TEXT + KRITIK Sonderband - Digitale Literatur II

Text
From the series: Text+Kritik Sonderband
Read preview
Mark as finished
How to read the book after purchase
Font:Smaller АаLarger Aa

3 Aktualisierung als Verfahren: Julia Zanges »Realitätsgewitter« (2016)

Julia Zanges »Realitätsgewitter« führt die Produktivität der Aktualisierungsmodi digitaler Medien für das Erzählen vor und legt das Augenmerk insbesondere auf das Digitale als von außen intervenierender Impuls. Verstärkt wird dieser Eindruck durch das Erzähltempus Präsens, die Kürze der Sätze und einen parataktischen Stil. Der Roman, der von der Berliner Teilzeitkulturjournalistin Marla, ihrem Smartphone und ihrer Suche nach gelingenden Sozialbeziehungen handelt, ist ein erzählerisches Experiment mit von digitalen Medien induzierter Gegenwartsfixierung. Die Protagonistin ist einem »Realitätsgewitter« von Ereignissen ausgesetzt, Benachrichtigungen auf ihrem Smartphone treiben die Erzählung voran. Zukunft als Möglichkeitsraum gerät so gar nicht erst in den Blick.

»Realitätsgewitter« beginnt mit einem Facebook-Post – das erste Motto lautet: »The misappropriation of attention as care is a major existential problem of our time. / Deanna Havas, Facebook, 17 minutes ago, NY City«16. Das Statement der zum Erscheinungszeitpunkt als aufstrebende Netz-Künstlerin geltenden Havas signalisiert die ambivalente Haltung des Textes gegenüber digitalen sozialen Medien.17 Einerseits kann man den Verweis auf die Zweckentfremdung von Aufmerksamkeit als Anteilnahme als eine Folge digitaler Medien lesen, andererseits nutzt der Post Facebook als Reflexionsmedium. In einem zweiten Motto wird auf die digitale Verfasstheit des Manuskriptes für den Text verwiesen: »Die Datei ›Realitätsgewitter.doc‹ ist geschützt, da Sie sie in der letzten Zeit nicht geändert haben. Schutz aufheben? Abbrechen?«18 Damit wird der Text jenseits der Frage, ob er als gedrucktes Buch oder als E-Book gelesen wird, als digital markiert. Zudem verweist die Möglichkeit der Änderung wie die Zeitangabe im ersten Motto auf den Modus der Aktualisierung, der das Aktuelle permanent der Gefahr aussetzt, durch die nächste Version ersetzt zu werden.

Diese Spannung funktioniert als erzählerisches Prinzip des Romans: Die »EILMELDUNG: 80 Tote in Nizza bei Attentat mit LKW«19 beschäftigt die Protagonistin Marla gerade einen Satz lang, der über einen Vergleich des »Blau Nizzas mit den Bildern von Yves Klein«20 zu dem Video einer Yogalehrerin auf Facebook führt, in dem diese Argumente anführt, warum man am Meer leben sollte. Nach verschiedenen Versuchen der Protagonistin, ihre Einsamkeit über Facebook, Instagram und Tinder zu überwinden, steht am Ende des Romans »Gefühl 3«, ein neuer Zustand: »Wir haben eine Entscheidungsfreiheit, jede Sekunde. Das habe ich verstanden. Aber das Seltsamste, was jetzt passiert, ist, dass auf einmal Gefühl 3 auftaucht. Auf Höhe des Herzens gibt es jetzt eine Verbindung, ein Einverständnis.«21 Diese Entwicklung ist also weniger durch eine graduell entstehende Einsicht als durch ihre Plötzlichkeit gekennzeichnet, die durch die immer neuen Verweise auf den gegenwärtigen Moment deutlich markiert ist. Insgesamt kommt das Wort ›jetzt‹ auf 250 Seiten 152 Mal vor. Der Unterschied zum Beginn des Romans besteht in der Einsicht, dass auch der Modus permanenter Aktualisierung zumindest in begrenztem Maß Offenheit zulässt. Die Protagonistin kommentiert »Gefühl 3« mit den Worten: »Oh Gott, Marla, jetzt klingst du echt wie ein kitschiger Facebook-Eintrag.«22 Wie die sehr technisch klingende Unterscheidung der Gefühle durch Ordnungszahlen weist der Vergleich von »Gefühl 3« und einem Facebook-Post darauf hin, dass der Roman jenseits von simpler Medienkritik, die Vereinsamung durch soziale Medien beklagt, zu verorten ist, indem digitale Medien gerade als Reflexionsmöglichkeit eingeführt werden. Als plötzliche Intervention von außen können sie nicht nur Aufmerksamkeit ablenken, sondern auch Überlegungen anstoßen und die Gegenwart für Entscheidungsmöglichkeiten öffnen.

4 Gegenwart der Vergangenheit: Berit Glanz’ »Pixeltänzer« (2019)

Berit Glanz’ »Pixeltänzer« (2019) ist wie »Realitätsgewitter« eine Reflexion des Verhältnisses von ›digitaler Gesellschaft‹ und individuellen Handlungsmöglichkeiten. Der Roman setzt mit einer heterodiegetischen Erzählinstanz und dem Erzähltempus Präteritum auf eine konventionellere Anlage als »Realitätsgewitter«. Die Protagonistin Elisabeth, genannt Beta, ist »Junior-Quality-Assurance-Tester«23 bei einem Berliner Startup. Über eine App lernt sie einen geheimnisvollen Fremden namens Toboggan kennen. Toboggan bringt ihr die Geschichte des Hamburger Künstlerpaars Lavinia Schulz und Walter Holdt aus den 1920er Jahren näher. Im als digital inszenierten Textnetzwerk des Romans existieren zwei voneinander entfernte Zeiten gleichzeitig. Die beiden Erzählstränge sind von gleicher Aktualität und werden abwechselnd weitergeführt.

Die Offenheit des Romans für das Digitale und seine Inszenierung als Teil eines Textnetzwerkes entsteht nicht nur aus dieser Verknüpfung, sondern auch durch die Rahmung einzelner Textabschnitte. Einigen Kapiteln sind kurze Sequenzen Pseudoprogrammiercodes vorangestellt. Die folgende eröffnet den Roman:

// S-Bahn-Beobachtungs-Statement

if (IsSBahnAccelerating) {

currentSpeed++;

} else {

System.out.println(»Die Frau steht am

Fenster.«);

}24

Durch die Aufnahme von Elementen wie der S-Bahn und der am Fenster stehenden Frau, die im folgenden Kapitel eine Rolle spielen, wird der unmittelbare Zusammenhang des Pseudocodes und des folgenden Kapitels impliziert. Die Kapitel werden auf diese Weise als momenthafter Output des Codes inszeniert. Neben diesen Pseudocodeschnipseln gibt es weitere Kategorien von kurzen Texten, die die Kapitel einleiten: Erklärungen von Testverfahren und von IT-Projektmanagement-Techniken sowie Namen von W-LAN-Netzwerken.

Mit Toboggan kommuniziert Beta über einen fiktiven Blog. Die zum Buch unter toboggan.eu eingerichtete Website, auf die im Roman immer wieder verwiesen wird, nimmt einige Elemente dieses Blogs, etwa bestimmte Bilder, auf. Die Geschichte von Lavinia und Walter aus den 1920er Jahren entwickelt sich nach und nach an verschiedenen Orten im Netz parallel zur Handlung in der Erzählgegenwart. Am Ende hat die Protagonistin zusammen mit einigen befreundeten Kolleg*innen aus dem Startup einen App-Entwicklungswettbewerb gewonnen. Einerseits hat sie damit bessere Ausgangsbedingungen als Lavinia: »Wahrscheinlich hat sich Lavinia nach all den Dingen gesehnt, die wir gestern, ohne es zu wollen, gewonnen haben: Geld und einen angenehmen Platz zu arbeiten.«25 Andererseits wäre die expressionistische Künstlerin radikaler gewesen: »Lavinia hätte wahrscheinlich einfach gekündigt und ein Jahr lang nur altes Brot gegessen, aber vielleicht bin ich nicht so radikal oder eben doch zu ängstlich und zu gewöhnt an meinen Komfort.«26 Schließlich entstehen aus der Beschäftigung mit Lavinias Kunst eine Gruppe um die Protagonistin und die Inspiration für ein subversives App-Projekt, das sich gegen digitale Überwachungstechniken wendet.27 Am Ende von »Pixeltänzer« steht die Definition einer »Definition of Done«,28 die Teil einer bestimmten Art der Organisation von Arbeitsprozessen im IT-Bereich ist. Sie bildet die Schlusspointe des Romans – anstelle eines Endes steht die Definition eines Verfahrens zur Verbesserung der Kriterien für das Ende eines Arbeitsabschnittes. Die zentrale Frage nach dem Verhältnis von Autonomie und neuen Formen der Erwerbsarbeit, die in den beiden parallelen Erzählungen des Romans entfaltet wird, wird durch die »Definition of Done« pragmatisch beantwortet: An die Stelle einer Utopie tritt die stetige Verbesserung von Arbeitsprozessen. Auch Betas Handeln ist weniger von einem radikal utopischen Denken als von einem Pragmatismus geleitet. Nichtsdestotrotz hat sie, verglichen mit Marla aus Zanges »Realitätsgewitter«, deutlich mehr Handlungsspielraum. Mit Hilfe des Digitalen öffnet sich für sie ein Raum utopischen Denkens in der Vergangenheit, der in Bezug auf die Gegenwart aktualisiert wird. Dieser digital induzierte utopische Impuls ermöglicht schließlich eine kritische Reaktion auf digitale Überwachung, die sich selbst digitaler Mittel bedient.

5 Ruinen des Utopischen: Juan S. Guses »Miami Punk« (2019)

Im Zentrum von Juan S. Guses Roman »Miami Punk« steht Miami als drowning city unter umgekehrten Vorzeichen: Das Meer zieht sich zurück und hinterlässt eine wüstenähnliche Landschaft, noch die mehrere hundert Kilometer vor der Küste von Miami liegenden Bahamas-Inseln ragen als Gebirge aus einer Wüste. »Miami Punk« inszeniert eine dystopische und dabei kontrafaktische Vorwegnahme der Zukunft, die sich allerdings nur – und das ganz buchstäblich – auf ein Element bezieht. Verhandelt werden im Roman Zukunftserwartungen als Folge gegenwärtigen Handelns unter der Voraussetzung, dass diese Zukunftserwartungen nicht in Form individueller Entscheidungen und Lebensläufe ausgehandelt werden können, sondern immer schon in kollektive, mithin gesellschaftliche Prozesse eingebettet und verstrickt sind. Diese Zusammenhänge werden nicht nur in der Anlage des Romans, sondern auch in einer ganzen Reihe von Motiven diskutiert, die insbesondere den Komplex Dystopie-Utopie-Vergemeinschaftung betreffen. Dieser Komplex wird von Beginn an mit dem Digitalen assoziiert, wenn auf den Vorsatzseiten eine Karte der beschriebenen Welt aus ASCII-Zeichen gezeigt wird.

 

Der Rückzug des Meeres ist Ausgangspunkt des Erzählexperiments, das die Reaktionen verschiedenster Menschen auf diese Veränderung beobachtet. Staatlicherseits wird diese Aufgabe innerhalb des Romans von der »Behörde 55« übernommen, in der eine der Protagonist*innen, Daria Finkelhor, einen Teilzeitjob hat.29 Diese Behörde nimmt insbesondere die Vorgänge im »Rowdy Yates Komplex«, einem in die Jahre gekommenen, einst futuristischen Sozialbau, unter die Lupe, in dem sich verschiedene Gruppen organisieren, um auf den Rückzug des Meeres zu reagieren. Eine von ihnen sind die titelgebenden Miami Punks, die irgendwann die tiefer liegenden Teile des Gebäudes übernehmen und für die Behörde mehr und mehr zum zentralen Beobachtungsobjekt werden.

Die Motivkette Dystopie-Utopie-Vergemeinschaftung beginnt mit der Partie »Age of Empires II«, die die Protagonistin Robin zu Beginn des Romans spielt. Auch die nach dem Rückzug des Meeres entstehenden Kolonien arbeiten daran, in der Wüste zivilisatorische Errungenschaften von Grund auf neu aufzubauen. Sie setzt sich fort mit dem passagenweise auftretenden Ich-Erzähler, der an dem ›Counter Strike‹-Turnier teilnimmt und eine Habilitation über den poetischen Staat anfertigt.30 Sie findet sich auch im sogenannten »Kongress« im Rowdy Yates Komplex, wo ein Vortrag über die »Entwertung aller utopischen Versprechungen der Automatisierung menschlicher Tätigkeiten«31 gehalten wird, der unter anderem von einem »Bloch« diskutiert wird, der wiederum behauptet, »im Jahr 1885 geboren worden, aus Nazi-Deutschland nach Miami geflohen sowie der vielgeschätzte Autor des dreibändigen Buches ›Das Prinzip Hoffnung‹ zu sein«32. In diese Reihe gehört schließlich auch der »Rowdy Yates Komplex« selbst als sozialutopischer Entwurf.

Als Experimentalanordnung innerhalb des Romanexperiments erscheinen dann neben ›Age of Empires II‹ auch andere Computerspiele und Computerspielprojekte, die die Frage der Vergemeinschaftung auf allen Ebenen stellen: ›Age of Empires II‹ auf einer Makroebene und ›Counter Strike‹ durch die Fokussierung auf Teamdynamiken und die im Turnier auftretenden Glitches auf der Ebene kleinerer Gruppen. Über die Glitches heißt es: »So gab es z. B. zwei mehr o. weniger direkte Bezüge zu Miami (…) u. immer schien es entweder um eine Familie, eine Gruppe von Freunden o. um das Leben der Angestellten in den Büros von cs_office zu gehen.«33 Seinen Höhepunkt erreicht diese Verknüpfung von Computerspiel und Gesellschaftsreflexion schließlich in Robins nach Pierre Bourdieus Klassiker benanntem Spielprojekt »Das Elend der Welt«, über das es in einem Antragsschreiben heißt: »Anstatt, dass der Spielende in der Illusion lebt, auf sich ewig verzweigenden Pfaden zu wandeln, obwohl er in Wirklichkeit nur den vorgefertigten (…) Erzählbrotkrumen folgt, soll sich in ›Das Elend der Welt‹ eine Geschichte entfalten, die sich nicht aus der Deutungshoheit der Studios speist, sondern aus den Biografien der Spielenden selbst.«34 Die daraus folgende multiperspektivische Anlage des Spiels, die anstelle einer homogenen Erzählung viele heterogene individuelle Erzählungen spielbar macht, deutet auf die multiperspektivische Anlage des Romans – von der Nebenfigur Juan über die Passagen mit Ich-Erzähler bis zum »Katalog letzter Gedanken der fliegenden Dinge ohne Bedeutung«35 – mit seinen wechselnden Erzählformen, durch die Menschen und Dinge als gleichwertige Elemente innerhalb eines sozialen Systems dargestellt werden. In diesem Kontext positioniert der Roman verschiedene utopische Projekte, die weniger utopische Zukunft als Reste einer Vergangenheit sind, in der utopisches Denken noch möglich war. Dies gilt für den »poetischen Staat« genauso wie für den »Rowdy Yates Komplex« und die dort gehaltenen Vorträge. Auch die Weltentwürfe der Computerspiele lassen sich als ein Rest utopischen Denkens verstehen. Das literarische Programm des Romans orientiert sich dagegen eher an Bourdieus »Das Elend der Welt«: individuelle Stimmen in nicht-privilegierten Positionen zum Sprechen zu bringen.

6 Rückzug ins Private: Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020)

Im Gegensatz zu »Miami Punk« fokussiert Joshua Groß’ »Flexen in Miami« (2020) nicht eine Gesellschaft als Gesamtzusammenhang, sondern ein einzelnes Subjekt, den Stipendiaten Joshua. Noch deutlicher als bei Guse spielt bei Groß die Ästhetik und Musik des Post internet-Genres Cloud Rap eine Rolle.36 Erkennbar wird dies unter anderem an all den lilafarbenen Dingen im Roman: ein Poloshirt, ein Tesla, die Nacht, die Drogen, Laserstrahlen, Treppen und vor allem und immer wieder der Himmel und die Wolken.37 Der Protagonist Joshua ist sich seiner Verstrickung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge bewusst: »Ich war (…) ein bleicher Nachkömmling westlicher Ausbeutermentalität; und einer Ignoranz, die mich täglich trug und infiltrierte, die ich erduldete, die ich notgedrungen mein ganzes Leben lang verkörpern würde, mit all ihren Konsequenzen, mit all meiner Scham, mit all ihrer internalisierten Zerstörungswut und Übergriffigkeit. Ich würde mich davon nie vollständig befreien können.«38 Dass der Protagonist Joshua heißt, markiert zugleich auch das Bewusstsein des Autors dafür, dass er aus einer spezifischen Position spricht. Der durch eine Drohne versorgte und überwachte Protagonist ist auf der Suche nach widerständigen Praktiken gegen den digitalen militärisch-ökonomischen Komplex. Schon die ersten Sätze kündigen das an: »Ich ahnte überall Glitches, das geht zurück auf meine Mutter. Ein Misstrauen gegenüber dem Wirklichen, eine parawissenschaftliche Wachheit bezüglich der Instabilität. Ich wurde von Immersionen gemartert und meine eigene Existenz war eine entsetzliche Mühsal. Deshalb rauchte ich so viel Marihuana.«39 Darin drückt sich einerseits die Hoffnung aus, durch Bewusstseinserweiterung einen Blick auf die Bruchstellen der Realität zu erhaschen und so die diese beherrschenden Kräfte bestimmen zu können. Andererseits wird Joshuas Leben als eine Außenseiterexistenz markiert, die von den Nebenwirkungen jener Bewusstseinserweiterungen beeinträchtigt ist.

Neben seinem Drogenkonsum kann auch das Computerspiel ›Cloud Control‹ in diesen Zusammenhang gestellt werden. Wie die Drogen führt auch ›Cloud Control‹ zu einer Verzerrung realer Verhältnisse: angefangen mit seinem Avatar – »1,93 Meter groß, rosa Locken, in den Augen Polarlichter, Thug Life-Tattoo auf dem Bauch«,40 eine Kompassqualle als Begleiterin – bis zur Funktionsweise des Spiels, das sich aus dem digitalen sozialen Netzwerk seiner Spieler*innen generiert. Gegen Ende, der Rapper Jellyfish P spielt mit Joshuas Account, teilt ihm dieser mit: »Die Qualle sagt: Immunisiere dich und beende den Austausch mit den Apparaturen der Macht. Sie sagt: Entwickle andere Formen der Abweichung. Sie sagt: Du bist mehr als die Widerstände in dir.«41 P reagiert darauf, indem er seine Doppelgänger, die im Spiel immer häufiger auftauchen, brutal massakriert. Joshua hingegen kommt zur Einsicht, »dass es mir eigentlich die ganze Zeit egal gewesen war, wer die Drohnen geschickt hatte, um mich zu überwachen; ich hatte nur wissen wollen, ob es tatsächlich möglich war, dass ich all das – diese abseitige, wundersame Existenz – aushielt und weiterführte.«42 Sein Ziel ist schlussendlich also nicht Kritik und Überwindung der herrschenden Verhältnisse, sondern ein erträgliches Leben. Im Epilog deutet sich an, wie dieses Leben aussehen könnte: eine familienähnliche Gemeinschaft mit Jellyfish P, dessen Entourage sowie einem Kühlschrank, der Joshua über den Roman hinweg ein fürsorglicher Begleiter ist, und seinem im Lauf des Romans gezeugten Kind. Anstelle eines Aufbegehrens gegen digitale Überwachung, wie sie Beta in »Pixeltänzer« zumindest ankündigt, steht im Fall von Joshua der Rückzug ins Private der Kommune mit Kühlschrank.

7 Die Zukunft der Gegenwart

Augenfällig wird in diesen Romanen erstens, dass das Digitale ganz ähnlich wie in der soziologischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft bei Nassehi, Stalder und Baecker nicht nur im Bereich des Technischen verortet wird, sondern dem Sozialen grundlegend eingeschrieben ist. Zweitens wird wie in den soziologischen Positionierungen der postdigitale Zustand mit einer spezifischen Konstellierung der Zeitformen verbunden: Die Gegenwart rückt ins Zentrum, Zukunft fällt als Möglichkeitsraum aus und wird tendenziell als krisenhaft erfahren. Das heißt nicht, dass die literarischen Texte die soziologische Theorie illustrieren, sondern vielmehr, dass sie den gleichen Problemzusammenhang bearbeiten. Indem sich die Texte auf verschiedene Weise als digital inszenieren, verweisen sie auf das Digitale als Voraussetzungen des Schreibens und der beschriebenen Welten.

Das Digitale wird als die Autonomie von Subjekten einschränkendes und deren Handlungsmöglichkeiten bestimmendes Element erzählt. Diese Einschränkung der Handlungsmöglichkeiten leitet sich bei Zange in »Realitätsgewitter« von einer Inszenierung des Digitalen als von außen intervenierende Kraft ab, die das Handeln der Protagonistin leitet. Glanz stellt in »Pixeltänzer« wie Zange die Frage nach der Autonomie, jedoch als Frage nach selbstbestimmten Formen des Arbeitens. Bei beiden hat das Digitale sowohl restringierende als auch ermöglichende Funktion. Die finale Selbsterkenntnis bei Zange und die subversive App bei Glanz wären ohne Digitaltechnik nicht zustande gekommen. Dass jeweils die Stadt Berlin als Schauplatz gewählt und entsprechende Wirklichkeitsreferenzen integriert werden, verortet die beiden Romane in der Jetztzeit. Die Romane bieten realistische Erzählungen und nehmen vor allem die unmittelbare Gegenwart als Handlungszeit in den Blick.

Berlin steht für die Fokussierung von Gegenwart, Miami dagegen für eine Zukunft, die nur als in der Gegenwart zu bearbeitende Krise gedacht werden kann. Im Unterschied zu den Romanen von Zange und Glanz kreisen »Miami Punk« und »Flexen in Miami« nicht um Möglichkeiten einer Souveränität des Subjekts gegenüber einer digitalen Kontrollgesellschaft, sondern fokussieren diese ausgehend von der Einsicht, immer schon in sie verstrickt zu sein, wobei Armen Avanessians »Miamification« (2017) als ein zentraler Referenztext dient.43 Miami steht weniger für die reale Stadt in den USA, sondern für eine bestimmte Zuspitzung westlicher Lebensverhältnisse: Hier sehen sich Hyper-Kapitalismus und Strandidylle unmittelbar der Bedrohung durch die Klimakrise gegenüber. Guse konstelliert an diesem Ort verschiedene Formen, Gesellschaft und Gemeinschaft zu konzipieren, Groß findet sein Utopia in einem Rückzug in eine Kommune, wohlgemerkt nicht in Miami, sondern in Atlanta, was man im Kontext des Utopie-Diskurses als Anspielung auf das mythische Inselreich Atlantis lesen kann. Beide Romane versuchen ein utopisches Denken nach der Kolonisierung der Zukunft durch algorithmische Vorhersagen. Zange, Glanz, Guse und Groß rekurrieren mit jeweils unterschiedlicher Akzentuierung auf die Gegenwartsfixierung der ›digitalen Gesellschaft‹ einerseits und den Entfall der Zukunft als Möglichkeitsraum andererseits. Aus diesem Grund sind sie Teil einer postdigitalen Gegenwartsliteratur.

1 Der Aufsatz ist im Rahmen des Forschungsprojekts »Schreibweisen der Gegenwart. Zeitreflexion und literarische Verfahren nach der Digitalisierung« entstanden, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 426792415. Der Verfasser dankt den Kolleg*innen aus dem Projekt für Anregungen und Diskussionen. — 2 N. Katherine Hayles: »Electronic Literature. New Horizons for the Literary«, Notre Dame, Ind. 2008 S. 159. — 3 Vgl. Kathrin Passig / Aleks Scholz: »Schlamm und Brei und Bits. Warum es die Digitalisierung nicht gibt«, in: »Merkur« 798 (2015), S. 75–81, hier S. 75. — 4 Florian Cramer: »What is Post-Digital?«, in: David M. Berry / Michael Dieter (Hg.): »Postdigital Aesthetics. Art, Computation and Design«, Basingstoke 2015, S. 12–28, hier S. 20. Vgl. Felix Stalder: »Kultur der Digitalität«, Berlin 2016, S. 18 f. — 5 Jessica Pressman: »The Aesthetic of Bookishness in Twenty-First-Century Literature«, in: »Michigan Quarterly Review« XLVIII:4 (2009), http://hdl.handle.net/2027/spo.act2080.0048.402 (1.1.2021). — 6 Alexander Starre: »Buchwerke. Paratext und post-digitale Materialität in der amerikanischen Gegenwartsliteratur«, in: Lutz Danneberg / Annette Gilbert / Carlos Spoerhase (Hg.): »Das Werk. Zum Verschwinden und Fortwirken eines Grundbegriffs«, Berlin, Boston 2019, S. 169–190, hier S. 174. — 7 Vgl. Annette Gilbert: »›Möglichkeiten von Text im Digitalen‹. Ästhetische Urbarmachung von korpuslinguistischen Analysetools und Bots in der generativen Literatur der Gegenwart am Beispiel des Textkollektivs 0x0a«, in: »Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte« 91, 2 (2017), S. 203–221 und Hannes Bajohr: »Infradünne Plattformen. Print-on-Demand als Strategie und Genre«, in: »Merkur« 800 (2016), S. 79–87. — 8 Vgl. Starre: »Buchwerke«, a. a. O., S. 173; Bajohr: »Infradünne Plattformen«, a. a. O., S. 79 f. sowie Elias Kreuzmair: »›The digital revolution is over‹. Ein Blick auf die deutsche Gegenwartsliteratur nach der Digitalisierung«, in: Logbuch Suhrkamp, 31.8.2016, www.logbuch-suhrkamp.de/elias-kreuzmair/the-digital-revolution-is-over/ (1.1.2021). — 9 Armin Nassehi: »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft«, München 2019 (E-Book), Kap. Einleitung. — 10 Stalder: »Kultur der Digitalität«, a. a. O., S. 18. — 11 Vgl. Passig / Scholz: »Schlamm und Brei und Bits«, a. a. O. — 12 Stalder: »Kultur der Digitalität«, a. a. O., S. 149. — 13 Nassehi: »Muster«, a. a. O., Kap. 7: Das Internet als Massenmedium. — 14 Dirk Baecker: »4.0 oder Die Lücke, die der Rechner lässt«. Leipzig 2018, S. 86. — 15 Vgl. etwa Hans Ulrich Gumbrecht: »Unsere breite Gegenwart«, Berlin 2010, Douglas Rushkoff: »Present Shock. When Everything Happens Now«, New York 2013 oder Marcus Quent (Hg.): »Absolute Gegenwart«, Berlin 2016. Dazu Eckhard Schumacher: »Present Shock. Gegenwartsdiagnosen nach der Digitalisierung«, in: »Merkur« 826 (2018), S. 67–77. — 16 Julia Zange: »Realitätsgewitter«, Berlin 2016, S. 6, Hervorhebung im Original. — 17 Havas ließ auf sozialen Medien in der Folge, ungefähr ab 2017, zunehmend Sympathien für rechtsextreme und antisemitische Positionen erkennen und hat ihre öffentliche künstlerische Tätigkeit weitgehend eingestellt. Mit Julia Zange existiert eine Folge des Podcasts »60HZ« aus dem Jahr 2016: Berlin Community Radio: 60HZ – Easter Special – Julia Zange talking with artist Deanna Havas about Cosmic Latte, in: »60 HZ«, März 2016, https://www.mixcloud.com/BCR_Radio/60hz-easter-special-julia-zange-talking-with-artist-deanna-havas-about-cosmic-latte/ (1.1.2021). — 18 Zange: »Realitätsgewitter«, a. a. O., S. 6. — 19 Ebd., S. 128. — 20 Ebd. — 21 Ebd., S. 152, Hervorhebungen E. K. — 22 Ebd., S. 152. — 23 Berit Glanz: »Pixeltänzer«, Frankfurt / M. 2019, S. 10. — 24 Ebd., S. 7. Die Anordnung der Zeilen ist dem Original nachempfunden, jedoch nicht ganz deckungsgleich. — 25 Ebd., S. 234. — 26 Ebd., S. 237. — 27 Vgl. ebd., S. 246. — 28 Ebd., S. 250. — 29 Vgl. Juan S. Guse: »Miami Punk«, Frankfurt / M. 2019, S. 115. — 30 Vgl. ebd., S. 32. — 31 Ebd., S. 334. — 32 Ebd., S. 336. — 33 Ebd., S. 536. — 34 Ebd., S. 209. — 35 Ebd., S. 144, 255, 343, 444 und 586, Hervorhebung im Original. — 36 Vgl. dazu Miryam Schellbach: »Das digitale Leben als literarisches Motiv«, in: »FAZ.net«, 25.5.2020, unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/themen/wie-das-digitale-leben-zum-literarischen-motiv-wird-16767835.html (1.1.2021) sowie Niklas Maak: »Im Kunstfaserland«, in: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung« 25 (2020), 21.6.2020, S. 41. Wichtige Referenztexte sind in diesem Zusammenhang die Anthologie »Mindstate Malibu« (hg. von Joshua Groß u. a., Fürth 2018) und Armen Avanessians »Miamification« (Leipzig 2017). — 37 Vgl. auch Schellbach: »Das digitale Leben als literarisches Motiv«, a. a. O. — 38 Joshua Groß: »Flexen in Miami«, Berlin 2020, Kap. 5 (E-Book). — 39 Ebd., Kap. 1. — 40 Ebd., Kap. 4. — 41 Ebd., Kap. 24. — 42 Ebd., Kap. 25. — 43 Vgl. etwa das direkte Zitat in »Miami Punk«, a. a. O., S. 193 f. Es findet sich in Avanessian, a. a. O., S. 53.