Alle meine Kleider

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Alle meine Kleider
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Reihe zu Klampen Essay

Herausgegeben von

Anne Hamilton

Hannelore Schlaffer,

Jahrgang 1939, lebt als freie Schriftstellerin und Publizistin in Stuttgart. Von 1982 bis 2006 war sie außerplanmäßige Professorin für Neuere deutsche Literatur an den Universitäten Freiburg und München. Sie schreibt regelmäßig für Tageszeitungen und Rundfunkanstalten und hat Bücher und zahlreiche Aufsätze vor allem zur Literatur der deutschen Klassik und Romantik sowie mehrere Essaybände vorgelegt. Zuletzt sind von ihr erschienen »Die intellektuelle Ehe«. (2011) und bei zu Klampen der Essayband »Die City. Straßenleben in der geplanten Stadt«, für den sie den Preis »Das politische Buch des Jahres 2014« der Friedrich-Ebert-Stiftung erhielt.

HANNELORE SCHLAFFER

Alle meine Kleider

Arbeit am Auftritt


Inhalt

Cover

Reihe zu Klampen Essay

Titel

Der Auftritt

Der Spiegel

Das Ideal

Reden und Schweigen

Kriegerische Engel

Erinnerung

Hutkoffer und Stahlhelm

Der Stiefelknecht

Der Faltenrock

Der Radrock

Der rote und der grüne Rock

Lust und Unlust

Haare

Unterwäsche

Hose und Schuh

Stoffe

Out

Die Randfigur

Das Schreckgespenst

Verirrte Ideale

Impressum

Der Auftritt

Der Spiegel

IM Foyer des Hotels »Forum« in Rom dienen antike Säulen als Träger für die Decken, auch einige Fundstücke aus den nahe gelegenen Ausgrabungsstätten liegen in Vitrinen. Die Frauen, die, aus der Hitze hereinkommend, die kühle Halle betreten, haben kein Auge für diese Antiken, derentwegen sie doch angereist sind. Alle, ob schön oder unschön, ob jung oder alt, erweisen einem Spiegel ihre Reverenz, einem bräunlich nachgedunkelten Glas, das nahe dem Eingang der Halle angebracht ist und bis zum Boden reicht. Die jungen Frauen, die viel Mühe an ihren Auftritt gewandt haben, bleiben gar stehen, zupfen an einem Schal, den sie um die Schulter geschlungen haben, richten, obgleich sie doch hereingekommen waren, um sich auszuruhen, kurz vor der Siesta noch ihr Haar, wenden den Kopf, um sich von hinten zu sehen, straffen Rücken und Brust. Keine kommt unbeobachtet durch sich selbst an diesem Spiegel vorbei – keine! Ein Unglück: denn müssten diese Frauen zupfen und sich strecken, wenn sie mit sich zufrieden wären? Warum der besorgte Blick in den Spiegel? Keine bleibt freudig überrascht stehen, keine blickt sich selig lächelnd ins eigene Angesicht, keine lässt den Blick bewundernd auf sich ruhen – keine!

Der Spiegel ist Hoffnung und Enttäuschung allen weiblichen Aufwands für die Erscheinung. Auf jeden Spiegel schreiten die Frauen hoffnungsvoll zu, von jedem wenden sie sich enttäuscht ab. Die Prüfung kann, leider, gar nicht anders ausgehen als so. Im Spiegel ist das beseelte Wesen, das ihm entgegenschwebt, nichts weiter als eine von bleicher, kalt glänzender Leere umrahmte Kontur; hart und exakt setzt sich diese von der mit Silber hinterlegten Glasscheibe ab. Außerdem erstarrt, wer gerade noch in Bewegung war, sobald er vor dem eigenen Bildnis steht – ein Schattenriss mit steifen Bewegungen glotzt ihm entgegen. Zwar kann man sich im Spiegel sehen, von oben bis unten, nur eines bedenkt man nie, das eigene Auge: Was man, und schaute man noch so oft in den Spiegel, am wenigsten kennt, sind die eigenen Augen. Selbst wenn man sich einmal bewusst auf sie konzentrierte, man sähe sie nie in Bewegung, nie voll Ausdruck, nie voll Empfindung. Den zugewandten Blick, den man mit anderen tauscht, den verständigen mit Bekannten, den freundlichen mit Freunden, den innigen mit Vertrauten – nie tauscht man ihn mit sich selbst. Immer bleiben die Augen, die aus dem Spiegel heraussehen, starr auf den Menschen gerichtet, der vor ihm steht, den Auftritt prüfend, fragend höchstens und flehentlich hoffend auf ein gutes Urteil.

Im Spiegel tritt man sich als Kritiker gegenüber, immer, nie als Freund, und wie jeder Kritiker zerlegt man sich in Details, spioniert das Gesicht aus, prüft den Teint, die Frisur, das Kleid und die Figur, die man aus alledem hergestellt hat – denn: hat man überhaupt eine Figur ohne Kleid? Jede Falte, jede Farbe verändert die Gestalt. Die Maler wissen es, wie leicht durch einen einzigen Strich ein Charakter, die Fotografen, wie einfach durch eine Geste, eine Drehung aus dem Komiker ein Melancholiker, aus der Dame eine Marketenderin zu machen ist. Auch Kinder lernen dies an Klapp- und Kippfiguren, wie allein durch das Umblättern und mit einem einzigen Handgriff eine optische Inversion der Figur zu bewirken und aus der alten eine neue zu zaubern ist. Als Kippfigur erlebt sich jede Frau, die in den Spiegel schaut: Einmal ist sie die, einmal jene. Ein Chamäleon ist es, was ihr aus dem Spiegel entgegenblickt, und dieses hat kein endgültiges Aussehen. Nichts von alledem ist so, wie erwartet, nicht so, wie es gedacht war, und selbst, wenn es so wäre, hätte die Frau nichts davon, denn sie selbst sieht die Komposition als Ganzes im Spiegel nie. Der Körper ist eine Summe aus Raum, Zeit, Volumen und Bewegung. Die Zeitlichkeit zumindest der Erscheinung kann der Spiegel nicht fassen. Das Ich in der Zeit, das sich im Auge des Mitmenschen beweglich entfaltet, steht im Spiegel still. Das Spiegel-Ich ist ein scheintotes Ich.

Welch ein Unglück also für Frauen, dass sie dem Ich, das auf der Spiegelfläche keinen Boden unter sich hat, so oft als ihr Ebenbild gegenübertreten, das ihr Ebenbild gar nicht ist! Sie, die Kritikerinnen, stehen auf dem festen Boden der Kennerschaft und verfügen, was die Ästhetik des weiblichen Auftritts betrifft, über Grundsätze. Sie akzeptieren dies Spiegelbild, das Nicht-Ich, als ihr Ich und stellen sich diesem als die Andere gegenüber. Den Verdacht, das Spiegelbild könne nicht die volle Wahrheit sagen, weisen sie zurück, denn nun ist Erscheinung, was für das innere Auge nie da war – und das Sichtbare überzeugt stets mehr als Entwurf und Gedanke. So bleibt der stillgestellte Spiegelkörper die einzig mögliche Wahrnehmung vom Ich und seinem Auftritt – und so muss das Spiegelbild recht bekommen.

Nur eine einzige Frau habe ich kennengelernt, die ihr Bild und sich selbst im Spiegel genoss: Nana. Diese Szene in Zolas Roman, nackt vor dem Spiegel ihres Schlafzimmers, ist die aus allen Werken Zolas am häufigsten zitierte Stelle, denn eine pikantere lässt sich kaum denken. Was aber Männer als Frivolität erleben oder, um es von sich abzurücken, als Kitsch verurteilen, beschreibt die Utopie des weiblichen Daseins: die glückliche Begegnung mit dem eigenen Körper. Das Einverständnis mit dem erscheinenden Selbst, das, wie bei Nana, zur Gesprächspartnerin wird, jede Geste wiederholt und einverständig beantwortet – das Ich als Freundin! Mit ihr führt Nana ein Gespräch, in dem die Sinnlichkeit Thema ist, die Geschlechtlichkeit aber ganz vergessen. Nana stammt nicht aus der Rippe des Adam, sie ist auch nicht dem Haupt des Zeus entsprungen, sondern dem eines Psychologen, dessen Scharfsicht ihn zum Romancier bestimmte. Die weibliche Sensibilität, die sich ihrer selbst im 19. Jahrhundert bewusst wurde, die Erkenntnis, dass der Charakter der Frau aus mehr besteht als aus Keuschheit oder Unkeuschheit, ist die Voraussetzung dafür, dass Zolas Figur denkbar wurde: die Frau, die ihre Geschlechtlichkeit vermietet und ihre Sinnlichkeit für sich behält. Nana, die ihren Körper opfert, ist wie ein Antiquar oder Kunsthändler, der seine über alles geliebten Bücher, Bilder, Möbel an zahlungskräftige Snobs verkauft.

Übrigens haben auch Spiegel ihre Launen. Nicht jeder wirft von einer und derselben Figur immer ein und dasselbe Bild zurück: Je nach Schliff und Hintergrundbeschichtung des Glases schneidet der eine Spiegel tausend Furchen ins Gesicht, der andere glättet es, der eine längt die Figur, ein anderer zieht sie in die Breite. Modegeschäfte, die wissen, dass glückliche Kundinnen leichter kaufen, achten darauf, dass ihre Spiegel sie schlanker aussehen lassen, als sie es wirklich sind. In der Anprobekabine entsteht, umstellt von mehreren, auf die Längung des Körpers geschliffenen Spiegeln, ein halbwegs gnädiger Eindruck von der eigenen Figur. (Vor allem erhascht die Käuferin, die noch zögert, in diesem Spiegelkabinett einen überraschenden Blick auf ihre Rückseite, die für die heutige Hosenträgerin eigentlich wichtiger ist als das Gesicht. Für Momente richtet sie ein männliches Auge auf sich, sie sieht, was an ihr das Verführerischste ist, und die Plötzlichkeit dieser Erscheinung kann für Augenblicke die Selbstkritik vergessen machen.)

 

Der Spiegel im römischen Hotel, betrachtet von meinem Sessel im Foyer aus, hatte die bräunliche Färbung des hohen Alters, und so mag er im mediterranen Dämmer des Innenraums ein gar nicht so schlechtes Abbild, ein romantisch verdunkeltes, zurückgeworfen haben. Ich selbst blickte in diesen Spiegel nie, wie ich nach Möglichkeit in gar keinen Spiegel blicke. Spiegel suche ich stets zu meiden. In der Stadt, in der ich wohne, kenne ich jeden Ort, wo einer lauert, und wenn ich mich ihm nähere, strafe ich den Missgünstigen mit Verachtung: Ich lasse mir doch nicht schon wieder, sage ich zu ihm, die Stimmung verderben. Es gab eine emanzipierte und gescheite Frau in meiner Umgebung, die ihr gesamtes Haus, jede Ecke, wo es nur eben ging, das Treppenhaus, die Gänge, die Zimmer mit Spiegeln tapezierte. Sie war einer der unglücklichsten Menschen, die ich kannte. Wenn ich mit ihr in einem Restaurant beim Abendessen saß, lief sie jede Stunde zur Toilette, um in den Spiegel zu sehen und festzustellen, dass so vieles in ihrem redseligen Gesicht nicht mehr stimmte, sie sich also aufs neue zu schminken habe – eine Frau, die ihrem Spiegelbild mit Mühe nur und nicht allzu lange entkommt, ist das tragische Gegenbild der Nana.

Die Kosmetik, die dieser Freundin zu Recht eine unzuverlässige Helferin und in ihrer Wirkung sehr vergänglich zu sein schien, ist allerdings der wahre Unglücksträger der weiblichen Aufmachung, da sie die Frau unweigerlich an den Spiegel verweist. Wer sich nicht zu seinem Naturgesicht bekennt, ist täglich auf ihn angewiesen. Auf jeden Fall schaut man nur in ihn hinein, um Fehler zu entdecken und zu korrigieren – warum sonst bräuchte es Kamm, Creme, Pinsel, Make-up! Also kann der Blick in den Spiegel nichts als Unzufriedenheit auslösen. Mit dieser Korrektur der Schöpfung, die man sich allmorgendlich, allabendlich und vor jedem Ausgang anmaßt, konzentriert man sich auf den lebendigsten Teil des Menschen, auf jenen, der in jeder Minute, in jeder mimischen Nuance über alles, was Mode ist, hinausreicht. Dieser Lebendigkeit begegnet der Spiegel mit einer Grimasse. Um allerlei Farbe auf die kleine Fläche des Gesichts aufzutragen, muss man Gesichter schneiden, Augen aufreißen oder zwinkern, den Mund verzerren und sich an der Nase herumführen wie ein Narr. Aus diesem Ritual soll eine Göttin entstehen?

Seltsamerweise hat der Spiegel zu Hause, vor dem ich mich schminke, dann doch einen Freundschaftspakt mit mir geschlossen. Bin ich fertig mit der Maquillage und nehme ein wenig Abstand von ihm, so sagt er doch tatsächlich, wenngleich zögernd: »Na ja, es geht!« Habe ich den Freundlichen, Gnädigen verlassen und schlendere unvorsichtigerweise vor einem fremden Spiegel mitten in mein Abbild hinein, so springt mir doch schon wieder dies Medusenhaupt entgegen. Wieder laufe ich herum mit dem Gefühl der bösen Schwiegermutter unter lauter Schneewittchen.

»Wer ist die Schönste im ganzen Land?« – diese Frage ist das Motto eines jeden Spiegels. Wenn ich ein Kleid erwerbe, ist es noch immer die Kreation eines Modedesigners, zu dessen Einfall und Kunst ich ja oder nein sagen darf, die Schöpfung eines anderen, deren Erwerb freudige Hoffnungen weckt; es ist etwas anderes als ich und die Haut, die es umhüllen soll. Es hat einen Stoff, der mir gefällt, Farbe, Machart – aber alles dies ist nicht von mir erdacht, ich habe keine Verantwortung dafür, es ist ein Geschenk für mich. Dies gottgegebene Antlitz aber kann nicht verkleidet, nicht interpretiert werden wie die Figur, zu der das Kostüm einen Charakter hinzufügt, es soll vielmehr neu erschaffen werden – und welcher Gott würde eine solche Anmaßung nicht bestrafen!

Spiegel sind Werkzeuge. Das vom metallischen Glanz umrahmte Abbild, das darin erscheint, will bearbeitet sein, um endlich so zu erscheinen, wie man im Auge der anderen zu erscheinen hofft. Der Spiegel ist eingesetzt als Stellvertreter des fremden Auges und akzeptiert als Autorität. Das Auge aber, dem man auf der Straße begegnet, hat andere Formen der Reflexion als der Spiegel an der Wand. Die Widerspiegelungen aus diesem fremden Auge setzen sich zudem in die Reaktionen des Gegen über um, die mimischer, tänzerischer, musikalischer Art sind; sie müssen erahnt oder interpretiert werden. Man erkennt sich im Schauspiel der anderen, in ihren Mienen, Worten, im Ton ihrer Stimme. Dies lenkt, anders als beim quecksilbrigen Spiegel, die Beobachtung zunächst einmal ab vom eigenen Ich. Nun wird die Lust, sich zu kleiden, an der Reaktion des andern überprüft und, wie bei jeder Inszenierung, fürchtet sich der Regisseur vor der Kritik. Schaut der andere etwa gar nicht her? Oder reißt es ihn herum? Parkt er gar sein Auto an der Ecke und läuft der modischen Schöpfung nach, oder kümmert sich niemand um das, woran mir so viel liegt? Sagt der andere ein Wort wie jener Geschäftsmann in Frankfurt, der die Frau im Minirock auf Plateausohlen – höher, kürzer, bunter ging es nicht – als »Nonplusultra« titulierte? Oder verharrt er im Nachdenken über seine Geschäfte und bleibt stumm?

Überhaupt das Wort, dieser akustische Spiegel, in dem zu erscheinen man bänglich hofft, ist der allertückischste. Man traut ihm, anders als der Erscheinung im Spiegel, eben doch nicht. Auch der Spiegel der Worte verzerrt das Bild; er lässt es zu Satzfetzen zusammenschrumpfen, die meist wohlwollend sind und gerade deshalb nur Misstrauen provozieren. Sagt einer: »Sie sehen heut’ aber gut aus«, so weiß man – oder weiß nur ich es? –, dass ich an anderen Tagen nicht gut aussehe; warum sonst hätte das bessere Aussehen eigens bemerkt werden müssen! Sagt einer: »Das ist aber eine originelle Jacke«, höre ich heraus, dass ich sonst nur Kittel trage. Sagt meine Schulfreundin beim Klassentreffen nach vierzig Jahren: »Du hast einen knackigen Hintern«, dann denke ich: O Gott, was meint die wohl zu meinem Vorderteil, über das sie schweigt. Schwärmt ein Philosoph in Tübingen: »Wie froh bin ich, wieder einmal in ihre aquamarinblauen Augen zu sehen«, dann weiß ich, dass ein homosexueller Mann einer Frau gegenüber stets übertreibt und dass ein Philosoph mit der Poesie nur ironisch umspringt. Also: das Kompliment – auch das taugt nicht als verlässlicher Spiegel! In jedem Kompliment entdecke ich nichts als den Hohn auf die Bitte: Seht mich an! Zu angemessenem Lob für das Ideal, dem man zustrebt, wäre höchstens ein Petrarca fähig, mit einem Canzoniere voller Anbetung:

Ihr Lichter auserlesen:

Euch selbst zu sehn zwar bleibt euch vorenthalten:

Doch kehrt ihr euch zu mir, so könnt ihr lesen

Im Spiegel eines andern euer Wesen.

Wenn so vor euch zutage

Die göttlich-unglaubliche Schönheit läge,

Wie sie vor jenem liegt, den sie fast blendet:

Die Freude überwöge

Des Herzens Maß. (LXXI)

Das Ideal

ES war in Wien, etwa um 1970, in einem vornehmen und stimmungsvoll beleuchteten Restaurant. Da habe ich das Ideal erblickt, vor mir betrat es den Speisesaal. Eine junge Frau, schön auf jeden Fall, aber das war nicht wichtig, schlank; das war schon eher wichtig; in Seide gekleidet, das war sehr wichtig; elfenbeinfarben und lang das Gewand, das war der eigentliche Effekt. In solch melodiöser Farbe und weicher Stofflichkeit illuminierte die Gestalt das Lokal und stellte alles in den Schatten, was ihr folgte. Über dem Arm trug »das Ideal« – so hieß die Figur von nun an bei mir – einen Schal aus dem Stoff ihres Kleides. Den ließ sie über den Boden schleifen, eine Schleppe, die sie nachlässig trug – es war niederschmetternd.

Kurz nach meinem Aufenthalt in Wien besuchte ich das Kloster Hirsau in der Nähe von Calw. In diesem war ein Kindergarten untergebracht. Als ich in einem meiner knöchellangen Glockenröcke, altrosa mit weißen Punkten – etwas naiv, wenn er nicht auch noch ein wenig durchsichtig gewesen wäre –, durch das kleine Pförtchen schritt, das Gebäude und Garten von der Straße trennte, riss, als er mich sah, ein kleiner Junge die Augen auf, machte einen Luftsprung und rief: »Ui! Da kommt eine moderne Dame!« Diesen Ausruf habe ich in Wien nicht getan, auch nicht gedacht, aber erlebt: Wien war vom Moment der Begegnung an nur noch Dame für mich: aristokratisch und modern, nonchalant und modisch, stolz und noch dazu wirklich. Wien war Adel und Elfenbein.

Dieses Image stand Wien gut und hätte mich beglückt, wenn nur ich nicht gewesen wäre, dieses mir unbekannte Wesen, das sich selbst nicht sah und durch die Erscheinung zum Verschwinden gebracht worden war. Die zwei, ich und das »Ideal«, wir waren unvereinbar wie Schatten und Schimmer. Ich stand im Dunkel, die andere stand im Licht. Der soziale Unterschied ist unter Frauen ein ästhetischer; schon immer konnte eine Babette eine Marquise, eine Christiane eine Charlotte in den Schatten stellen. Ich gehörte in diesen Tagen in Wien ganz eindeutig zur ästhetischen Unterschicht.

Dieses Erlebnis – eine Erfahrung war es nicht, sonst wäre sie ins Selbstbild einzuordnen gewesen –, dieses Erlebnis war nicht neu für mich; früher hatte es Carola geheißen: Die große Blonde mit den braunen Stiefeln, diesem lauten Schuhzeug, das in den sechziger Jahren eine Novität war und mir so herrisch in den Ohren klang und das Selbstbewusstsein zerhämmerte.

Der Schrecken vor dem Auftritt der anderen Frau gehört zu den rites de passage des weiblichen Daseins. Ein Mädchen bewundert in früher Jugend, in der Pubertät viele Frauen; eine Zeitlang sind sie Stellvertreter des eigenen Ich. Diese Verehrten leben – meist – nur auf Papier oder Zelluloid. Erst wenn die Bewunderte ins Leben tritt, ist sie nicht mehr das Ich, das sich in ihr beschaut und genießt. Dann ist sie anders und wirklich die andere. Entweder wird sie Freundin und geliebt oder Konkurrentin und kaltes Licht. Dieses Licht ritzt alle Fehler, die man an sich fürchtet, als scharfe Linien ins Bewusstsein ein, so als gäbe es sie wirklich, und macht sie unauslöschlich. Es entsteht eine Art ästhetisches Schmerzgedächtnis, das von nun an Verletzungen wahrnimmt, wo keine sind. Den Mängelkatalog der Schönheit, der den Frauen von der Gesellschaft vorgehalten wird, zitieren sie von nun an manisch. Ich jedenfalls habe kaum je eine Frau getroffen, die nicht über die Fehler in ihrem Aussehen klagte. Eine Gewissenserforschung, ob sie nun in der Religion oder in der Schönheitsreligion stattfindet, entdeckt immer nur den Sünder, nie den Engel.

In Wien also hatte ich den Maßstab gefunden, an dem ich mich zu messen hatte; er war nun nicht mehr nur ein Bild auf Papier, er stand mitten im Raum. Auf keinen Fall ist man wie die andere, also ist man, so die pessimistische Logik der Selbsterkenntnis, da jene makellos, nichts als missraten. Immer und immer wieder geht man nun sein ästhetisches Sündenregister durch und findet keine einzige Verfehlung, die die Natur an einem Körper begehen kann, von der man loszusprechen wäre.

Bis das »Ideal« wirklich zur Konkurrentin wird, ist es ein weiter Weg. Er führt vom Bild zum Vorbild, vom reinen Anschauen, fast möchte ich sagen: Angaffen, zum Nachmachen und schließlich zur Konkurrenz und Abgrenzung. Es ist der Weg vom Schwarm zur Rivalin. Das Wissen von der eigenen Weiblichkeit, die Erfahrung dessen, was man in der Gesellschaft zu sein hat, die Einsicht in das, was die fünf Brüder einst meinten, wenn sie sagten: »Des ist mei’ Schwesterle« und mich »Mädle« riefen, erfuhr ich freilich zunächst nicht ästhetisch, sondern haptisch und symbiotisch durch die Mutter. Eine Mutter wird nie Bild und kann nie Vorbild werden für ihr Kind. Sie ist zu wenig Anschauung und zu viel Dasein, zu wenig Kleid und zu viel Körper. In ihm haust das Kind, auch wenn es neben ihm sitzt. Die blauen Augen sind nicht schön, in ihnen sonnt es sich, auch wenn sie einmal an ihm vorbeisehen.

 

Erst, wenn man nach außen und über die Familie hinausdenkt, begreift man sich als Mädchen. Als Familienmitglied ist man da und handelt. In der Welt draußen entdeckt man Wesen, die fremd sind, an ihnen erkennt man Gestalt und Kontur, die der anderen und die seiner selbst. In der Familie ist alles Charakter, in der Welt – zunächst – alles Gestalt.

Erst die fremde weibliche Gestalt liefert eine Anschauung zum Begriff Frau, der die gesellschaftliche Rolle erfasst: Die Frau ist keine Mutter mehr, ist nicht Fleisch, sondern Kleid, Haar, Gang, Stil, persönliche Note. Von der Mutter wird man gekleidet, die fremde Frau regt dazu an, sich selbst zu kleiden. Das Sehen der andern ist der Eintritt des Mädchens ins gesellschaftliche Dasein. Von nun an ist es nicht mehr Kind, von nun an spielt es eine Rolle.

Den ersten Schritt auf diesem Weg tat ich, als ich in der »Ebertsklinge«, einer Schlucht in der Nähe unserer Würzburger Wohnung, den Berg zum Main hinunterlief – Sportlerin, die ich war, begann ich mein Training in dieser Klinge mit einer Art Jogging avant la lettre – und wusste, dass hier ein Mädchen wohnte, so alt wie ich, mit schönem schwarzem Haar. Schön, schwarz, nichts sonst, so sagte jeder Laufschritt, und dann verdämmerte, schon während des Laufens, dies Bild. – Oder vielleicht doch nicht? Habe ich nicht später meine Haare schwarz gefärbt? Trotzdem war dies Mädchen kein Vorbild, es war ein Märchen, eine Imagination wie alle erzählten Figuren, die auftauchen und schon wieder verschwunden sind.

Kaiserin Elisabeth, keinesfalls aber Sissi, sie war es, die mir eindrucksvoll und unvergesslich als erste gezeigt hat, was eine Frau sei, eine Frau in der Welt, eine Frau von Welt. Nie hätte ich als die Schwimmerin mit dem kurzgeschnittenen Rattenkopf, der an den eines Sträflings erinnerte, mich mit dieser Majestät verglichen, in deren Haarpracht die Sterne funkelten. Aber sie blieb Bild, lebte höchstens im Buch, das ihr Leben beschrieb.

Ein Bild ist noch lange kein Vorbild. Ein Bild veranschaulicht eine Ahnung, bestenfalls einen Begriff – und hier begriff ich, meine Erfahrung in der Familie mit der neuen Anschauung kombinierend, was eine Frau zu sein hat: wenn Mutter, dann tragische Mutter, wenn Ehefrau, dann wider Willen, wenn Kaiserin, dann auf der Flucht. Unbeugsam auf jeden Fall. Die Schönheit als Widerstand gegen die Konvention. Und doch – wurde das Bild nicht gerade deshalb zum Vorbild? Denn der Minirock, in dem ich während und nach der Zeit der Studentenbewegung durch Frankfurt schritt und den ich auch beim Unterrichten im Gymnasium trug, war provokativ wie der stoffreiche Rock der Kaiserin, er war unerwartet kurz, wie ihr Kleid unerwartet lang und voluminös, er war hauteng wie der ihre weit und schwungvoll. Der preußische Gesandte, Graf Münster, der den Comment beherrschte und wissen musste, wie man mit einer Dame umgeht, beklagte sich über die Unhandlichkeit dieser Garderobe. Elisabeth sei, so schrieb er in einem Brief, in ihrem extravaganten Aufzug »sehr schwer zur Tafel zu führen gewesen«. Die kaiserlichste der Kaiserinnen wollte Kaiserin eben nicht sein: So war also doch das Bild zum Vorbild geworden? Die Demonstration, Frau zu sein, ohne Frau sein zu wollen, Kaiserin zu sein und die höfischen Rituale zu missachten, diesen Aufstand mag ich ihr abgeschaut haben.

Warum eigentlich brauchen Mädchen Bilder von Fürstinnen und Prinzessinnen, warum regen diese unwirklichen, ihrem Leben so fernstehenden Modelle, ihre Phantasie an, warum müssen sie diesen Umweg in die Höhe gehen, um zur Selbstgestaltung auf dem eigenen Niveau zu gelangen? Auch meine Freundin Helga, aus deren hochgebildetem Haus ich alle Anregungen für mein späteres kulturelles Leben bezog, suchte nach einem Königskind, das sie verehren konnte. Sie wählte sich die junge Queen und sammelte von ihr stapelweise Fotos. Die englische Königin galt ihr als eine »bildschöne Frau«, worin ich ihr allerdings nicht zustimmen konnte.

Diese Mädchenträume nehmen sich heute traurig aus, und sie wurden auch damals schon freundlich belächelt. Welche Kinderei, hinter Prinzessinnen und Königinnen herzudenken! Jedoch: wer sich in die Gesellschaft hinein entwickeln soll, wird sich immer, ob Mädchen oder Knabe, zuerst einmal hineinimaginieren. Ob Ritter oder Fürstin, ob Eroberer oder Verführerin, ob Gelehrter oder schöne Frau – der Heranwachsende begreift an diesen Bildern nichts als die gesellschaftliche Geltung, nichts als die Haltung. Es geht ihm nicht um Nachahmung oder gar Kopie, es geht um die Rolle an sich und für ihn. Den Inhalt der Rolle wird man sich charakter- und wunschgemäß selbst hinzuerfinden. Zunächst aber braucht es den Appell, das Stichwort für den Auftritt, und das ist immer, für junge Männer wie Frauen, ein Name. Dem ehrgeizigen jungen Mann eröffnet dies Stichwort, wenn es Hegel lautet oder Nietzsche, eine ganze Bibliothek, wenn es sich Einstein nennt, ein Forschungsinstitut, und einen Berufsweg, wenn er an Bismarck oder Adenauer denkt. Die Stichwortgeber für die Frauen waren, ob Fürstin oder Filmschauspielerin, in den fünfziger Jahren ohne Inhalt, sie waren Erscheinung, nichts sonst. Also habe ich mich der Erscheinung dargebracht, wie sich Jünglinge Hegel und Bismarck hingaben.

Ich habe auch ein Gesicht gesucht und fand es, seltsamerweise, in Maria Schell. Dutzende Male habe ich diesen Filmstar porträtiert, ganze Zeichenblöcke mit den knochigen Wangen, der Hochfrisur gefüllt – es irgendwann aber aufgegeben, weil der kantige und lange Kopf mir so gar nicht gestanden hätte und weil die Schauspielerin auch keine markante Haltung zeigte. Den letzten Vorschlag für eine Gestalt, ehe ich keine Vorschläge mehr brauchte, machte mir Sophia Loren. Ich habe diesen Entwurf lange akzeptiert, ja ich schätze ihn heute noch. Dies Bildnis hatte nicht mehr den lebensfernen Adel einer Kaiserin, wohl aber den aristokratischen Hochmut des Stars und die stolze Dreistigkeit der selbstbewussten Frau. Diese Tugenden darzustellen, brauchte es keine Staatsrobe, die Provokation ließ sich ebenso gut mit der zeitgemäßen Mode bewerkstelligen.

Von der Robe zur Mode – dies war der Weg, den ich genommen hatte, indem ich vom Bild zum Vorbild, vom reinen Anschauen zum Nachahmen überging. Eine Robe hätte es nie erlaubt, sich selbst eine Gestalt zu geben. Die Mode aber machte Angebote, die jeder ausprobieren durfte. Sie führte mitten ins Leben hinein, ins Modegeschäft nämlich, und zu dem, was die Gesellschaft als Stil, als Charakter anbot und schätzte. In den Geschäften begegnete man endlich auch den anderen, den wirklichen Frauen, den gleichaltrigen, gleichgesinnten, und erfuhr an und mit ihnen, dass dem Schein ein Sein entsprach.

An diesem Punkt musste in jener Epoche der beginnenden Jugendrevolte die Entscheidung über das Aussehen fallen. Es gab nur die Alternativen, die in Modegeschäften entschieden wurden: Unterwerfung unter das dortige Angebot – und das hieß politisch: unter den Konsum, den Kapitalismus – oder Überbietung desselben durch kombinatorischen Einfallsreichtum und schöpferischen Übermut. Eine Variation dieser letztgenannten Haltung war von ebensolcher politischer Relevanz: die Verachtung der Mode überhaupt. Die Feministinnen wählten diese Version, die Frauen des frühen SDS in Erlangen hingegen das Spiel mit der Mode, damit sie die rebellischen Männer, die sie als ihre Leitbilder mehr denn je bewunderten, nicht nur durch Diskussionsbeiträge, sondern auch durch ihr Aussehen beeindrucken konnten.

Die Städte, in denen ich einkaufte, Würzburg, Nürnberg, Frankfurt, Stuttgart, stehen mir, nur mir alleine freilich, für je einen Stil, der meinem Ideal, dem Gebot der Mode und dem Stand meines politischen Bewusstseins entsprach. Das Idol der großen Stoffmassen, der weiten Röcke und langen Haare, das mir Winterhalters Gemälde der österreichischen Kaiserin eingeprägt hatte, verwirklichte sich in Würzburg, wo meine bewusste Modekarriere begann. Ich wählte die Übertreibung, aber gerade in der Umkehr, indem ich in extrem schlanken Kleidern erschien, in einem Etui aus anschmiegsamem Jersey mit Tigermuster etwa und, damals eine Novität, mit Kapuze. Das war modisch auffällig, aber immerhin noch bürgerlich. In Nürnberg begann der Abschied vom einteiligen Kleid, auch die Frauenmode wurde zweigeteilt, zudem wurden die Röcke kurz und kürzer, zum Mini kamen die Hotpants. Als ich von Marburg zum Einkauf nach Frankfurt fuhr, war die Epoche der Plateausohlen angebrochen, und Lackleder wurde das erste leuchtende, bildschirmgrelle Material, das die Mode verwandte. Ich erstand also einen Lackmantel, ein weißes Lackkostüm. In Stuttgart beruhigte sich die modische Aufregung wieder, und übrig blieb die maskulinisierte Figur im Kostüm, sehr eng, oder im Herrenanzug.

Männer in ihren Pflichtkostümen – Uniform, Anzug, Sportswear, Freizeitkleidung – tun so, als stünden Sein und Schein im Widerspruch. Je mehr Sein, je entschiedener der Charakter, je höher der Verstand, desto weniger, so sagen sie, sei der Schein wichtig. Frauen, die sich für Kleider interessieren, nennen sie oberflächlich, heiraten wollen sie nur die schöne Seele. Diese Verachtung der Äußerlichkeit der Frau, ein versteckter Orientalismus, ist bis heute nicht ganz verschwunden und verschafft den Frauen noch immer ein Schuldgefühl ihrer modischen Vergnügungen wegen. Auch die europäische Frau soll keine Blicke auf sich lenken außer nachts, und da gehört sie dem Mann.

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