittels KI-Modellen erzeugt wurden, die durch analytisches Training von neuronalen Netzen anhand eines Textkorpus – etwa den Werken Monika Rincks, Ann Cottens unter anderem – gewonnen wurden.12

Eine einflussreiche Definition digitaler Literatur lautet (ELO, 1999): »Electronic literature refers to works with important literary aspects that take advantage of the capabilities and contexts provided by the stand-alone or networked computer.« Wiederholt wurde darauf hingewiesen, dass diese Bestimmung – ebenso wie Katherine Hayles’ Zusatz von 2007, digitale Literatur werde in der Regel auf Computern geschrieben und am Computer rezipiert13 – den technischen Produktions- und Performanzaspekt von »born-digital« Literatur betone, die Definition des »important literary aspect« hingegen unbestimmt lasse. Einige relevante Werke – etwa in gedruckter Buchform verbreitete, algorithmisch generierte Literatur – würden damit ausgegrenzt. Während sich Hayles’ bekanntes Diktum »Print is Flat, Code is Deep« auf die medienspezifische Analyse von Hypertext-Literatur bezieht und somit gleichfalls zu kurz greift, ist ihre Definition der Funktion elektronischer Literatur durchaus reicher, wenn sie argumentiert, dass digitale Literatur auf die Erwartungshaltung und Lesegewohnheiten der Printmedien aufbauen muss, um diese und somit den Modus des Literarischen zu transformieren.14 Elektronische Literatur wäre demnach, laut Hayles, nicht mehr an eine verbale Textform gebunden, sondern allgemeiner zu verstehen als Oberbegriff für multimediale, digitale Kunstwerke, welche die Geschichte, Kontexte und Produktion der Literatur transformierend hinterfragen.15

 

Hayles’ Definition, beziehungsweise die Definition der ELO, ist keineswegs unumstritten. In einer Gegenbewegung zu Hayles’ einerseits medial-technischer, andererseits auf die Transformation des Literaturbegriffs orientierter Definition betont etwa Noah Wardrip-Fruin in seinem – gleichfalls noch auf Hypertexte fokussierten – Modell der medienspezifischen Analyse der fünf Elemente digitaler Literatur (Daten, Prozess, Interaktion, Oberfläche, Kontext) die Rolle der »attention to language« in jedweder Kunstform.16 Daneben fallen die Ansätze Phillipe Bootz’ und Friedrich Blocks ins Auge. Für Bootz ist das definierende Merkmal von digitaler Dichtung, dass das technische Artefakt eine »semiotische Lücke« zwischen der sichtbaren Komponente und der technischen Komponente erzeuge, welche dadurch beide als »der« Text angesehen werden können – wenn auch von unterschiedlichen Perspektiven aus.17 Bootz bestimmt die sprachliche Reflexion digitaler Literatur im Spannungsfeld dieser beiden Textebenen und der semiotischen Lücke: »Digital poetry today explores the role of language in signs that use this gap, and which only exist thanks to it. In this case, programming can become a new condition, a new context for poetic creation.«18 Während Bootz digitale Dichtung analytisch als Spannungsfeld von Textebenen und den die semiotische Lücke nutzenden sprachlichen Zeichen fasst, konfiguriert Block digitale »Poesie« im Rahmen seiner disziplingeschichtlichen Analyse des »Sprachspiels« – unter Anleihen bei Luhmann – als intermediales »Reflexions- und Kommunikationsmedium« und »Medium zweiter Ordnung«: »Poesie konzipiert selbstbezüglich Reflexivität als den basalen Mechanismus in Kognition und Kommunikation bzw. Identität und Sozialität. Poesie ist als Reflexions- und Kommunikationsmedium ein Medium zweiter Ordnung.«19 Als ein solches Reflexionsmedium zweiter Ordnung thematisieren digitale Literatur und akademischer Diskurs die Ubiquität des Digitalen als mögliches Problem, etwa in Florian Cramers These, dass die Gegenwart bereits »post-digital« sei.20 Eine digital-literarische Reflexion dieser Problematik ist das von Lori Emerson beobachtete Interface Hacking, welches die »unsichtbar« gewordenen Interfaces wiederum sichtbar zu machen sucht.21

Ein multimodales Forschungsprogramm

Den diskutierten historischen Zugängen, digitale Literatur zu fassen, ist gemeinsam, dass sie auf mehreren technischen, semantischen und konzeptuellen Ebenen des Werks gleichzeitig ansetzen. Ein Ansatz zur Lektüre und Analyse digitaler Literatur muss, so wurde hergeleitet, multimodal sein: Nicht allein die dynamisch interaktive Bildschirmperformanz eines digitalen literarischen Kunstwerks ist Gegenstand des wissenschaftlichen Interesses. Vielmehr geraten (auch) der Quellcode, der Datenverarbeitungsprozess, der Code-Schreibprozess, der technische Kontext und deren historische Dimension in den Blick. Jedem Werk der digitalen Literatur sind eine mehrschichtige individuelle, literarische, mediale und technische Geschichte und ein multimodales Bezugssystem eingeschrieben, welche digital-literaturgeschichtliche Bezüge und Kontexte, mediengeschichtliche Aspekte der Bildschirmperformanz und Aspekte historischer digitaler Materialität (historische Aspekte des Quellcode, Programmiersprachen und -Umgebungen, Betriebssysteme und digitalforensische Befunde) umfassen können.22

Code, Prozess und literarischer Kontext

Cramers Studie »Exe.cut[up]able statements. Poetische Kalküle und Phantasmen des selbstausführenden Texts«23 lenkt den literaturwissenschaftlichen Blick methodologisch auf die Prozess- und Ausführungsebene von poetischen Kalkülen und literarischen Codeworks. Dies ist methodologisch durchaus folgenreicher als in der Forschung gemeinhin wahrgenommen wird, denn Cramers Lektüreansatz erfasst neben Bildschirmperformanz und Quellcode den Nachvollzug des algorithmischen Vorgangs als Teil des Verfahrens: So gelingt Cramer die lesenswerte Analyse der Concrete Perl Poetry Nick Montforts (etwa die 32 Zeichen langen Perl-Programme)24 und des Perl-Gedichts »jabberwocky.pl« (2000) des Programmierers Eric Andreychek. In Cramers Analyse erschließt sich das Code-Gedicht weder aus der sichtbaren Performanz noch allein durch die Textlektüre des Quellcodes, sondern ausschließlich durch den zusätzlichen Nachvollzug dessen, was im Programm-Arbeitsspeicher geschieht: ein Reenactment des Plots von Lewis Carrolls »Jabberwocky« in Form von Variablen, Listen, Systemprozessen (und überlebenden Demons), bei dem der Jabberwocky-Prozess sein Arbeitsspeicher-Leben lässt – während der Prozess »$son« ›überlebt‹: »(kill 9, $Jabberwock), $head = (chop $Jabberwock);«. Das literarische Kunstwerk »jabberwocky.pl« ist sein Quellcode und der unsichtbare Prozess im Arbeitsspeicher zur Laufzeit, während der Output des Gedichts lediglich »Beware the Jabberwock! at jabberwocky.pl line 8. / Beware the Jubjub bird at jabberwocky.pl line 10.« lautet.

Im Sinne eines multimodalen Leseansatzes wären bei der Lektüre von »jabberwocky.pl« mehrere, dem Gedicht in seine literarisch-technische Konzeption wie auch seine Implementierung eingeschriebene Kontextebenen zu berücksichtigen. Perl gilt als eine schwer lesbare Programmiersprache, die gleichwohl zu Beginn der 1990er Jahre zum Ausdruckmedium der Wahl für eine Code-Poetry-Bewegung wurde.25 2000 formierte sich die ›PerlMonks‹-Community, der Andreychek wenig später beitrat.26 Montforts Perl-Arbeiten bis hin zu seiner jüngsten, 256 Zeichen langen Hommage an den Chatbot ELIZA, »Eli«,27 sind späte Ausläufer dieser Bewegung, während etwa, zum Vergleich, die Teilnehmer*innen an den Wiener Code Poetry Slams der Jahre 2015, 2016 und 2017 sich mehrheitlich der lesbareren Programmiersprache Python bedienten.28 Nach Flores’ historischem Generationenmodell der digitalen Literatur wäre »jabberwocky.pl« zur ›zweiten Generation‹ zu rechnen.29

Auf einer technisch-konzeptionellen Ebene ließe sich eine Kontrafakturlinie von »jabberwocky.pl« zurück zur Tradition der algorithmisch generierten Literatur und deren Implementierungen ziehen: Dieses Perl-Gedicht verweigert gerade den direkt lesbaren literarischen Output, den das von Theo Lutz 1959 auf Zuse 22 implementierte Programm der »Stochastischen Texte« erzeugte. Die »Stochastischen Texte«, nach Stracheys »Love Letters« (1952) die ersten algorithmisch generierten literarischen Texte, gehen auf die Zusammenarbeit mit Rul Gunzenhäuser und den nunmehr als politisch belastet geltenden Stuttgarter Professor Max Bense zurück, welcher Lutz’ Werk nachträglich theoretisch unterfütterte.30

Bis heute verweisen Vertreter*innen des sogenannten konzeptuellen Schreibens – ein Modus des Schreibens, bei dem die formale Fassung einer Idee, eines abstrakten Schemas der ›nebensächlichen‹ Ausführung vorangeht, die zum Beispiel algorithmisch prozessierend erfolgen kann31 – zurück auf diese ersten technischen Implementierungen, wie auch auf die literarischen Konzepte der Wiener Gruppe und der Gruppe OuLiPo. Die historischen Wurzeln der konkreten Code Poetry reichen zweifellos zurück zu den Dichtungen Eugen Gomringers und OuLiPos, etwa François le Lionnais’ ALGOL-Gedicht »Table / Begin: (…)« von 1972.32 Die von Konrad Bayer mit Oswald Wiener 1957–58 auf Papier als Funktionsdiagramm konzipierte, gleichwohl nie implementierte »dichtungsmaschine in 571 Bestandteilen« könnte als ein analoger historischer Prototyp konzeptuellen Schreibens gelesen werden.33 Cramer leitet die Verfahrensweise seiner Code- und Prozessanalyse literaturgeschichtlich her, weit zurückreichend bis zu den kombinatorischen Wortkalkülen Raimundus Lullus’, Quirinus Kuhlmanns, Georg Philipp Harsdörffers, berechtigtermaßen unter anderem auch Friedrich von Hardenbergs »Allgemeines Brouillon«.34 In der reichen literaturhistorischen Reihe vermisst man allenfalls Hölderlins »kalkulable(s) Gesez«,35 seine poetologisch-kombinatorischen Tabellen36 und eine ausführlichere Berücksichtigung der Wiener Gruppe. Kennzeichnend für Cramers historische Analyse ist auch, dass er neben Literaturen der Moderne (Tzara, Schwitters, Gomringer) auch den Einfluss von »Sprachalgorithmik« auf den linguistischen und literaturwissenschaftlichen Strukturalismus berücksichtigt.37

Digitale Forensik, Medienphilologie und Critical Code Studies

Grundlagen für eine Philologie der digitalen Literatur sind vor allem im angelsächsischen Raum gelegt worden. Im Rahmen dieser Skizze bereits etablierter Ansätze für philologische und literaturwissenschaftliche Analysen von digitaler Literatur seien hier exemplarisch die Studien Matthew Kirschenbaums, Lori Emersons und Mark Marinos hervorgehoben. Diese Studien analysieren bereits ältere Werke, können allerdings als paradigmatisch mit Blick auf ihren analytischen Umgang mit deren spezifischer historischer digitaler Materialität gelten.

In seiner digitalforensisch angelegten Studie »Mechanisms« von 2008,38 welche seiner Literaturgeschichte der digitalen Textverarbeitung (2016)39 vorangeht, analysiert Kirschenbaum drei einschlägige Werke der digitalen Literatur mittels philologischer und forensischer Verfahrensweisen: das interaktive Abenteuerspiel »Mystery House« (anonym, 1980), Michael Joyces Hypertext-Erzählung »Afternoon: A Story« (1987) und William Gibsons elektronisches Gedicht »Agrippa« (1992). Kirschenbaum rekonstruiert die Quellen und Textgeschichte der Werke anhand ihrer digitalen historischen Materialität des digitalforensischen Befundes, einschließlich der Geschichte der illegalen Vorabveröffentlichung von »Agrippa« durch Hacker auf USENET.40 Kirschenbaum überträgt digitalforensische Beweissicherungs- und Analysemethoden von Datenträgern (»forensic imaging«) in den Bereich der Philologie.41 Das Modell ist übertragbar auf digitale Literatur der Gegenwart und aktuelle Technologie: Aus der digitalen Forensik bekannte Methoden werden auch bei der Archivierung digitaler Kunstwerke angewandt, um wichtige Spuren der Bearbeitung, Prozessierung, digitalen Umgebung und deren historische digitale Materialität zu bewahren und analysierbar zu machen.42

Emerson findet in ihrem Buch zur Kulturgeschichte digitaler Schreib-Interfaces einen literaturmedien-historischen Zugang zu Jörg Piringers iPad-App »abcdefghijklmnopqrstuvwxyz« (2010), welcher auch für andere seiner Werke, etwa »tiny poems« (2015) für iWatch, trägt.43 Sie liest Piringers App als eine interaktive, kinetische Poesieplattform (»iPoem«), mittels derer Nutzer*innen auf spielerische Weise ein von der proprietären iOS-Plattform nicht vorgesehenes Maß an kreativem Einfluss auf einen Text ausüben können.44 Nicht zu Unrecht versteht Emerson Piringers Werk als eine hacktivistische Intervention, welche auf die »Defamiliarisierung« von selbstverständlich und »unsichtbar« gewordenen Benutzeroberflächen für die Nutzer*innen setzt – mit dem Ziel, die dem Schreiben durch die Interfaces gesetzten Grenzen sichtbar zu machen, zu verschieben und programmierend aufzuheben.45 Den Studien Kirschenbaums und Emersons ist der Ansatz gemeinsam, letztlich an digitaler Literatur das remedialisierte Forschungsprogramm der literarischen, literaturwissenschaftlich-philologischen und medienwissenschaftlichen Praxis der New Philology, Analytical Bibliography und Book History fortzusetzen und die digitalen Werke entsprechend zu lesen.

 

Marinos 2020 erschienenes Buch »Critical Code Studies«46 arbeitet in exemplarischen Fallstudien kritische Lektüreverfahren für Software heraus, welche die historische Materialität des Quellcodes, die Laufzeit-Prozessebene und Funktionalität der Software unter einem geisteswissenschaftlichen Blickwinkel interpretieren. Das Kapitel zu Montforts generativem Code-Gedicht »Taroko Gorge« (2009) und dessen Bearbeitungen durch andere Autor*innen ist das einzige, welches ein Werk der digitalen Literatur zum Gegenstand hat. Der überschaubare Python-Code des Originals – Montfort bevorzugt nach eigener Angabe Python für die poetische Denkarbeit (»Python is a programming language I prefer for when I’m thinking«)47 – erzeugt Zeile für Zeile einen endlosen, meditativ anmutenden Gedichttext in regelhaft alternierenden Versgruppen (2–1), wobei dieses Schema ab und an durch drei- und vierversige Strophen unterbrochen wird. Der Titel, die Kommentare im Quellcode und die verwendeten Verbformen legen nahe, dass der vom Gedicht erzeugte Rhythmus an einen Gang durch eine Schlucht im Taroko-Nationalpark erinnert »# 8 January 2009, Taroko Gorge National Park, Taiwan and Eva Air Flight 28«, »walking (…)«, »stopping (…)«.48 Der Code des Gedichts wurde von anderen Autor*innen mehr als 20 Mal adaptiert und in andere Programmiersprachen übersetzt.49 Im Rahmen seiner philologischen Dokumentation und Analyse von Montforts Python-Quellcode und ausgewählten Code-Fragmenten der Bearbeitungen präpariert Marino einen für digitale Literatur spezifischen Modus literarischer Intertextualität heraus: Wie Scott Rettberg (Bearbeitung: »Tokyo Garage«) nennt J. R. Carpenter ihre Bearbeitung des Gedichts unter dem Titel »Gorge« einen »Remix«. Ähnlich Rettberg und den meisten Bearbeiter*innen behält Carpenter Montforts Code-Funktionalität im Wesentlichen bei, tauscht allerdings das Vokabular aus, sodass »Gorge« einen formal dem Original ähnelnden Textstrom erzeugt, allerdings mit eher viszeral Ekel auslösender Semantik (»gorge«, dt. Schlucht; »to gorge«, dt. schlingen). Während Rettberg sich jede Zeile von Montforts Quellcode aneignet, um »Tokyo Garage« zu schreiben, belässt Carpenter einige in ihrem Programm funktionslose, nicht angeeignete Codezeilen – beziehungsweise ihr in Javascript übersetztes Äquivalent – im Programm. Es geht um die Python-Zeilen in Montforts Code, welche das Wort »monkeys« auslösen, wenn die Zeichenfolge »forest« auftaucht: »if u[0]=='f': / u=c([u,u,'monkey'])«,50 in Carpenters »Gorge« übersetzt nach Javascript: »if ((words= ='forest')&&(rand_range(3)==1)) { / words='monkeys '+choose(trans);«.51 Da die Buchstabenfolge »forest« durch Carpenters »Gorge«-Code nicht erzeugt wird, sind diese Code-Zeilen funktionslos, aus technischer Sicht überflüssigerweise nach Javascript übersetzt. Marino liest in dieser Anomalie ein »Memento«, eine reflexive Code-Erinnerungsspur von Montforts Original.52 Diese Interpretation erscheint insofern plausibel, als Carpenter ihre programmierten Kunstwerke häufig mit reichhaltigen Codekommentaren und Quellenverweisen versieht (vgl. etwa den Quellcode des im Browser ablaufenden Gedichts »There he was, gone«).53 Flores wertet die »Taroko Gorge«-Remixes als Anzeichen eines Desinteresses der »dritten Generation« an Originalität.54 Wiederverwenden, Abwandeln und öffentliche Diskussion des Quellcodes eines digitalen Kunstwerks sind allerdings eine übliche Form der Hommage, des lebendigen Austauschs, wie etwa Amaranth Borsuks »Curt Curtal Sonnet Corona« (2020) zeigt, welches offen als Variante der Codebase von Montforts Pandemie-Gedicht »Sonnet Corona« (2020) firmiert.55